Autor: dienuf
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Manchmal stelle ich mir die Frage, ob es möglich ist, würdevoll auszuflippen.
Ich meine, so ein Austillen, bei dem der Auslöser hinterher anerkennend sagt: „Hey, super. Die hatte wirklich recht. Irgendwie bin ich doch ein Arsch!“
Das Problem hierbei ist, wie so oft, vielschichtig. Zum einen schlägt sich eine gewisse Agitiertheit schnell in Tempo und Stimmlage nieder. Je schneller und höher die Stimme je zickiger klingt es.
Man kann eben nicht normalstimmig rumschreien. Vielleicht wenn man vorher die Stimmbänder geschmeidig summt. Aber wer summt schon wenn er innerlich kocht.
Alternativ zum Rumbrüllen bleibt das argumentative Auseinandersetzen. Ruhig darüber sprechen. Argumente hervorbringen. Bringt aus Erfahrung aber nichts. Außer vielleicht dass die Wut unterschätzt wird oder aber man als verlangsamt oder überheblich abgestempelt wird.
Neben aktiven Reagieren bliebe da noch das Ertragen. Aber da ist man gleich so ein Opferlamm. Macht außerdem Magengeschwüre.
Neben der eignen Reaktion, stellt natürlich der Ärgerauslöser ein ganz grundsätzliches Problem dar.
Der ist oft höchst uneinsichtig. Fühlt sich im Recht und hat eine Reihe von externalen Attributionsmöglichkeiten, wenn es zum Konfliktfall kommt. Das ist zwar gut für sein eigenes Selbstwertgefühl, hilft aber bei der Lösungsfindung wenig.
Dieses Dilemma beschäftigt mich seit Jahren. Letzte Woche endlich habe ich es geschafft, mich in einem Streitfall für meine Maßstäbe angemessen zu verhalten.
Das war so: Freitag Abend, 19.55 Uhr in einer Warteschlange bei PLUS. Vor mir zehn Leute, hinter mir Menschen bis an den Horizont. Fast an meinem Rücken steht eine sog. Rhomboeder-Frau*(siehe Zeichnung).
Perlmutrosa lackierte, leicht hornige Fingernägel. Ledermantel in Panteroptik. Fellkragen, Fellärmel, Fellmantelabschluss. Aschblondes, toupiertes Haar. Kugelförmiger Körper. Steckenbeine. Sie hat in ihrem Einkaufswagen eine Magerhühnchenwurst, einen Diätjogurt und eine kalorienreduzierte Butter.
Ich balanciere auf meinen Armen drei verschiedene Wurstsorten, ein Stück Edamer, ein Stück Parmesan, vier mal Crema Catalana, zwei Tüten Milch, ein großes Tetrapack Saft, eine Packung Duplo und ein Paket gefrorene Baguettebrötchen. Die Schlange vor mir bewegt sich kaum.
Jedes Mal wenn mein Vordermann einen Mikrometer nach vorne schlufft, fährt sie mir mit ihrem Wagen schwungvoll in die Hacken. Das erste Mal lasse ich es als Versehen durchgehen.
Das zweite Mal atme ich hörbar laut. Das dritte Mal drehe ich mich wütend um.
Sie schaut nach oben und tut so als sei nichts.
Mit steigt das Wutblut in die Ohren. Ich überlege hin und her. Was könnte ich ihr sagen?
„Hey, meinst Du bei Deiner Figur kannst Du mit den Diätprodukten noch was retten?“ Nein, das ist zu gemein. „Na, machste Dir nen schönen Abend? Nur Du und die Hähnchenbrust?“
Schon besser, aber vielleicht hat sie ja einen biertrinkenden Mann zuhause.
Einfach umdrehen und schreien „Ahhhhhhhhhhhhhaaaahhhhhh!“
Alles unpassend. Doch dann schwillt in mir die Lösung.
Sie drängelt mich, weil sie es subjektiv eilig hat. Also foltere ich sie jetzt. Bleibe auf der Stelle stehen wie ein Baumstamm. Wenn sie mich rammt, lächle ich sie gütig unwissend an. Erst wenn 1,5 m Leerraum zwischen mir und meinem Vordermann sind, rücke ich langsam wie ein Faultier nach vorne. Ich mache dazu auch diese 2/3 Fortschrittsbewegungen. Naaaach vorne, zurück, zurück. Naaaaaaaaach vorne, zurück, zurück.
