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Jetzt da ich bald ausziehe, kam mir in den Sinn, dass es doch traurig ist, dass ich ein Paar Jahre in einem Haus wohne und keinen der Bewohner kenne.
Seit gestern sind mir Argumente bekannt, die deutlich gegen eine Bekanntschaft sprechen. V.a. dann, wenn es sich um Nachbarn handelt, die ein Alkoholproblem haben. Die Symptome von Alkoholismus waren mir nicht neu. Was ich nicht wusste war, dass Menschen ihre Lungen beim Husten ausstülpen können, so wie Kröten ihre Mägen erbrechen, wenn sie sich ihres Mageninhalts entleeren müssen. Meine Hypothese ist, dass diese spezielle Hustmethode kettenrauchgeplagten Lungen Luft verschafft.

Nichtsahnend sitze ich in meiner Wohnung und streiche meine Türen und Fußleisten. Während ich konzentriert versuche durch regelmäßiges Streichen in den Flowzustand überzuwechseln, summt unten an der Haustür der Türöffner im Zweiminutenrhythmus. SSsssst Stille sssssst Stille sssssst Stille. So wird das nichts mit Glückseligkeit durch Betätigung, denke ich und hoffe, dass der Beklingelte endlich nach unten geht und die abgeschlossene Tür entriegelt.
Nach einer halben Stunde höre ich statt des Summen ein Schlurfen im Treppenhaus. Über mir angekommen, fängt es an gegen die Haustür zu hämmern. Das dumpfe Trommeln wird durch schrilles Türglockengeklingel untermalt.
BAM BAM BAM … schrilllschrillllschrilllschrilllschrillll … BAM BAM BAM … schrilllschrillllschrilllschrilllschrillll … BAM BAM BAM … schrilllschrillllschrilllschrilllschrillll … BAM BAM BAM … schrilllschrillllschrilllschrilllschrillll … BAM BAM BAM … BAM BAM BAM … schrilllschrillllschrilllschrilllschrillll … BAM BAM BAM …
Es ist sehr motiviert Einlass zu erhalten. Meine Farbe neigt sich währenddessen ihrem Ende entgegen.
Ich höre im Treppenhaus Schritte. Es läuft den Flur auf und ab und erinnert mich dabei an die Untriebigkeit eines alten, angeketteten Elefanten. Nach einer weiteren halben Stunde kehrt endlich Ruhe ein.
Meine Farbe ist nun aufgebraucht und es ist Zeit mich mit einer Pizza zu belohnen. Kurz vor 23 Uhr, mein Lieblingspizzabäcker schließt gleich.
Voller Elan reiße ich dir Tür auf und … MASCHINEN STOPP, mein Nachbar steht vor mir und stinkt. Er lallt mich an. Herbert hieße er und sein Vater sei nicht da, aber er müsse doch so dringend Pipi.
Was soll man da machen? Verrichtung der Notdurft darf man nicht verwähren. Bevor er sich einpullert, mein Gott, dann bitte ich ihn eben hinein, so mein naiver Gedanke.
„Passen sie aber bitte auf, ich habe gerade die Türen frisch gestrichen …“ Den Atem hätte ich mir sparen können, denn er tritt natürlich treffsicher auf die Schwelle und stempelt sich seinen Weg zur Toilette.
Wagemutig schmeiße ich mich vor ihn, befehle ihm sich seiner Schuhe zu entledigen. Schreien hilft, er zieht sie aus und stellt sie vor die Tür. Während ich seine Spuren beseitige, trottet er sockig zur Toilette. Natürlich stützt er sich vorher an der Tür ab. Mit weiß gefärbten Händen nimmt er nun Kurs auf mein Wohnzimmer und ich kann ihn in letzter Sekunde davon abhalten, sich auf mein Designersofa zu werfen. Schwankend kommt er auf mich zu, sucht Halt an der Wand und erwischt ein weiteres Mal eine der frisch gestrichenen Türen. Ich bitte ihn, nun nach verrichtetem Geschäft, meine Wohnung zu verlassen.
Geht leider nicht, er sei müde, sein Vater sei nicht da, er wolle jetzt schlafen, sagt er und liebäugelt wieder mit meinem Sofa. Ich versichere ihm, dass er ganz bestimmt nicht bei mir nächtigen wird. Das macht ihn wütend und hektisch, er sabbelt und wedelt mit den Armen bis er das Gleichgewicht verliert. Auf dem Boden liegend beginnt er zu brüllen: „Mein Arm, mein Arm, mein Arm!“
Während ich wie eine Statue vor ihm stehe und überlege, ob ich erst den Notarzt und dann die Polizei alarmieren soll oder umgekehrt, wird ihm seine Show zu langweilig und er steht auf, als sei nichts passiert. Er geht langsam Richtung Ausgang und tritt NATÜRLICH in die gestrichene Türschwelle. Daraufhin fällt er wieder um und krakelt dieses Mal „Meine Socken, meine Socken!“.
Ich denke, Himmel, wenn er geht, wenn ich ihm Socken schenke, dann schenke ich ihm Socken, krame in meiner alten Sockenkiste, ziehe ein Paar Sportsocken heraus, die mir ohnehin zu groß waren und halte sie ihm vor die Nase. Da fängt er an noch mehr zu schreien ja sogar zu weinen, Pumasocken trage er nicht, Puma sei nicht seine Marke. Jetzt platzt mir der Kragen und ich brülle ihn an, er möge nun endgültig meine Wohnung verlassen. Er fleht mich an, bleiben zu dürfen. Ich schiebe ihn in den Flur, wo er sich wieder fallen lässt und nun über die frischgestrichene Türschwelle in das Badezimmer robbt und vorschlägt, der Einfachheit halber dort zu übernachten.
Keine gute Idee, lasse ich ihn wissen und zeige streng auf die Haustür. Er zieht sich, von oben bis unten mit Farbe beschmiert, an der feuchten Tür nach oben und johlt, er sei Epileptiker und wenn ich ihn draußen schlafen ließe, bekäme er bestimmt Anfälle. Mit diesen Worten wirft er sich ein drittes Mal zu Boden und kreischt „Mein Arm, mein Arm, ich habe ihn mir ausgekugelt!“
Ich schaue ihn an wie ein Auto, kann nicht glauben, was da passiert. Mein Glück, denn Passivität scheint ihn zu irritieren und so steht er wortlos auf, kugelt sich seinen Arm mit einem lauten Knacks wieder ein und grinst mich an.
„Dann gehe ich eben!“
Ich schließe die Tür hinter ihm und wenn ich nicht überall die Farbschmierer gesehen hätte, hätte ich mich vermutlich geohrfeigt, um festzustellen ob
a) mir die Farbdämpfe zu Kopfe gestiegen sind oder
b) ich während des Streichens eingeschlafen bin und einen schlimmen Albtraum hatte.

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