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Tag 2 unseres Aufenthalts in Neustrelitz

Ich bin urlaubsreif. Sobald ich aus Neustrelitz zurück komme, muss ich mich erholen. Mein Freund hatte mich unter dem Vorwand eines romantischen Osteraufenthalts nach Mecklenburg-Vorpommern gelockt. Nach und nach stellt sich heraus, dass es sich um ein Antispeckrobbenarschtrainingsprogramm handelt. Ich nehme an der Hund hat die ganze Aktion mehrere Jahre im Voraus geplant. Es begann nach dem Frühstück ganz harmlos. Wir wollten in der lauen Märzsonne einmal um den Zierker See radeln. In Wiesenthal, ich war noch recht frisch, schlug er vor noch einen kleinen Abstecher nach Prälank zu machen. Wir fuhren vorbei am Kleinen Prälanksee und passierten den Großen Prälanksee als sich erste Erschöpfungssymptome einstellten, immerhin waren wir bereits eine Stunde unterwegs. Mein Freund überlistete mich dann erneut, indem er mir einen Latte Macchiato im Café Prälank in Aussicht stellte. Als der nächste See vor uns am Horizont erschien, wurde mir klar, dass wir das Café schon lange passiert hatten. Da es nicht mehr weit nach Userin war, erhoffte ich mir dort eine kleine Rast. Munter durch Klein Quasow, an unsichtbaren Mühlen vorbei, weiter nach Weserberg. Meine Kräfte schwanden. Die ersten Zitronenfalter, die zu meinem Erstaunen ungewöhnlich schnell fliegen können, überholten mich. Als wir dann fast vier Stunden unterwegs waren, drohten meine Kräfte mich endgültig zu verlassen. Das nächste Café wurde durch meinen Freund abgelehnt, weil die Außenansicht nahe legte, dass man innen Cappuccino ausschließlich mit Sprühsahne reichte. In meinem Zustand wäre mir das trotz meiner sonst ausgeprägten Nöligkeit ebenfalls ein Dorn im Auge gewesen und gerne hätte ich mich stundenlang bei ihm beschwert, wenn ER vorgeschlagen hätte das Etablissement aufzusuchen. Dennoch lies ich mich ob meines sauerstoffunterversorgten Gehirns auf einen Handel ein. Ein Restaurant sollten wir noch weiter fahren, egal wie es aussähe, wir würden dort rasten. Man muss dazu sagen, dass trotz der wunderschönen Landschaft und den zahlreichen Seen die Mecklenburg-Vorpommer noch nicht drauf gekommen sind, dass Städter wie wir sich lächelnd das Geld aus den Taschen ziehen lassen würden, wenn es denn Cafés gäbe – vielleicht sogar mit Seeblick. In ein solches Café zu investieren scheint dem Mecklenburg-Vorpommer jedoch eine fixe Idee. Wahrscheinlich mutet ihnen das Seegaststättenkonzept ähnlich absurd an, wie unsereins die Idee, doch mal ein gemütliches Picknick auf der Berliner Autostadtbahn zu machen, empfände.
Ziele zu erreichen ist nur eine Frage der Motivation und so schaffte es mein gewiefter Freund natürlich auf einer der zahlreich angebrachten Radwanderkarten ein Restaurant auszumachen, welch allen mecklenburgvorpommerischen Traditionen zum Trotz direkt an einem See gelegen war. Die ‚blaue Radwanderlinie’ führte laut Plan schnurgerade dort hin. Ich überzeugte mich auf der Zeichnung persönlich, dass mein Mittagessen nur noch wenige Kilometer entfernt war. Auf der Karte war eine ungebogene Eisenbahnlinie zu sehen. Rechts davon befand sich der Radfahrweg. Wir machten uns also auf den Weg. Leicht skeptisch stimmte mich der Umstand, dass sich links neben den Schienen eine weitere Straße befand, auf der ich zahlreiche Radler beobachten konnte.
Nach ca. 400 Metern bog unser Radweg scharf nach rechts ab. Wir fuhren durch den Wald (noch dachte ich, es handle sich um eine Abkürzung und lachte mir innerlich ins Fäustchen), über Felder (und stellte mir vor, wie wir hase- und igelgleich vor den anderen Radfahrern im Café Seeblick ankamen), Berg rauf, Berg runter (und schon kaffeeschlürfend auf unseren Plätzen in der Sonne saßen wenn die anderen Deppenfahrradfahrer endlich schwitzend und keuchend eintrudelten), am Seeufer entlang, bis schließlich die letzten Zeichen der Zivilisation verschwanden. Selbst auf dem höchsten Punkt unseres Weges ließen sich in keiner der Himmelsrichtungen Menschenlebenszeichen ausmachen. Die Sonne war heiß geworden. Meine Kehle war trocken. Das Vogelgezwitscher wich in meinen Ohren dem Rauschen meines Blutes. Ich hoffte inständig, dass das Ziel nun näher als der Start wäre, denn an den Start zurück hätten meine Beine mich nie und nimmer mehr getragen. Im Trance radelte ich weiter und weiter und als wir fast am Ende des Sees angelangt waren, tauchten am Horizont endlich auch wieder Häusersilhouetten auf. Leider endete der Weg an dieser hoffnungserweckenden Stelle bzw. er machte eine 180 Grad Biege nach links zurück ins Feld. Wir fuhren also den ganzen beschissenen Weg zurück. Nun, was noch schlimmer war, nicht den eigentlichen Weg sondern eben eine zum Weg parallel verlaufende Serpentine. Als wir dann fast am Ausgangsort waren bog der Weg sich erneut in die andere Richtung. Ich trampelte ab da apathisch in meine Pedale und schwor mir, den verlogenen Kartenmaler persönlich zu erwürgen. Während ich in meine Mordgedanken vertieft war, fiel mir gar nicht auf, dass der Schotterweg sich in eine asphaltierte Straße gewandelt hatte und wir geradewegs auf die Gaststätte Havelberge zusteuerten. Als wir da waren, kannte meine Begeisterung kaum Grenzen. Mein Freund konnte mich nur schwer davon abhalten jeden einzelnen Kellner zu umarmen. Ich rannte aufs Klo und trank erst mal zwei Liter des erfrischenden Nass, welches hier tatsächlich frei erhältlich und trinkbar aus den Rohren floss. Ich weiß nicht, was ihm daran so peinlich war. Ich glaube nicht, dass das ganze Restaurant sich nach mir umdrehte nur weil ich „Wasser! Wasser!“ aus den Toilettenräumen schrie.