Als wir am Band angelangt sind, warte ich bis der Mann vor mir in der Schlange mit seinen Sachen an die Kasse gerutscht ist.
Ich spüre ihre Unruhe, ihr Leiden, während ich Gegenstand für Gegenstand langsam, unter genauer Betrachtung und gelegentlichem intentiven Lesen der Zutaten auf der Packung nebeneinander auf das Band lege. Glücklich schaue ich meinen Einkauf an. Er erstreckt sich fast über das ganze Transportband.
Die Frau hinter mir schnaubt. Sie will mich provozieren, will es wissen, legt ihre Sachen direkt an meine. Ohne Platz, denkt, sie hat gewonnen.
Blitzschnell greife ich die Warentrennstöckchen und werfe sie so weit ich kann (das sind ca. 3 Meter weit) von uns weg. Während sie zu Boden klackern, schaue ich ihr in die Augen.
Ich werde an der Kasse nichts sagen. SIE wollte Krieg. Notfalls zahle ich ihren Krempel mit. ICH sage nicht „Das gehört nicht dazu!“ ICH NICHT!!!!
„17,23 Euro“, sagt die Kassiererin. Ich krame in meinem Portemonnaie. Die Frau hinter mir zuckt mit dem rechten Augenlied. „Jaaaa, jaaaahhaaaa“, denke ich „leide, leide, LEIDE!“
„Ich zahle bar“, verkünde ich, krame weiter, seufze.
„Ach neee, doch mit Karte“, reiche meine Karte ganz laaaaangsam zur Verkäuferin. Entscheide mich um, „Doch bar!“, ziehe die Karte zurück. „Ach ne, reicht nicht, sorry!“
Während die Dame an der Kasse meine EC-Karte nimmt, fange ich ein nettes Gespräch an, über den Stress so kurz vor Feierabend. Dabei lobe ich ihre Geduld und Professionalität.
Dann räume ich in Zeitlupe meine Einkäufe in eine Tüte, die ich kompliziert entfalte.
Als die Hühnerbrustfrau an mir vorbei will, mache ich mich zwei Meter groß und lache mit Echo.
(Naja und sollte das Gegenprovozieren mal nicht helfen, dann hab ich einen Zettel in der Tasche auf dem steht: Selber doof.)
*Ganz genau gesagt, sieht sie aus wie eine tesserale Kombination Oktaeder mit Pentagondodekaeder, aber ich vereinfache hier aus pragmatischen Gründen.
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Vor der Lesung kaufe ich noch schnell Rexona Cotton Dry. Dann setze ich mich mit feuchten Händen zu Herrn Dahlmann, der als einziger ebenfalls pünktlich erscheint. Vor Aufregung greife ich sogar, trotz meiner sonstigen Alkoholabstinenz zu einem Radler. Herr Dahlmann strahlt die Gelassenheit eines tibetanischen Mönchs aus und ich werde langsam ruhiger.
Dreißig Millisekunden bevor es losgeht, erscheint ix, der sich im Hotel einige Blogtexte ausdrucken hat lassen. Schriftgröße 3 höchstens, ich schwöre.
Dann geht’s los und ich setze mich neben Frau Schwadroneuse, die meine Nervositätsunterzuckerung liebevoll umsorgend mit einem Stück Kokosnussriegel abwendet.
Ich verfalle in Trance. Als ix aufsteht, stehe ich auch auf. Ich habe mir die ganze Zeit im Kopf vorgesagt: „Wenn x=3, dann nuf=4“.
Die Treppen auf die Bühne verfehle ich. Ich stolpere. Steige mir dabei auf die Hose, sie zerreißt. Hosenlos schlittere ich bäuchlings auf die Empore.
Macht nix, denke ich tapfer und ziehe mich an der Tischkante hoch. Sitze ja auf einem Stuhl hinter einem Tisch. Niemand sieht meine Beine, ich mache einfach weiter als sei nichts gewesen. Im Publikum sehe ich meine Freunde sitzen. Ich winke aufgeregt, reiße dabei die Arme hoch. Zweihundert Menschen starren auf meine Schwitzflecken. Handyfotoapparate blitzen. Drei Sekunden später gibt es bei flickr die ersten Hits zu der Tag-Kombination „das nuf & Schweißflecken“
Während ix liest, warte ich auf mein Stichwort: „fällt er vom Fahrrad runter.“ Als er sagt „fällt er vom Fahrrad runter.“, will ich mit meinem Text beginnen.
