Heimat

Gestern habe ich Neukölln Unlimited gesehen. Der Dokumentarfilm zeigt ein Jahr in Leben der drei Jugendlichen Lial, Hassan und Maradona, die in Neukölln aufgewachsen sind. Sie und ihre Familie stammen aus dem Libanon. Zum Zeitpunkt des Filmes sind sie bereits seit 16 Jahren in Deutschland. Deutschland ist ihre Heimat und trotzdem werden sie nur geduldet bzw. zwei der Geschwister haben eine auf die Dauer der Schule bzw. Ausbildung befristete Aufenthaltsgenehmigung. Der Film begleitet die drei und ihre Familie durch den Alltag in Neukölln zwischen Breakdance und Behörden und der Angst vor Abschiebung.

Mich hat der Film sehr bewegt. Wahrscheinlich habe ich zu dieser Thematik einen anderen Bezug weil (zumindest ein Teil) meiner Familie nicht aus Deutschland stammt. Unvorstellbar ist jedoch der Gedanke mit der Gewissheit leben zu müssen, dass jeden Tag die Polizei an der Tür klingeln kann und man einfach in das Land der Eltern abgeschoben werden könnte. 2004 passiert der Familie genau das.

Ich stelle es mir unfassbar grausam vor in ein Land abgeschoben zu werden, das einem fremd ist, das nicht die Heimat ist, dessen Sprache man womöglich nicht kann, alle Freunde – das ganze Leben zurück lassen zu müssen.

Von Herzen wünsche ich den Geschwistern, dass sie bald ihre Kartoffelparty feiern und für immer in Deutschland bleiben können.

***

Letztes Jahr wollte ich eigentlich eine Reihe von Interviews veröffentlichen. Allerdings scheiterte das Projekt aus verschiedenen Gründen obwohl ich bereits einige Gespräche geführt hatte. Eines meiner bewegendsten habe ich mit Handan Ceylan geführt. So wie der Film ist mir das Gespräch sehr lange nachgegangen und ich veröffentliche es jetzt hier im Blog, weil ich nicht möchte, dass es auf meiner Festplatte versauert.

Obwohl Handan und ich im Raum Forchheim groß geworden sind, kannten wir uns vor dem Interview nicht. Die Bezüge zu dieser Stadt gibt es, weil die Interviews ursprünglich in einer regionalen Zeitung veröffentlicht werden sollten. Sehr wahrscheinlich kann man Forchheim aber durch jede x-beliebige (Klein)Stadt in Deutschland ersetzen.

Bir lisan, bir insan. Iki lisan, iki Insan

Eine Sprache, ein Mensch. Zwei Sprachen, zwei Menschen

HandanWir treffen uns an einem sonnigen Nachmittag im Herbst an der U-Bahnstation Schlesisches Tor in Kreuzberg. Während ich auf Handan Ceylan (34) warte, verstehe ich wieder was Multikulti bedeutet. Ich höre englisch, französisch, türkisch und italienisch sprechende Passanten, die darüber diskutieren, wo sie den Tag verbringen, der fast ein Tag im Spätsommer sein könnte, so warm ist es. Handan kommt mit dem Fahrrad. Wir wollen gemeinsam ins Café Gipfeltreffen direkt am Görlitzer Park gehen. Auf dem Weg frage ich sie, ob sie mit dem Comedian Bülent Ceylan verwandt ist. Seine Werbeplakate pflastern die Wände unseres Weges. Sie verneint. Die Namensgleichheit sei zufällig, was ungewöhnlich sei, denn der Nachname sei nicht besonders weit verbreitet in der Türkei – also kein Pendant zu dem deutschen Müller oder Meier.

