Einmal im Jahrzehnt ausgehen

Erstaunlicherweise kann man tatsächlich Spaß haben, wenn man abends ausgeht. Erfrischende Erfahrungen beim Balkan Beats hopsen. Hey, Hey, hey!

Betrachte ich mein Umfeld, scheint das Ausgehen und insbesondere das Tanzengehen, eine allgemein anerkannte und praktizierte Kulturtechnik zu sein. Deswegen verspüre ich alle zehn Jahre den Druck mitzumachen. Ich habe dabei nicht vergessen, dass alle vorangehenden Versuche kläglich gescheitert sind. Es ist nicht so, dass ich mich in der Vergangenheit nicht bemüht hätte, ich habe es mit dem Tanzen bereits kurz vor meinem 30. Geburtstag und auch in der Höhe meiner 20er versucht. Jetzt werde ich bald vierzig und da schien die Zeit wieder reif für eine neue Erfahrung und was soll ich sagen: versehentlich habe ich mich amüsiert.

In der Tanzthematik gibt es für mich zwei Hauptproblemfelder. Erstens: Ich stehe sehr gerne sehr früh auf. Am liebsten um fünf. Die Zeit zwischen fünf und sieben Uhr morgens ist für mich die Zeit größter Freiheit. Ich kann Kaffee trinken und meinen RSS-Reader leer lesen. Wenn ich schnell lese und die Körperhygiene auf das Mindestmaß beschränke, kann ich zusätzlich etwas schreiben bevor die Kinder wach werden. Diesen persönlichen Freiraum bezahle ich mit bleierner Müdigkeit ab 22 Uhr. Nach 24 Uhr wegzugehen scheitert folglich meistens daran, dass ich mich bereits in der ersten Tiefschlafphase befinde.

Ein weiteres Problem ist mein Musikgeschmack, der sogar regelmäßig die Algorithmen von Last.fm in die Resignation treibt. Wenn ich tanzen gehe, will sich nie ein Flow einstellen, weil mir mal ein Lied gefällt (Zustand 1=ich tanze) und mal wieder nicht (Zustand 0=ich erstarre zur übellaunigen Salzsäule).

Sich um 23 Uhr irgendwo zum Trinken zu treffen und dann um 1 Uhr tanzen zu gehen, ist somit eine Taktik, die mir ferner kaum sein könnte. Um 23 Uhr direkt in den Club zu gehen ist zwar denkbar uncool, hat aber viele Vorteile. Erstens muss man nur wenige Minuten anstehen um reinzukommen und zweitens bietet die Tanzfläche ausreichend Platz, um avandardistische Modern-Dance Positionen auszuprobieren:

Ich gebe zu, die Stimmung lässt zu solchen Uhrzeiten noch etwas zu wünschen übrig, aber Stimmung wird allgemein überschätzt. In einen Club zu gehen, ist im Grunde eine Aktivität, die einsamer und selbstbezogener kaum sein könnte. Das Kommunizieren findet in erster Linie ohnehin nicht verbal statt. Ich habe schon mal versucht in einem Club einem Interessierten meine Position zum Sozialkonstruktivismus zu erläutern, hatte aber das Gefühl, dass mein Gegenüber nach nur kurzer Zeit das aufrichtige Interesse verlor.

Jedenfalls, um auf den besagten Abend zurück zu kommen. Meine Freundinnen hatten die Idee zu Balkan Beats zu tanzen. Ich hatte keine Ahnung was das genau ist, hatte aber eine außerst positiv konnotierte Assoziation zu der rumänischen Kapelle Fanfare Ciocarlia und war daher bereit eine neue Erfahrung zu machen. Tatsächlich erwies sich der sogenannte Balkan Beat Mix als überaus tanzbar bzw. hüpfbar und als erstmal der ganze Saal hüpfte, passierte, wahrscheinlich gruppendynamisch verursacht, etwas seltsames: ich amüsierte mich und tanzte einfach zum eintönigen Grundrhythmus mit.

Rational betrachtet war alles furchtbar. Der DJ, der im Auflegkurs offensichtlich bei „Wie gestalte ich Übergänge“ krank gewesen ist, die bekloppten Leute, die mit Rotweingläsern in der Hand rumsprangen, dass ich so besudelt wurde, dass ich bald wie der letzte Clochard roch und eine Person im Publikum, die offensichtlich unter starken Blähungen litt.

Allerdings griff eine nie gekannte sorglose Fröhlichkeit um mich, die v.a. meiner Freundin zu Kopfe stieg, die wenige Minuten später eine Bühne erklimmte, um dort weiter zu tanzen. Ich wollte diesen Moment fotografisch festhalten, was von den Bühnentänzern fehlinterpretiert wurde. Man hievte mich freundlich hoch. Es blieb mir nichts anderes als mitzutanzen und das obwohl sich mein Kopf mit wirklich schwierigen Fragen auseinander setzte. Wir tanzten nämlich Sirtaki. Von Sirtaki wußte ich zumindest, dass es sich im engeren Sinne nicht um einen griechischen Volkstanz handelt, sondern dass Sirtaki für den Film Alexis Sobras erfunden wurde, um dem Hauptdarsteller Anthony Quinn, der anscheinend eher tanzunbegabt war, selbiges zu erleichtern. Jedenfalls beschäftigte mich darüber hinaus die Frage, welche Länder neben Griechenland überhaupt zum Balkan gehören. Mir war auch nicht ganz klar, inwiefern die  Triest-Odessa-Linie tatsächlich als geografische Begrenzung für den Balkan zu sehen ist oder nicht.

Meine Gedanken wurden jedoch von einem jungen Mann im Streifenshirt durcheinander gewirbelt, weil er sich gar nicht darum scherte, was mich aktuell bewegte. An diesem Abend fiel ich beschwingt in mein Bett. Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, normal zu sein.