Wir differenzieren uns zu Tode

Neulich habe ich einen großartigen Text gelesen. Er war voller Wut, voller Energie und gespickt mit Verallgemeinerungen. Der Text hat sich gar keine Mühe gegeben, die andere Seite zu betrachten oder Gegenbeispiele zu finden. Er hat einfach Dampf abgelassen. Die Formulierungen waren rotzig und die Erklärungen einleuchtend einfach, gar monokausal!

Es war eine Wohltat ihn zu lesen. Nein – mehr – es war eine verdammte Wohltat ihn zu lesen.

Ich habe die glattgebügelten, ausgeglichenen und runden Artikel satt. Die ausgewogenen Worte und die dramaturgisch gut inszenierten Spannungsbogen mag ich nicht mehr lesen. In meiner Filterbubble ist alles voll davon und wenn es doch mal eine/r wagt eine klare, unbeschönigte Meinung preis zu geben, so sammeln sich darunter die mahnenden Kommentare: „Das musst du aber differenzieren! Da gibt es aber Ausnahmen! Du hast vergessen zu berücksichtigen dass…“

Und da denke ich mir: gar nichts muss ich! Gar nichts! Und ICH will auch nicht. Das ist nicht mein Job. Ich bin keine – ja ich weiß gar nicht an wen man diesen Anspruch haben soll – WissenschaftlerInnen? JournalistInnen? FernsehmoderatorInnen?

Ich möchte endlich wieder gepflegten Streit! Ich möchte Austausch! Ich möchte Bewegung! Steile Thesen! Wilde Spekulationen!

Dieses „das musst du aber differnziert sehen!!!1!“, das macht doch alle mundtot. Vor lauter Kontext, historischer Herleitungen, Einbettung in soziokulturelle Thesen und Berücksichtigung aller Sichtweisen, geht doch die Kraft verloren. Am Ende kommt doch nur ein unscharfes Wischiwaschi raus, was irgendwie für alle stimmt.

Ich mochte das schon an der Uni nicht. So viele Einzelfälle aufsummieren, bis am Ende irgendwas korreliert. Da geht doch alles verloren. Am Ende sind die Erkenntnisse so gähnend langweilig, dass man sich schulterzuckend umdreht und denkt: Nun, das hätte ich denen auch so sagen können… („Wenn man sich aufregt, steigt der Blutdruck!“)

Es ermüdet mich. Ich will das nicht lesen und nicht sehen. Ich will Provokation, eigene Ideen, ich will Leute, die ihre Meinung kund tun. Am besten drei davon, die unterschiedliche Meinungen haben und sich gegenseitig empört ins Wort fallen. Frauen und Männer, die sich in Diskussionen die (eigenen!) Haare raufen, empört aufspringen, vielleicht sogar ein bisschen zu laut sprechen oder vor Aufregung spucken.

Das wäre schön. Das wäre so schön. Man könnte sich aneinander reiben, neue Energie gewinnen, sogar einander Zuhören und am Ende vielleicht einen Schritt weiter kommen. Einen Schritt auf neues Terrain. Ins Unbekannte, die abgetretenen haben-wir-auch-wirklich-alle-Faktoren-berücksichtigt-Pfade verlassen. Ein wenig Mut haben, weg von den Verallgemeinerungen kommen, hinzu der eigenen Sichtweise, wohlwissend, dass es die allgemein gültigen Wahrheiten gar nicht gibt und uns dann versöhnlich die Hände reichen. Zuhören, empathisch sein und einander die Formfehler verzeihen.

Naja, oder auch mal einen Tisch zerhacken.