Weil draußen nichts mehr frei ist, suchen wir uns im Café einen Platz. Es ist Handans Lieblingscafé. Ich kann das gut nachvollziehen. Es ist gemütlich eingerichtet. Alles etwas zerschrammelt, aber jedes Möbelstück scheint eine eigene Geschichte zu haben. Wir bestellen uns Milchkaffee und Törtchen aus der fünfstöckigen Kuchenvitrine.
Handan hat sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsangehörigkeit. Sie spricht Deutsch und Türkisch fließend. Allerdings ist Türkisch ihre Muttersprache. Für sie bietet das Türkische viel mehr Möglichkeiten sich differenzierter auszudrücken. Türkisch erscheint ihr blumiger als das sachliche Deutsch. Geboren und aufgewachsen ist sie in Forchheim. Sie ist das Nesthäkchen der Familie, das jüngste von sechs Kindern. Die ersten fünf Jahre hat sie eine türkische Grundschule besucht. Das war damals so – es stand nie zur Debatte, ob türkische Kinder gemeinsam mit deutschen Kinder eine Klasse besuchen. Was sie erzählt, lässt mich an die 50er Jahre denken. Das wäre aber die Elterngeneration. Handan ist 1977 geboren. Obwohl sie hervorragende Noten hat, bekommt sie keine Empfehlung für das Gymnasium, wo sie aber unbedingt hin wollte. Man schickt sie auf die Hauptschule. Mit „man“ sind nicht ihre Eltern gemeint. Die haben ihre Wünsche und Ziele stets mitgetragen. Mit „man“ sind die Lehrer gemeint.
Sie macht schließlich ihren qualifizierenden Hauptschulabschluss und besteht weiterhin darauf aufs Gymnasium zu dürfen. Da ihr das verweigert wird, beschließt Handan in die Türkei zu gehen, damit sie dort ein deutsches Gymnasium besuchen kann. Ihre Eltern unterstützen ihre mutigen Pläne.
Sie ist 14 als sie ein Jahr lang auswandert. Übergangsweise darf sie bei Verwandten wohnen, den Rest des Schuljahres lebt sie in einem Schülerwohnheim.
Aufgrund ihres Ehrgeizes und ihres Notenspiegels erhält sie endlich die langersehnte Gymnasialempfehlung und kommt zur Oberstufe auf das Herder-Gymnasium. Da sie dort zusätzlich eine weitere Fremdsprache belegen müsste, empfiehlt der Direktor sie für das Ehrenbürg-Gymnasium. Das EGF bietet in Kooperation mit dem Hans-Sachs-Gymnasium in Nürnberg Türkisch als zweite Fremdsprache an.
Besonders herzlich nimmt der Direktor des Ehrenbürg-Gymnasiums sie nicht auf. Er macht ihr wenig Mut. Mit ihrem Lebenslauf würde sie das Abitur ziemlich sicher nicht schaffen – so seine Zukunftsprognose.
Seine Prognose war falsch. 1997 macht Handan ihr Abitur.
Im Anschluss studiert sie Jura in Bayreuth und Bonn. Sie sammelt Berufserfahrung unter anderem als Referendarin am Auswärtigen Amt, in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen im Büro des Parteivorsitzenden Cem Özdemir, als Praktikantin im Türkischen Parlament und bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit im Jemen.

Wir sprechen über den 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Wir sprechen darüber, dass Türken in Deutschland auch nach fünfzig Jahren noch kein allgemein akzeptierter Bestandteil der Gesellschaft sind, obwohl sie mit je nach Statistik beinahe zwei Millionen Menschen einen nicht unwesentlichen Bestandteil der deutschen Bevölkerung darstellen. In diese Zahlen rein gerechnet sind nicht mal die Türken in zweiter Generation, weil diese neben der türkischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und somit eigentlich ganz normale Deutsche sind. Handan sagt mir, dass sich viele unabhängig von Geburtsland und Staatsangehörigkeit einfach als Deutsch-Türken oder als Deutsche fühlen. Deswegen würde die Bezeichnung „der Türke“ der Lebensrealität dieser Menschen ohnehin nicht gerecht.
Wir reden darüber wie das nach all den Jahren sein kann und sie sagt mir, dass sie sich deswegen in Berlin so wohl fühlt. Hier ist die Durchmischung an manchen Orten so groß, dass man leicht ausblenden kann, dass das leider nicht repräsentativ für ganz Deutschland ist.
Beruflich setzt sie sich aber genau dafür ein: Für Gleichstellung und Gleichbehandlung.
Sie erzählt mir vom Ausländerrecht in Deutschland, welches unter anderem die Niederlassung und Erwerbstätigkeit für Menschen regelt, die nicht die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates besitzen. Das deutsche Ausländerrecht ist absurderweise Teil des Polizei- und Ordnungsrechts, welches die Gefahrenabwehr regelt und Ausländer so per se technisch gesehen als eine „Gefahr“ definiert.
Was nach Behördendeutsch klingt, bedeutet v.a. eines: Wenn Ausländer straffällig werden, werden sie nicht wie Deutsche behandelt. Neben der „üblichen“ Strafe, droht ihnen die Abschiebung und zwar unabhängig davon wie lange sie bereits in Deutschland sind, ob sie Kinder in Deutschland haben oder ob sie die vermeintliche Muttersprache sprechen und noch Menschen im Geburtsland haben, die sie kennen oder nicht.
Die Aufhängung des Ausländerrechts legt somit eine bedauerliche Grundlage zur Ausländerdiskriminierung. Denn Straftaten werden nicht nach Art und Schwere der Straftat sondern nach Herkunft des Straffälliggewordenen bemessen. Mit Vorurteilen haben Deutsche mit türkischen Wurzeln im Alltag oft zu kämpfen. „Junge Männer türkischer Abstammung haben es, was Vorurteile angeht, dabei noch schwerer als die Frauen“, sagt sie, „sie werden leichtfertig als aggressiv und kriminell abgestempelt. Die Frauen gelten wenigstens noch als Exoten…“

Handan ist eine sehr offene und zielstrebige Frau. Sie hat nie Menschen über ihren Lebenslauf bestimmen lassen. Wenn sie etwas erreichen will, nimmt sie die Initiative selbst in die Hand. In Berlin lebt sie seit 2006. Sie kann sich nicht vorstellen zurück nach Franken zu gehen. Wenigstens in Berlin gibt es Orte, wo es so ist, wie es überall in Deutschland sein sollte. Bunt, durchmischt, kulturell vielseitig, offen und tolerant. Für Handan ist Berlin die (leider) undeutscheste Stadt in Deutschland. Handan schaut mich nachdenklich an. Obwohl sie Berlin wirklich liebt, bleibt Forchheim ihre Heimat. „Am Ende,“ so sagt sie „bin ich doch eine Fränkin“.

