Pragmatismus siegt

Beim ersten Kind ist alles noch so wahnsinnig neu und aufregend. Gerne ruft man da den Ehemann drei – vier Mal am Tag an, um vom Windelinhalt zu berichten oder ausführlich zu schildern wie lange und in welche Richtung der Nachwuchs gestarrt hat. Vermutlich würde die Spannungskurve beim zweiten Kind schon stark nachlassen, würden bestimmte höhere kognitive Funktionen zugunsten der Aufzucht des Nachwuchses nicht automatisch abgeschaltet.

Ohne Babytagebuch hat man aufgrund des vorangehenden Schlafmangels und anderer rein organisatorisch bedingter Fokusverschiebungen das meiste der ersten Lebensmonate vergessen und man schlägt gerne in schnell angeschafften Büchern zur Babyentwicklung nach, um den Mann auf dem Laufenden zu halten.

Auch beim dritten Kind verzückt das erste Lächeln, das erste Wort und das erste Gekrakel noch.

Allerdings hat man sich für alle anderen Dinge eine weit pragmatischere Sichtweise zugelegt. Hatte man das Erstgeborene nur unter Qualen in Omas Arme gelegt, muss man sich beinahe zusammenreißen Omi beim Besuch noch die Jacke ausziehen zu lassen bevor sie all ihre Aufmerksamkeit der neu produzierten Generation widmen kann.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Eingewöhnung in den Kindergarten. War es beim ersten Kind noch eine Aufgabe der Erzieherin Mami mal aus dem Zimmer zu schicken, so erntet sie (vorausgesetzt man hat eine lauschige Kinderbetreuungseinrichtung ausfindig machen können) beim dritten Kind erstaunte Blicke, wenn man es am zweiten Tag nicht mal ein Paar Stunden ohne das Kind wagt.

Das gilt für Erziehungsbemühungen jeder Art. Das erste Kind hört noch im Minutentakt: „Nein, nicht an die Musikanlage!“, „Nein, lass bitte die Kabel in Ruhe!“, „Nein, Du kannst nicht kochen helfen, das ist heiß“. Einige Kinder später sind die Ansprüche gesunken und man hat sich einiges schön geredet – schließlich wird Selbständigkeit zum obersten Erziehungsziel und man ist schon dankbar, wenn die CD-Sammlung wenige Kratzer, die Lieblingskleidung nur ein bißchen angemalt ist und die lieben Kleinen nicht ausgerechnet mit der teuren Hochomessersammlung spielen.

Wahrscheinlich gehen aus den Erstgeborenen deswegen überdurchschnittlich viel Doktoren und Beamte hervor, wohingegen die Letztgeborenen eher Musiker und Kreativlinge werden.