Italienisch Essen gehen in Polen

Dieses Jahr fahren wir nicht ans Meer. Dieses Jahr fahren wir Richtung Osten. So weit in den Osten, dass der östlichste Punkt Deutschlands ganz in unserer Nähe ist.

Kind 3.0 ist seit Wochen aufgeregt. Sein bester Freund hat polnische Wurzeln und so will es unbedingt „auf“ Polen gehen. Mit dem Boot fahren wir die Neiße entlang und jeder Grenzpfahl muss fotografiert werden.

Weil wir nicht so recht wissen, wie wir das Boot festmachen sollen, können wir auf der polnischen Seite nicht halten und Kind 3.0 muss noch einige Tage warten bis wir abends in Görlitz sind.

Über eine Brücke laufen wir nach Zgorzelec und Kind 3.0 wird ganz beschwingt: „Ich weiß nicht warum, aber ich fühle mich ganz, ganz glücklich auf Polen zu sein. Ich muss das Bartosz unbedingt sagen.“

Während Kind 3.0 so glücklich ist, bin ich auch glücklich. Es ist ein lauer Sommerabend, die Neiße schlängelt sich durch die Altstadt, die Straßenlaternen sind mit Petunien geschmückt, die prächtig blühen, wir gehen in ein italienisches Restaurant gleich hinter der Grenze und ich freue mich, dass es Europa gibt.

Die Kinder waren noch nie außerhalb der Eurozone. Dass hier auf der Karte Preise in einer anderen Währung stehen, können sie nur schwer verstehen.

Wir haben eine Reihe alter Münzen zuhause. Die Kinder benutzen sie für ihren Kaufladen. Peseten, Lire, Franc… Bislang war ihnen gar nicht klar, aus welcher Zeit diese Münzen stammen und warum es sie nicht mehr gibt.

Es gibt viel zu erklären. Warum ist es gleich hinter der Grenze so viel billiger als nur wenige Meter in die andere Richtung? Ist das, was uns hier auf der Speisekarte günstig erscheint, wirklich günstig? Können hier auch polnische Familien essen gehen?

Warum gibt es Grenzen? Wieso wird an manchen kontrolliert und an anderen nicht?

Wie kommt es, dass in den Grenzregionen so viele Polen perfekt deutsch sprechen, die allermeisten Deutschen aber kaum polnisch?

Wir warten lange auf unser Essen, doch unsere Geduld wird belohnt. So gut italienisch wie in Zgorzelec habe ich lange schon nicht mehr gegessen. Ich komme mir vor wie die kleine Raupe Nimmersatt: Am Montag essen wir Vitello tonnato, am Dienstag Bruscetta, am Mittwoch Antipasti, am Donnerstag Pizza, am Freitag Saltimbocca alla romana, am Samstag Spaghetti aglio olio und am Sonntag Profiteroles und Tartufo.

Nur dass sich keiner in einen Schmetterling verwandelt. Wir werden einfach nur runder.

Die Kinder sind begeistert. Die beste Pizza ihres Lebens. Polen ist toll!

Wir sitzen draußen auf der Veranda und mit der Dämmerung kommen die Mücken und ein bisschen später ein paar große, schwarze Spinnen. Guten Appetit auch sie bekommen jetzt Abendbrot.

Auf der Rückfahrt fahren wir durch Dörfer, die zum größten Teil mit NPD Plakaten gepflastert sind.  Ganz selten sieht man mal ein Plakat der SPD.

Ich frage mich, haben die anderen Parteien diese Landstriche schon aufgegeben oder warum hängen sie nicht auch ihre Wahlwerbung auf?

Die Kinder fragen: Was ist die NPD und was will sie?

Ich erkläre so gut ich kann. Und die SPD, was will die? Und Frau Merkel? Das ist doch die von der SPD? Nein, das ist die von der CDU. Und was will die CDU. Ich kann die Unterschiede nicht gut rausarbeiten.

Wie findest Du Frau Merkel? Willst Du, dass sie wieder Bundeskanzlerin wird.

„Männer können auch Bundeskanzlerin sein!“, weiß Kind 3.0. Gibt es überhaupt andere Kandidaten? Martin Schulz? Nie gehört.

Die Grünen? Gibt es die hier? In Berlin gibt es die doch, oder? Und die Linke? Wenn es eine Linke gibt, wieso gibt es dann keine Rechte? Was ist links, was ist rechts?

Was ist die Partei? Gibt es die hier auch?

Wir fahren durch ein Land ohne Internetverbindung. Alles, was ich erzähle, muss ich aus meinem Kopf erzählen. Nichts kann ich googeln. Wie anstrengend das ist. Wie wenig ich weiß.

Wieso gibt es noch ganze Landstriche ohne Internet?

Ich bin erschöpft. Ich weiß nur eines: ich wünsche meinen Kindern, dass sie auch in ihrer Zukunft einfach so über Grenzen laufen können und dass es Europa dann noch gibt. Als Länderverbund, als Währungsunion, als Nationalität.

147 Gedanken zu „Italienisch Essen gehen in Polen“

  1. Pingback: Flocke
  2. Ich bin ja grosser Görlitz Fan. Das nächste Mal dann Biber essen im dreibeinigen Hund.

  3. mazdermind sagt:

    Danke für diesen tollen Blogartikel <3

  4. AnJo sagt:

    Ein <3 für Europa.
    Danke.

  5. The Rese sagt:

    Warm ums Herz, das ist genau das Gefühl, das ich nicht in Worte fassen konnte beim lesen. So viel kluge Fragen!

    https://m.youtube.com/watch?v=txanYnZgsWI

  6. Mia sagt:

    Man kann in Polen auch ganz hervorragend polnisch essen gehen. ;)

  7. Katja sagt:

    Es ist wirklich schwierig, Kindern Dinge zu erklären, die man selbstverständlich findet. Und man stößt schnell an seine Erklär-Grenzen.

  8. Die Sache mit den Grenzen haben wir im Sommer den Kindern auch erklären müssen.

  9. Richtig schöner Beitrag.

    1. Allerdings. Vor allem: Nationalität Europa. Macht mir altem Nationalismusgegner seltsamerweise warm ans Herz.

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