Der Blick in den Spiegel lies mir im Übrigen die Einsicht wie Schuppen von den Augen fallen, warum echte Radfahrprofis ausschließlich mit Kappen Fahrrad fuhren. Meine Frisur war ganz und gar ruiniert und mein Pony stand nach oben wie eine skurrile Felsformation der Sächsischen Schweiz.
Nachdem ich mich erfrischt und in Ordnung gebracht hatte, besann ich mich wieder meines Grostädtertums und testete die Geduld der freundlichen Eingeborenen. Ich bestellte standesgemäß ein Putensteak, verlangte jedoch Pommes Frites statt Kartoffelecken, bat darum die Salatsoße wegzulassen und mir anstatt dessen Essig und Öl zu bringen. Ich bemängelte mit vorgeschobener Unterlippe, dass es keinen Mangosaft gab und bestellte beleidigt nach einer fünfminütigen Denkpause in Anwesenheit der Kellnerin ein Wasser. Nachdem ich mir sicher war für verrückt gehalten zu werden, orderte ich zum Nachtisch eine Kugel Schokoladeneis mit Erdbeersoße, versicherte mich vorher aber, dass es sich um künstliche Erdbeersoße mit maximal naturidentischen Aromastoffen in keinem Fall aber aus tatsächlichen Erdbeeren hergestellte Soße handelte.
Als wir nach unserem Essen wieder die Fahrräder bestiegen, fühlte es sich zehn Millisekunden so an, als wäre ich in meine natürliche Position zurück gekehrt. Während ich lautstark verkündete, wie widersinnig es sei, den ganzen Tag verbuckelt vor dem Computer zu sitzen, wünschte ich mir nichts sehnlicher als das, denn die ersten Muskelschmerzen setzten ein.
Das Straßenschild zeigte noch 15 Kilometer zu unserem Hotelort und ich wünschte mein Handy nie verbannt zu haben, denn dann hätte ich ein Taxi rufen können, um mich abholen zu lassen. So blieb mir diese Option verwährt und ich strampelte unter großen Schmerzen Richtung Hotel.
Wir hielten nur kurz im Industriegebiet, um das dortige Kino aufzusuchen und herauszufinden, ob sich ein abendlicher Besuch lohnen könnte. Mein Freund stellte dabei fest, dass er es rührend fände, wie die Menschen, die in Neustrelitz wohnen, versuchten sich durch Nachahmung der städtischen Kultur ein menschenwürdiges Leben zu schaffen.
Ich dagegen versuchte die Wahngedanken loszuwerden, die mich aufsuchten, als wir ein Straßenschild passierten, welches einen FKK-Campingplatz in ein Kilometer Entfernung anzeigte.
Ich hatte mal einen Fernsehbericht über eine solche Einrichtung gesehen. FKK-Campingplätze werden ausschließlich von körperbehaarten Hautlappenmonstern besucht, die nicht nur splitternackt und sackkratzend an Supermarktkassen anstanden sondern auch Kimmenschwitzenflecken auf den Stühlen der FKK-Restaurants hinterließen.
Während ich so über die Ästhetik von FKK-Einrichtungen sinnierte, kämpfte sich die Pein, die mein Gesäß mir verursachte langsam in mein Bewusstsein. Den Rest des Rückwegs beschäftigte mich die Frage, ob nun meine Beine oder eben mein Hintern mir mehr weh taten.
Die letzten Meter zum Hotel legte ich in Zeitlupe leidend wie Rocky zurück und brüllte dabei nach Art des Herrn Balboas statt „Adriaaaaaaan“ den Namen des Hotels.
Seitdem liege ich unbewegt auf meinem Bett. Seit einigen Stunden schon weile ich auf einem Sandkorn, welches sich in meine rote und angespannte Haut frisst. Leider bin ich zu schwach es zu entfernen. Es bleibt mir nichts anderes, als den Scherz zu ertragen und an einen wunderbaren Hornbachwerbespruch zu denken, bei dem ein Zementsack beladener Bauarbeiter mit entgleisten Gesichtszügen ausruft: „Schmerz ist Schwäche, die den Körper verlässt!“

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