116 Gedanken zu „Wir differenzieren uns zu Tode“

  1. Pingback: just a thought
  2. Nachdem ich jetzt die Kommentare gelesen habe, glaube ich zu wissen, was du eigentlich meinst – Meinst du dass man dem Autor als Leser auch erstmal ein grundsätzliches Verständnis für den Lauf der Welt voraussetzt und nur weil er A schreibt, nicht automatisch B vergisst, sondern den Punkt nur auslässt, weil er grad dem Artikel nicht dienlich ist? So geht es mir oft, wenn ich bei Amerikanern kommentiere. Ich hatte einmal eine kleine Woge ausgelöst, als ich bei Downton Abbey kommentierte, dass mich ein antisemitischer Kommentar aufhorchen ließ, einfach weil er in der Serie so nonchalant von sich gegeben wurde und alle fröhlich einstimmten. Ich wurde dann gleich ebschimpft, wie PC ich bin und das man das nicht zensieren sollte. Halooo ich WEISS, dass das eine historische erie ist und habe NIEEE verlangt, dass man sowas einkürzen soll. Kann man mir btite auch etws Allgemeinbildung zutrauen? Meine gegenargumente wurden aber alle überlesen … stattdessen geilten sich alle fröhlcih an meinem ersten kommentar auf. narf…

  3. Ich habe kürzlich gelesen/gehört, wir brauchen endlich eine differenzierende Mittelschicht. Und der Meinung bin ich auch. Es gibt doch aktuell genau Extremmeinungen. Gerade von rechts. Klar, dafür brauchts ein Gegengewicht. Aber nur populistisch zurückbrüllen steigert nicht die Diskussionskultur. Sondern sorgt nur dafür, dass nirgendwo mehr diskutiert wird.

  4. Pingback: 3 KW 2016
  5. Pingback: Señor Rolando
  6. Hach ja.

    Mir geht es übrigens viel weniger um die Keule, sondern darum, dass ich mir wünsche, dass mal wirklich wieder ein Austausch stattfindet und damit neue Wege gefunden werden, wie man zusammen kommt. Andere KommentatorInnen schreiben das (und ich hätte es auch im Artikel schreiben sollen): Ausgangspunkt sind steile Thesen und dann wird darüber diskutiert und da geht es nicht um Fronten sondern ums zuhören und Austausch.
    Es ist auch nicht alles mit objektiven Fakten und Zahlen zu belegen. Manchmal geht es tatsächlich auch um Befindlichkeiten. Die sind aber da und die sollte man nicht einfach wegbügeln.

  7. „Neulich habe ich einen großartigen Text gelesen. Er war voller Wut, voller Energie und gespickt mit Verallgemeinerungen“

    Yeah. Endlich sagen dürfen, dass der afrikanische N**** unsere Frauen verg*******, ohne dass diese linksversifften Gutmenschen uns unsere Meinung vorschreiben!

    Meinst Du vielleicht nicht so, gell? So kommt Dein Text aber bei Lesenden an.

  8. Ich weiß nicht. Einerseits teile ich deinen Frust total, dass ich zurzeit manchmal das Gefühl habe, ich kann gar nichts mehr sagen, ohne irgendwo jemand auf die Füße zu treten bzw. dass es in machen Zirkeln eben nicht reicht, grundsätzlich der gleichen Meinung zu sein, sondern man muss schon alle Regeln und Statuten und Ausdifferenzierungen mittragen, die dieser Zirkel irgendwann bestimmt hat (ich muss immer wieder an Teresa Bückerts „Activist Burnout“-Vortrag denken https://www.youtube.com/watch?v=khX9Hd0s3iU) – aber ich weiß nicht, ob die Lösung wirklich sein kann, wieder stärker zu verallgemeinern und damit zwangsläufig Pauschalurteile zu fällen. Also: Ja für steile Thesen, aber nur als Diskussionsgrundlage, als Zeltpfeiler eines Koordinatensystems in dem man sich als Zuhörer_in/Leser_in dann verorten kann, wie du es wohl meinst. Und gerne Dinge immer mit Zahlen belegen o.ä. Ansonsten bin ich doch lieber für einmal mehr Differenzierung als für einmal zu viel Polarisierung. Sorry.