10 Gedanken zu „Heimat“

  1. agatha sagt:

    Hallo,

    ich bezweifel, dass „Türken in zweiter Generation, […] neben der türkischen [automatisch] auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen“. Die doppelte Staatsbürgerschaft (bei über-23-Jährigen) ist meines Wissens die Ausnahme. (Und rechtlich nur zulässig bei EU-Bürgern oder wenn z.B. eines der beiden Elternteile die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.)

    Leider werden EU-Ausländer der zweiten Generation immer noch genötigt sich für eine Saatsangehärigkeit zu entscheiden.

    Danke für diesen Post! Das Zitat mit den zwei Sprachen/zwei Menschen macht mich gerade echt feddich!

  2. Aurora sagt:

    Ich habe in eine türkische Familie eingeheiratet in der beide Söhne lernbehindert sein sollten. Einer davon ist inzwischen selbstständig und damit sehr erfolgreich, der andere Anwalt.
    Am Wochenende hatten wir auch noch Besuch von Freunden, einer der …ähäm..Damen ist so um die 60 und Lehrerin. Von ihr durfte ich dann erfahren „dass die Unterschicht doch zu 90 % lernbehindert ist“. Ah ja.
    Das ist – leider – noch ein langer Weg und dann darf man sich bitte auch nicht wundern, dass viele Türken der 3. Generation wieder in die Türkei umziehen um dort ihre gute Ausbildung unter die Leute zu bringen.

  3. wool sagt:

    Nicht ganz so politisch korrekt:
    http://www.soellner-hans.de/staat/62-zum-schluss-aber-immer-wieder-sagt-hans-soellner-/178-hans-soellner-statement-zu-dem-urteil

    Das Problem ist, dass man sich bei sowas die Nerven schnell ruiniert, bevor sich irgendwas ändert…

  4. Pingback: Anderswo
  5. Frau Ex-Mueller sagt:

    Mein kleines Pendant dazu. Ich bin ebenfalls (Unter-)Fränkin. Mein Gymnasium hatte 1998 ca. 340 Schüler, 37 Abiturienten. Es gab nur 2 türkische Schülerinnen (Schwestern), das war zwar statistisch gesehen eine Besonderheit, aber für die beiden Jahrgänge 97/98 waren es einfach ihre Mitschülerinnen. Sie hatten normal viele Freunde, waren beliebt und schrieben durchschnittliche bis gute Noten. Ich habe nie erlebt, dass sie blöd behandelt wurden. Wir schmunzelten immer mal wieder, wenn neue Lehrer die Nachnamen nicht richtig lesen/schreiben konnten.
    Natürlich ist das nur mein persönlicher Eindruck. Fairerweise müsste man sie schon selber fragen, wie sie ihre Jugend in einer katholischen 6.000 Einwohner Kleinststadt erlebt haben, in der man türkischstämmige Familien an einer (max. zwei) Händen abzählen kann.
    Beide sind zum Studieren in große Städte gezogen, von da an hab ich leider den Kontakt verloren.

  6. Manche deutsche Leute, besonders die in Ämtern und mit Verantwortung, würde ich gern mit einem Wort anreden, das mit „A“ anfängt und mit „loch“ aufhört, aber ich habe ja gute Kinderstube – doch meinen Augen sieht man meine Gedanken sehr oft an.

  7. sehr schön. Kann mich den Vorschreibern nur anschließen.

  8. nickel sagt:

    Vielen Dank für diesen sehr schönen Artikel!
    Der ist so toll, dass ich ihn direkt weiterleite, weil ich genug Menschen kenne, die sich damit ebenfalls, ob gewollt oder ungewollt, beschäftigen und dieser Beitrag einfach super geschrieben ist.

  9. creezy sagt:

    Danke. Ich muss bei dem Schulschicksal von Handan an meine vielen türkischen Mitschülerin in den 70iger denken, die teilweise wirklich sehr sehr gut in der Schule waren. Ich weiß natürlich nicht mehr, ob sie Gymansialempfehlungen bekamen. Aber tendenziell schwebte über ihnen gefühlt immer das Schwert des „die heiraten doch eh früh und bekommen Kinder.”

    Das war übrigens in Berlin.

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