Ich war schon ziemlich oft in Wiesbaden, aber irgendwie hatte ich immer so viel Programm, dass ich keine richtige Erinnerung an die Stadt selbst habe. Ich habe die Gelegenheit also genutzt und mich ohne Termine den Tag treiben lassen, um dann in einem Friseursalon zu landen.
Das letzte Mal war ich vor ungefähr einem Jahr beim Frisör. Ich finde es total lästig zum Frisör zu gehen, aber meine Haare waren unnütz lang, so dass ich sie z.B. immer eingeklemmt habe, wenn ich einen Rucksack aufgesetzt habe oder sie mir ständig überall reinhängen.
Auf Google suche ich mir einen Laden, der gute Bewertungen hat und als ich eintrete, wundere ich mich, weil es dort aussieht wie in einem Barbershop. Ich frage leise, ob sie denn auch Haare schneiden, also meine und der Barbertyp zeigt in den hinteren Teil des Ladens. Dort ist tatsächlich eine separate Ecke, wo eine Friseurin einer Frau die Haare färbt.
Ich gehe also ein paar Schritte weiter und frage, ob man denn ohne Termin die Haare schneiden lassen kann und die Friseurin sagt, das ginge leider gerade nicht, weil sie würde ja gerade einer anderen Frau die Haare färben.
Die Frau unter dem Haarfärbeverstärkungsstrahler (was ist das für ein Ding?) dreht sich in meine Richtung und ruft: „So ein Quatsch! Ich sitze hier nur rum, die Farbe muss einwirken, da schaffst du doch dieser Frau die Haare zu schneiden!“
Die Frisörin zögert noch, doch dann gibt sie sich einen Ruck, ob ich denn was Kompliziertes wolle? Nein, nur kürzer. Ja gut, dann solle ich mich setzen.
Es dauert nicht lange und die Frau, deren Haare gefärbt werden, verwickelt uns in ein Gespräch. Wir stellen fest, dass unsere Familien beide aus Sizilien kommen. Wir reden über Irland und über das Älterwerden, es ist sehr fröhlich. Zwischendrin bedauern die Friseurin, deren Eltern aus der Türkei kommen und die andere Kundin sehr blumig, dass ich so deutsch aussehe. Keine dunklen Haare, diese hellen Augen und dann die bleiche Haut. So schade! Wahrscheinlich die Wikinger, die auch auf Sizilien waren.
Da sind sie wieder die Wikinger. Daher also meine bleiche Haut! Schade, schade, ich hätte auch südländisch schön sein können, aber jetzt bin ich halt eine Kartoffel.
Währenddessen schnippelt die Friseurin sehr engagiert an mir rum. Einen Moment denke ich, dass das vielleicht doch ein bisschen viel ist und dann denke ich: was ab ist, ist ab und es wächst ja wieder.
„Ich könnte auch noch mehr abschneiden“, sagt die Frisörin und klappert mit ihrer Schere. „Ja, danke, aber das reicht.“ „Es würde aber ziemlich gut aussehen!“ „Ja, danke, aber das gefällt mir so.“ Wie lange ich denn noch in Wiesbaden bin? Bis Freitag. Ja gut, wenn ich am Donnerstag denke, dass sie doch recht hat, dann soll ich nochmal kommen, sie schneidet dann den Rest kostenlos ab.
Beschwingt und mit halblangen Haaren verlasse ich den Salon und schlendere durch die Fußgängerzone. Eine warme Erinnerung aus meiner Kindheit. Fußgängerzonen und „in die Stadt gehen“ – das geht ja in Berlin nicht, denn wo soll das sein – in die Stadt. Berlin sind 20 Städte.
Ich kaufe Pfingstrosen und eine ganze Sachertorte. Ich freue mich, dass ich das kann: eine ganze Torte kaufen. Wie so eine leicht durchgeknallte Erbtante.
Heute fahre ich nicht mit dem Zug.
diese geschichte freut mich: spontan zum friseur, mutig schneiden lassen und eine gute unterhaltung, so lebendig. kein wunder,, dass du zu erbtante wurdest und pfingstrosen kauftest. danke, liebe grüsse, roswitha
Ich grüße aus Frankfurt! Und habe eben evtl. ein Altern-Ziel entdeckt: die leicht durchgeknallte Erbtante! Mal sehen, was ich vererben könnte…