Die ersten Sonnenstrahlen konnte ich nutzen, um eine neue Berliner Attraktion zu begutachten. Eben besagter Ort, genannt „das Badeschiff“, rief mir nach langer Zeit mal wieder verschiedene psychologische Theorien ins Gedächtnis. Z.B. jene der Proxemik von Hall. Bislang habe ich es mein ganzes Leben vermieden an Orten zu verweilen, an denen der nächste Sonnenhungrige genau drei Zentimeter von mir entfernt liegt. Wenn sich der erste in der Reihe entscheidet von der Bauch- in die Rückenlage zu wechseln, drehen sich 700 Menschen simultan. Überall liegen Menschen in meiner intimen Zone (0 bis 50 cm). Ich bin tapfer und weine nicht. Es fällt mir mit steigender Temperatur schwer einzelne Menschen auszumachen. Ich sehe nur ein Körperheer. Genauer gesagt ein Körperkultheer. Gleichzeitig fühle ich mich wie meine eigene Großmutter. Nicht mal ein klitzekleines Tatoo oder wenigstens ein an einer exotischen Stelle angebrachtes Piercing ermöglichen mir die unauffällige Integration in die Körpermasse. Während ich in die Sonne blinzele, frage ich mich, wie viele der hier zu begutachtenden Tätowierungen, vornehmlich identisch aussehende Tribals oder chinesische Schriftzeichen, von einem Eingeweihten auf ihre Tauglichkeit geprüft wurden. Wahrscheinlich stolziert jeder zweite mit dem ewiglichen Aufdruck „Nudeln süß-sauer“, „Nummer sechsunddreißig“ oder „diesen Hund bitte nicht verspeisen, er ist mein Haustier“ mit stolz geschwollener Brust über den eigens dafür angelegten Holzsteg. Die Körper finden sich selbst so sehenswert, dass sie zum Wechseln ihrer Kleidung keine Handtücher oder sonstige Verdeckungsmöglichkeiten nutzen. Nein, sie entkleiden sich gemächlich, rubbeln ihre Geschlechtsteile minutenlang trocken, halten eine Weile Ausschau nach den anderen hippen Freunden und ziehen dann endlich ihre Garderobe wieder über. Ich werde konservativ.