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Gesicht zeigen! und Dorothee Wenner haben 2002 eine Dokumentation namens „Unser Ausland“ gemacht. Dafür wurden zehn Experten aus zehn Ländern über Deutschland befragt. Sie waren angehalten, zu berichten, was ihnen hierzulande auffällt – was also typisch deutsch ist.
Es fiel mehrere Male das Wort Gemütlichkeit. Gemütlichkeit gibt es in anderen Ländern anscheinend nicht und die Interviewten hatten ihre liebe Mühe, ihren Freunden und Angehörigen zu erklären, was diese Gemütlichkeit sein soll.
Meinen italienischen Verwandten kann ich dieses Konzept ebenfalls nicht begreiflich machen. Als ich das letzte Mal dort war, wollte ich gemütlich Latte Macchiato trinken gehen. In Deutschland läuft das so ab: Man schlendert zum Lieblingscafé, bestellt einen Latte Macchiato und nippt dann ca. zwei Stunden an selbigem. Mit Hilfe eines zweiten Latte kann man diese Unternehmung zu einer abendfüllenden Veranstaltung ausdehnen.
In Italien sieht das so aus: Man steigt ins Auto und fährt in die nächste Cafébar. Das Auto parkt man quer auf dem Bürgersteig und rennt dann in die Bar. Man bestellt einen Kaffee, bekommt einen Espresso, trinkt ihn in zwei Zügen noch an der Bar aus und rennt zurück zum Auto. Mein Plan, mich zum Kaffee trinken auf einen Stuhl niederzulassen, stieß auf große Verwunderung.
Damit man nicht nach zwanzig Minuten wieder nach Hause muss, gibt es verschiedene Alternativen wie man den Speedespresso ausdehnen kann. Als Vorarbeit muss man sich über Jahre hinweg gegen Koffein immunisieren. Man kann folglich bis zu fünf Espressi an einem Abend trinken und danach trotzdem müde ins Bett fallen. Fünf Espressi à zwanzig Sekunden sind natürlich trotzdem nur hundert Sekunden. Dehnbar ist das ganze Unterfangen lediglich durch die Wahl möglichst weit auseinander liegender Cafés. Man fährt von Espresso zu Espresso mindestens eine halbe Stunde durch den irrwitzigen Straßenverkehr, parkt vor der Tür, rennt rein, schüttet den Kaffee herunter und springt erneut ins Auto. Ratz Fatz ist es Mitternacht.
Der geübte Italiener wählt zum Schonen seines Herzens eine andere Variante: Man geht in möglichst großen Gruppen Kaffee trinken. Alle fahren mit dem eigenen Auto und nach jedem Espresso diskutiert man ausführlich an welchem Ort man den nächsten trinken könnte. Dann springen alle in ihre Autos und fahren irgendwo hin. An dem Café angekommen, das man für das nächste hält, wartet man zehn Minuten und beginnt die Freunde anzurufen, da sie nicht auftauchen.
Sollte es in Ausnahmefällen passieren, dass während der Diskussion ein Konsens über die nächste Lokalität gefunden wird, so zieht sich die Aktion dennoch in die Länge, da ja nicht ALLE gleichzeitig vor dem ausgewählten Café parken können. Man fährt also um die Blocks, um einen Parkplatz zu finden, streitet sich hier und da mit anderen Gruppen, die Parkplätze suchen, bis man schließlich aufgibt und mit den Handys die Freunde anruft, um sich auf ein anderes, strategisch besser gelegenes Café, zu einigen.
Mit ein bisschen Übung kann man so Wochen verbringen.
Ich war entsetzt über diese Ungemütlichkeit und versuchte meine Verwandtschaft davon zu überzeugen, dass wir uns nach deutscher Art gemütlich hinsetzen könnten.
– Wäre es nicht schön, wenn wir uns zum Kaffee trinken hinsetzen könnten?
– Nein, warum denn?
Damit war das Thema Gemütlichkeit abgehackt.

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