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Für Attila Ilkin:

Ich stand atemlos und glücklich im Zwischenabteil des Zuges nach Hamburg. Adrenalin durchströmte meinen Körper und ich fand es ziemlich belustigend, wie die Möglichkeit eines verpassten Zuges, der ohnehin stündlich fuhr, mich so in Panik versetzen konnte. Ich hatte bis 17 Uhr einen Termin gehabt, war zur U-Bahn gelaufen und kam genau 2 Minuten vor der Abfahrtzeit des Zuges an. Mit meinem albernen Rollköfferchen hatte ich mindestens 10 Leute halb umgefahren und schaute mich jetzt ängstlich um, ob ich einen der Betroffenen im Zug wiedersah.
Als ich mich halbwegs beruhigt hatte, begann ich mir einen Platz zu suchen. Der Zug war ziemlich voll und ich war froh im Raucherabteil noch eine Sitzgelegenheit zu bekommen.
Als ich saß, kramte ich begierig aus meiner Handtasche meine Gauloises. Mir gegenüber saß ein Typ, der die gesamte Fahrt über seine Freisprecheinrichtung mit seiner Freundin Judith telefonierte, die offensichtlich großen Stress damit hatte, aus den im Kaufrausch erstandenen Kleidungsstücken das richtige für den heutigen Abend auszusuchen. Judith hatte ein ausgesprochen lautes und grelles Organ, was mir erleichterte ungewollt das komplette Gespräch zu verfolgen. Dabei wollte ich über Details wie beispielsweise die ihrer Pediküre gar nichts wissen. Die Fahrt war eine einzige Qual und ich setzte die Kopfhörer auf und versuchte der lautstarken Telefondebatte zu entkommen, indem ich aus dem Fenster starrte. November ist der schlimmste Monat im Jahr. Die andauernde Dunkelheit und Nässe machen mich depressiv und ich versuchte an den Frühling zu denken.
In Hamburg holte mich eine langjährige jiddische Freundin ab, die sich vor Jahren entschlossen hatte, Künstlerin zu werden. Alle hatten ihr gesagt, dass dieses Unterfangen äußerster Unsinn sei, aber sie hatte sich davon nicht abbringen lassen. Sie hatte ihren Willen durchgesetzt, und heute war ihre erste Vernissage und da wollte ich auf keinen Fall fehlen. Die Ausstellung fand nicht in einer Galerie statt sondern in einem Industriepark, in einer großen, leerstehenden Produktionshalle. Die Gäste waren gebeten worden, möglichst elegant zu erscheinen. Meine Freundin verschwand gleich wieder als sie mich dort abgesetzt hatte und so gesellte ich mich zu den anderen Wartenden und wunderte mich, wo genau die Bilder seien. Ich sah nur die große Halle, in deren Mitte schätzungsweise zwanzig Stühle für die geladenen Gäste standen. Nirgends war ein Bild zu sehen. Gedankenverloren nahm ich Platz und grübelte woher eigentlich das Sprichwort „jemanden ein X für ein U vormachen“ herkommt.
Nach einiger Zeit wühlte ich in meiner chaotischen Handtasche nach meinem Handy, um nach der Uhrzeit zu sehen und ärgerte mich dabei, dass Frauenblazer aus unerfindlichen Gründen im Gegensatz zu Männerjackets keine Innentaschen hatten, in denen man Dinge aufbewahren könnte, die man ohnehin andauernd sucht. Ich stieß dabei auf die Einladungskarte und las gerade den Beginn „Liebe Nuf, wenn es der Zufall will und Du Zeit hast, freue ich mich auf Dein Erscheinen zu meiner ersten Ausstellung am Freitag, den 26. November 2004″ als mehrere Damen und Herren mit Instrumenten im Raum erschienen. Sie platzierten sich genau vor uns und begannen ein klassisches Stück zu spielen. Einige Minuten später erschien meine Freundin, gefolgt von zehn nackten Frauen. Die Damen waren alle schlank und sehr groß. Alle hatten sehr ernste Gesichter und ich hatte großen Respekt vor ihrem Mut – nicht nur weil sie nackt waren, sondern auch, weil es wirklich ausgesprochen kalt war.
Nach dieser kleinen Gruppe kamen mehrere Männer, die überdimensional große Leinwände trugen und diese im Raum vor uns ausbreiteten. Meine Freundin begann damit Farbeimer über den Damen zu entleeren, und eine nach der anderen sprang im Takt der Musik auf eine der Leinwände und wälzte sich.
Ich musste mir das Lachen unterdrücken, weil ich die ganze Szenerie doch etwas bizarr fand. Die anderen Gäste machten jedoch sehr ernste Gesichter. Die so entstandenen Bilder wurden aufgehängt und man machte sich daran durch den Raum zu schreiten und sie näher zu betrachten.
Während ich vor einem der Bilder stand, erschien meine Freundin vor mir und flüsterte mir ins Ohr, dass sie lieber verschwinden würde. Das kam mir sehr entgegen.
Wir suchten uns ein kleines Café und während ich von meinem Latte Macchiato den Milchschaum löffelte, erzählte sie mir, dass sie sich mit dieser Aktion um die Vergabe eines Stipendiums beworben hatte.
„Das Geld des Stipendiums ist lediglich eine Ybergangslösung, du weißt, dass ich eigentlich lieber richtig male“, ließ sie mich wissen. Das beruhigte mich, denn Aktionskunst war mir schon immer ein wenig suspekt.

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