Leider haben meine nassen Hände den Ausdruck des Tintenstrahldruckers verschmiert. Mein Mund ist so trocken, dass ich nichts sagen kann. Lediglich ein kehliger Laut entfährt mir.
Dann wache ich auf.
Alles war nur ein Albtraum und ich habe tatsächlich geschafft, weder zu fallen noch anderweitig unangenehm aufzufallen.
Der Abend war perfekt!
Vielen Dank an die Mitlesenden, Frau Schwandroneuse (die mich tatsächlich mit Kokosriegeln rettete) und alle Gäste, die nicht mit faulem Obst geworfen haben.
Ganz besonderer Dank natürlich an das Handelsblatt.
Es erfüllt mich mit großer Freude, dass ich meine Freunde K., T. und N. nicht mehr wie 2004 täglich zwingen muss, meinen Blog zu lesen, sondern dass es Freiwillige gibt, die jeden Tag kommen (Auch wenn es manchmal über google zu den Anfragen: „krankheit gorilla popo, „hässliche puppe schlagen“ oder „chef hängebauch wegmachen soll“ ist).
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Morgen schreib ich wieder was.
Vielen Dank an das Handelsblatt und speziell an Thomas Knüwer.
Meine erste Lesung hat großen Spass gemacht. Jetzt falle ich erst mal müde ins Bett.
…
Weitere Spuren:
Gibt’s noch mehr Meinungen?
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War jemand schon mal an der polnischen Ostsee und kann mir was empfehlen?
Wahlweise auch irgendwas anderes im 400 Kilometer Radius um Berlin.
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Ich arbeite derzeit an einem System der Zweitschlüsselhinterlegung, welches quasi sicherstellt, dass im Notfall der Zweitschlüssel tatsächlich verfügbar ist.
Wenn man achtlos den Schlüssel beispielsweise beim Nachbarn hinterlegt, so missachtet man nahezu fahrlässig bestimmte Regeln der Logik, die beim genauen Durchexerzieren ergeben, dass der Schlüssel im Fall der Fälle nicht verfügbar sein wird.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Nehmen wir an, ich hätte meinen Zweitschlüssel bei meinem Nachbarn hinterlegt und vergesse meinen Erstschlüssel eines morgens in Eile an meinem heimatlichen Schlüsselbrett. Die Chance, dass mein Nachbar am Abend, wenn ich feststelle, dass ich den Schlüssel vergessen habe, zuhause ist, ist fünfzig zu fünfzig (da/nicht da). Nach Murphys Law tritt der zweite der beiden Fälle ein. Schlimmer noch; der Nachbar hat ihn just am gleichen Tag vergessen. Er wiederum hat seine Backuplösung bei seiner Freundin hinterlegt, die leider – wie der böse Zufall es will – gerade im Radio eine Spontanreise nach Mallorca gewonnen hat. In der Eile vergisst auch sie den Schlüssel. Ihren Ersatzschlüssel hat sie dummerweise bei mir hinterlegt. Da stehen aufgrund einer Unachtsamkeit gleich drei Leute vor einem Problem. Man könnte das Beispiel auch im größeren Rahmen weiterspinnen. Das schenke ich mir jedoch an dieser Stelle, denn im Grunde wollte ich eines zeigen: Es ist unvernünftig und unsicher den Ersatzschlüssel bei jemanden zu hinterlegen, den man kennt. Denn meistens hinterlegen diese jemande ihre Schlüssel wiederum bei anderen jemanden, den man auch kennt. Da sich bekanntlich alle Menschen der Welt über eine Kette von maximal sechs Leuten kennen, sind auch die Schlüssel über solche Ketten weltweit verteilt.
Moment mal, das heißt, ich kenne über eine Kette von sechs Leuten, jemanden, der den Hausschlüssel von Robbie Williams hat?
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Ich weiß gar nicht, warum sich alle solche Sorgen um Deutschland machen. Ich meine was, braucht Deutschland denn?
