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Meine deutschen Großeltern habe ich aus verschiedenen Gründen nie richtig kennen gelernt. Als Fünfjährige besuchte ich sie gelegentlich. Meine Erinnerungen an sie sind recht bizarr. So fallen mir als erstes die langen, meist lachsfarben lackierten Fingernägel meiner Oma und die vielen wildkatzengemusterten Kissen auf dem Sofa ein, die nicht berührt werden durften, weil sie sonst zerknittert hätten werden können. Wie jedes Kind durfte ich bei den Großeltern fernsehen. Sehr lebhaft erinnere ich mich an eine Dokumentation über die potenziellen Gefahr einer Wasserstoffbombe, welche die Russen jederzeit auf Europa abwerfen könnten, um die Amerikaner zu provozieren.
Zwischen fünf und dreizehn hatte ich folglich v.a. Angst vor Wasserbomben.
Mein nächstes Trauma verpasste mir eine Schulfreundin, die Metzgertochter war. Komm mal, sagte sie, ich hab was lustiges für Dich.
Da stand ich vor einer ausgewachsenen Kuh, der die feuchte Nase tropfte. Sie muhte ein letztes Mal und dann löste Papa Metzger das Bolzenschussgerät aus.
Ha, ha, wie lustig.
Die nächsten Jahre fürchtete ich demzufolge Metzger und das Sterben.
Alles ganz vernünftige Ängste, wenn ich darüber nachdenke, vor was ich mich in der Zwischenzeit alles fürchte. Gut zurückgedrängt habe ich die Angst vor Spielplätzen. Bzw. die Befürchtungen was Kindern an Spielplätzen grauenerregendes widerfahren könnte. Am Anfang meiner ersten Spielplatzgänge mit Kind, hätte ich gerne bei jedem Rutschenerklimmungsversuch geschrieen: Neeeein! Nein! Tu das nicht! Das ist zu hoch! Viel zu gefährlich!
Die Gerätschaften erscheinen mir wie Verletzungsfallen, die sich Wahnsinnige ausgedacht hatten. In meinen unheilvollen Visionen sehe ich kleine Kinder auf die Rutschen, Burgen und Holzschiffe klettern und weil sie noch nicht gelernt haben, sich ordentlich festzuhalten, stürzen sie im Geiste aus schwindelerregenden Höhen rückwärts auf den Boden. Sie landen auf den Rücken und rudern wie hilflose Käfer mit ihren Armen und Beinen, weil ihre kleinen Lungen luftleer sind.
Mein Verstand redet dann beruhigend auf mich ein und versichert mir, dass Kinderspielplätze eigens für Kinder konstruiert wurden und sich die Racker gerade nicht in Lebensgefahr befinden.
Gerne sagt man deswegen zu mir: Nuf, Du hast echt krasse Wahnphantasien.
Dass ich nicht alleine mit meinem Wahnsinn bin, habe ich vergangene Woche beruhigt in einem Gespräch mit meinem Nachbarn festgestellt. Dem wollte ich einen Zwischenmieter aufschwatzen, der sich bei mir gemeldet hatte, mir aber mitteilte, dass er unter keinen Umständen in meine Wohnung ziehen könne, weil ich kein DSL hätte, was für sein „Projekt“ in Berlin unabdingbar sei. Für mich ergab sich daraus ausnahmsweise nichts Bedrohliches.
Mein Nachbar kräuselte kurz die Stirn und fragte:
– Was für ein Projekt denn?
– Keine Ahnung, ich hab ihn nicht gefragt. War mir irgendwie egal. Hauptsache der zahlt.
– Wahrscheinlich ist das ein krasser Massenmörder, der seine Opfer mit per Webcam beobachtet. Deswegen muss der unbedingt DSL haben.
Stille.
– Ähm ja. Klingt sehr naheliegend.
(Was manche Leute für Wahnvorstellungen haben, ist echt unglaublich)

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