Nach dem Abitur fuhr ich mit meinem besten Freund R. zu meiner Oma nach Sizilien. Traditionell lud man am ersten Freitag zum Essen in die Campagna ein.
Bevor wir am Tisch Platz nehmen konnten, musste ich mich vom kompletten Dorf in die Backe kneifen lassen und hören wie groß ich geworden sei. Als alle zahnlosen Omas mit der Begutachtung meines Wachstums und dem Bedauern meines Nichtverheiratetseins fertig waren, nahmen wir an einer großen Tafel Platz.
Der romantisch Verklärte sieht im Geiste vielleicht einen langen Holztisch mit weißer Tischdecke, bauchigen Kristallweingläsern und weißem Porzellan, der von Blumen und Kerzen geschmückt ist.
Bedauerlicherweise sehen so die Esstische in Italien nur in Filmen oder für Touristen aus. In Wahrheit handelt es sich um tapieziertischähnliche Vorrichtungen, die mit Papierdecken zugeklebt sind. Der Wein wird in Plastikbechern serviert und die einzelnen Gänge kredenzt man auf Papptellern. Lediglich zu außergewöhnlichen Anlässen, so wie beispielsweise einem Deutschlandbesuch gibt es Metallbesteck. Ansonsten sägt man sich mit Hilfe eines Plastikmessers an einem Stück Fleisch die Nerven durch.
Wenn die Gastmutter aus der Küche kommt, wickeln sich alle Anwesenden Küchentücher um die Hälse und sobald der Erste etwas hat, wird losgegessen. Es ist wichtig dabei zu schmatzen und gleichzeitig möglichst laut zu reden. Extrapunkte gibt es wenn man beim Gestikulieren Gläser oder Schüsseln umwirft. Der erste Gang, ein harmloser Krabbencocktail war schnell gegessen. Ich ließ, wie alle Italiener, den Salat in der Plastikschüssel. Mein Freund verputzte gerade das letzte Blatt als die Reste des ersten Gangs im Müllbeutel verschwinden. Als zweiten Gang reicht die Frau des Hauses Nudeln mit einer einfachen Tomatensoße. Die Soßen in Sizilien sind dickflüssig und süß. Chiara läuft, nachdem vor jedem Gast ein Teller steht, um den Tisch und wirft handtellergroße, intensiv duftende Basilikumblätter auf die Tomatensoße.
Es ist köstlich und doch esse ich als leiderprobte Familienfestesserin nur die Hälfte. Ein Blick auf meinen Freund an der anderen Ecke des Tischs zeigt, dass er sich stolz wähnt, den Teller bezwungen zu haben. Ich versuche ihn durch das lautstarke Tischgespräch hindurch zu warnen, da ihn noch einiges erwartet.
Meine Worte ereichen ihn nicht und so schickt er mir nur ein fröhliches Lächeln zurück, während meine Cousins ihn mit ihren aus „Eins, zwei, Polizei, Hallo, Tor“ bestehenden Deutschkenntnisse beeindrucken zu versuchen.
Als erste Hauptspeise gibt es einen fangfrischen Tintenfisch. Ich verweigere mich unter Bezugnahme auf weibliches Ekelgekreische das saugknopfübersähte Ungeheuer zu verspeisen. Im Augenwinkel sehe ich, wie R. langsam schwächelt. Als er die 2. Hauptspeise erblickt, weiten sich seine Augen im Erstaunen. Er sammelt seine letzten Kräfte und erbleicht als nach einem kurzen Zwischenespresso die Käseplatte gereicht wird. Meine Verwandten wedeln mit Käsestücken in der Luft und rufen „Probieren, probieren, gut, gut!“. Tapfer stopft er sich Käsehäppchen um Käsehäppchen in den Mund.
Als nach einer kurzen Verschnaufpause ein Kuchen aufgetischt wird, sieht er resigniert aus und jubelt leidenschaftslos im Canon meiner Verwandtschaft „Leckaleckalecka“.
Nach der letzten Gabel sinkt er erschöpft in den Plastikstuhl.
Auch ich habe meine liebe Not noch mehr Essen in mich zu stopfen. Meine Tanten strecken mir kuchenbeladene Gabeln entgegen und versichern mir, dass ich aussehe wie ein Skelett und vermutlich aus diesem Grund noch niemand um meine Hand angehalten hätte.
Während ich mir sehnlichst einen streunenden Hund unter den Tisch wünsche, der meine Kuchenreste verputzt, wird schon die Eisbombe gebracht.
Erschöpft rühre ich das Stück Eistorte in der Hoffnung, es möge schmelzen und niemand möge merken, dass ich nichts davon gegessen habe.
Als der letzte Gast den Löffel fallen lässt, packt Chiara die Papiertischdecke an den Zipfeln und schmeißt sie abzüglich des Bestecks mit allen Essens- und Plastikgeschirrresten lautstark in die Mülltonne.
In das Reisetagebuch schreibt R. Abends, er habe sich wie ein Mastschwein gefühlt. Seltsam, denn ich habe nach dem zweiten Gang an Gänsestopfleber denken müssen.