Ich glaube, das ganze Gejammere ist rein psychischer Natur. Es liegt uns in den Genen. Das hat schon Goethe gewusst.
Die Gesellschaft überaltert. So what? Mein Bekanntenkreis vermehrt sich derzeit exponentiell.
Vor gut zwei Jahren sah das noch ganz anders aus. Da waren wir Frauen noch nicht dreißig und versuchten uns dem Erwachsensein zu wiedersetzen indem wir uns Hello Kitty Täschchen kauften, Zöpfe flochten und beinahe minderjährige Liebhaber hielten. Das brauchte nicht mal sexuell die erhoffte Jugend. Nun, es sei denn, man möchte Ejaculatio praecox als Jugend verstehen. Doch es half kein rosafarbener Nagellack, keine Mädchenzeitschriften und keine Modeverwirrungen. Sich die Jeans in die Stiefel zu stopfen, macht eben nicht jünger, sondern lässt Dreißigjährige wie traurige Presswürste aussehen.
Während wir uns noch Faltencremes und Verjüngungsmasken ins Gesicht pinselten, begann der biologische Big Ben zu schlagen und hex hex 70% waren plötzlich schwanger. Die anderen 30% redeten sich weiterhin ein: Ach, für Kinder ist es jetzt noch viel zu früh etc pp.
Doch wenn man dann eine schwangere Freundin sieht, wie sie rotbackig und kugelrund auf einen zuwatschelt, geht das Herz auf, die Hormone zerplatzen wie Kohlensäure im Mineralwasser und beprickeln die Sinne. Man rennt nach Hause und schwärmt dem Mann von den Freuden des Kinderbekommens vor. Tick tick tick.
So manche bekommt sich durch fadenscheinige Argumente in den Griff, doch schon bei der nächsten rundbäuchigen Dame geht die aktive Verdrängungsarbeit von vorne los.
Wenn die pausbackigen Zöglinge erst mal geboren sind und einen zahnlos angrinsen, da hilft auch keine Ratio mehr.
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Zugreisen bringen immer Abwechslung: In einer 4er Gruppe betreten wir das Abteil. Eine seltsam gekleidete Dame sitzt bereits da und lächelt uns ledertaschig an. Ihre Gesichtshaut krünkelt sich in viele tausend Falten.
Wir grüßen alle artig und setzen uns dazu. Die Kollegin neben mir holt ihr Handy aus der Handtasche um jemanden anzurufen. Daraufhin bekommt die durchgebratene Dame ein nervöses Zucken im Auge.
„Ohhhhhh“, stöhnt sie „Neeeee, Handy, ohhhh ohhh ohhh! Ganz, ganz schlecht! Können sie das bitte ausmachen?“
Meine Kollegin schaut sie verdutzt an.
„Wissen sie ich habe schlimme Handyallergie. Schlimm! Ganz schlimm! Bitte alle die Handys ausmachen!“
Jetzt richten sich acht irritierte Augenpaare auf sie.
„Ja wissen sie, hier da schauen sie, das Schild, das heißt keine Handys heißt das. Jawohlll keine Handys! Ich hab doch so ne schlimme Allergie!“
„Gnädige Frau, das Schild bedeutet Handys leise stellen und nicht telefonieren aber nicht Handy ausstellen.“
„Ich, ich, ich muss darauf bestehen. Ich ahhhh ahhh es fängt schon an. Ich bekomme schlimme, schlimme ahhh ahhhh AHHHHHH Schmerzen!“
Wir zucken unisono die Schultern und stellen unsere Handys aus.
Ein weiterer Kollege klappt sein Laptop aus. Die Frau in Ballonseide richtet sich kerzengerade in ihrem Sitz auf. „Nein, nein, nein! Keine Computer. Computer sind das allerallerallerschlimmste b b bbb bbbitte stellen sie den sofort aus! Ich ahhhh ahhh … die Strahlen, die Strahlen!!!“
„Da stahlt nichts, sind doch keine Bildröhren.“
„D d d doch. Schnell, schnell ausmachen. Ich ich ich halte das nich aus!!!“
Der Kollege schaut zweifelnd und dann mitleidig und stellt auch den Schossrechner aus. Die folgenden 300 Km bekommen wir dann die Genese und Ätiologie der Krankheit geschildert. Das war hundert Mal schlimmer als ohne Handy und Laptops zu fahren.