Irgendwo las ich von Telefonsexhotlines und erinnerte mich an meine Zeit als Weckdienstcallagent. Meine Schicht begann um 22 Uhr. Tagsüber waren in dem Großraumbüro mehrere Duzend Mitarbeiter. Abends waren da nur der Architekt, der nie sprach, Orang-Utan Klaus, Sven, der 18jährige Immobilienfachwirt, der nach Höherem strebte, Tina, die Schwedischstudentin und ich.
Wir saßen in dem gut 200 Quadratmeter großen Raum eng aneinander platziert und telefonierten die ganze Nacht. Manchmal gab es lange Pausen und keines der Telefone klingelte. Die Frauentoiletten befanden sich am anderen Ende des Gebäudes. Mir gelang es nie, die richtigen Lichtschalter auf dem Weg durch das Haus zu finden. Einmal begegnete mir im Dunkeln der Pförtner. Er saß still auf einem Treppenabsatz und machte seltsame Geräusche. Als ich an ihm vorbei lief, sprang er auf und schimpfte auf mich ein. Im Mondlicht leuchteten seine Zähne khakifarben. Seit diesem Vorfall benutzte ich nur noch das Männerklo, welches sich gleich an unserem Großraumbüro befand.
Jeden Abend um punkt 24 Uhr rief Daniel an. Wir fanden nie raus, ob Daniel ein Mann, eine Frau oder ein Kind war. Daniel fragte als aller erstes immer: Hast Du ein T-Shirt oder eine Bluse an?
Wenn man antwortete man habe ein T-Shirt an, legte er auf. War dem nicht so, konnte man mit ihm stundenlang telefonieren. Jürgen hatte eine seltsam verstellte, quäkende Stimme und stellte gerne Fragen:
Er wollte wissen, ob man sich nachts vor Vampiren fürchtete oder ob man Angst vor Kaninchen hätte.
Daniel sagte, er sei 19. Seine Mutter lebte in Cottbus und er in Stuttgart. Am Wochenende führe er mit seinem Mofa seine Mutter besuchen. Eines Tages sei seine Mutter nicht mehr da gewesen. Er vermute, sie sei nun in Amerika.
Eines Abends hatte ich eine Bluse an, aber keine Lust mit Daniel zu telefonieren. Ich sagte ihm, ich trüge ein T-Shirt. Er lachte heiser und sagte, das stimme doch gar nicht, ich solle nicht lügen, er habe gesehen, dass ich eine Bluse trage.
Ich glaube, das war der Tag an dem ich paranoid wurde.