  9. Grundvoraussetzung für so ein Streitgespräch ist natürlich, dass man die Gegenseite prinzipiell akzeptiert. Weder „linksversiffte Gutmenschen“ noch „dumme rechte“/Nazi/Rassisten/…. sind tragfähige Ausgangspunkte für eine Diskussion.

  10. Hmmm… ich stimme Dir ja recht oft zu normalerweise, heute nicht so sehr.
    Es gibt soooo viel Polemik im Netz und außerhalb, von allen Seiten.
    Ich wünsche mir zu vielen Themen mal eine wirklich differenzierte Sicht, weil es die einfach nicht gibt.
    Auf der anderen Seite: Wo man sich meines Erachtens die differenzierte Sicht ruhig mal sparen kann ist die Semantik. Ich sehe unheimlich viel Diskussionen die das Thema verlassen und in die Semantik abdriften, das ärgert mich.

    Den von Dir verlinkten Artikel finde ich übrigens auch gut, wenn ich auch zugeben muss dass ich ein bisschen beleidigt über die fehlende Differenzierung bin. :D
    Am meisten ärgere ich mich vermutlich dass die Frauen mit solchen Losern schlafen denen sie in Punkto Sex egal sind anstatt mit mir (Das war jetzt die Polemikdosis für heute :D ).

    Ne im Ernst, ich finde solche Texte auch toll für das anstoßen der Diskussion. Sie müssen nicht differenziert sein. Aber die Diskussion danach, die muss differenziert werden.

  11. Naja, wenn dann wenigstens gesittet diskutiert und gestritten werden würde und am Ende vielleicht alle ihren Horizont erweitert haben, dann les ich auch gern solche Texte. Nur mussten viele Blogger*innen „in diesem Internet“ schon des öfteren einen Shitstorm ertragen, nur weil die (eigene) Meinung kund gegeben und nicht genügend reflektiert wurde (Kollegin Daily Pia erntete erst letztens ein Stürmchen, weil ihre Katze scheinbar minderjährig trächtig wurde – *hand vor’n Kopf klatsch*). Von daher kann ich das schon verstehen, wenn es immer mehr Artikel gibt, die man als klassisches Vorbild für eine Eröterung im Deutsch-Unterricht nutzen könnte ;o)

  12. Schön gesagt. Das ist fast wie eine Art Disclaimer für zukünftige Diskussionen bzw. eigene Blog Beiträge. Gerade im Verallgemeinern und dafür angefeindet werden habe ich Übung :-)

  13. Im Ernst: ich finde sooooooooooooooooo lustig, dass dieser Artikel grade von Dir kommt. Wo ich mich immer mit Meinung in „eurem“ (Berliner) Umfeld zurückzunehmen versuche und weniger mit den Augen über PC-Krams zu rollen.

    »PULL THAT FUCKING TRIGGER BITCH!!11«

    1. *gähn*

      Was ich übrigens auch so toll finde, es können auch gegensätzlich erscheinende Aussagen gleichzeitig wahr sein. Es geht mir nämlich nicht ums pc sein, liebe Kritikerinnen und Kritiker.

    1. Wenn du nur bis zur Hälfte gelesen hast, ja. Ansonsten:
      „Ein wenig Mut haben, weg von den Verallgemeinerungen kommen, hinzu der eigenen Sichtweise, wohlwissend, dass es die allgemein gültigen Wahrheiten gar nicht gibt und uns dann versöhnlich die Hände reichen. Zuhören, empathisch sein und einander die Formfehler verzeihen.“

      Da fehlt mir etwas das „laut“ und „aggressiv“.

  14. Das kannst du jetzt so aber nicht sagen. Ich meine, es gibt doch immer wieder Diskurse, in denen Provokation nicht weiter führt und Differenzieren ganz unabdingbar ist. Klar, hast du auch recht, aber ganz so, wie du es formulierst, würde ich das dann doch nicht ausdrücken wollen.

    (Danke.)

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