Der wahrhaftig existierende Hipster

Es ist 6.15 Uhr an einem Montag Morgen. Ich warte auf die U-Bahn. Ich fühle mich müde und erschöpft. Am Vortag bin ich mit einem Buch früh ins Bett gegangen und schon nach 50 Seiten werden mir die Augen so schwer, dass ich das Licht ausmache und um 21.00 Uhr tief und fest schlafe. Als Ausgleich wache ich um kurz vor 4.00 Uhr auf. Es gelingt mir nicht mehr einzuschlafen. Zwei Stunden später bin ich müde. Zu müde für alles. Ich ziehe mich lustlos an, trinke einen Kaffee, suche meine Kopfhörer und stehe schließlich musikhörend am Bahngleis und betrachte die anderen Wartenden.

Mein Blick fällt auf einen außergewöhnlich großen Mann mit Bart. Sein Bart ist dunkel und voll. Ein bißchen zu lang für meinen Geschmack aber sehr prachtvoll. Tatsächlich ist „prachtvoll“ das Wort, das mir zu seinem Bart einfällt. Den Falten in seinem Gesicht nach zu urteilen ist er über vierzig. Er hat ganz wunderhübsche Falten. Fast so wie Brad Pitt, dessen Tränensäcke ich echt sexy finde. Er trägt einen Undercut. Dieses Wort kenne ich nur, weil ich es irgendwo im Internet gelesen habe. In seinen Ohren weiße Ohrstöpsel. Er hört regungslos Musik. Seine dunkelgraue Jeans ist nach oben gekrempelt. Sie hängt tief, der Schnitt ist gerade, gehalten wird  sie von einem schwarzen Ledergürtel. Man sieht seine Unterhosen – besser gesagt: Boxershorts. Am Gummiband steht tatsächlich Calvin Klein. Ich überlege, ob ich das albern finde. Seine Füße stecken in Sneakern. Er trägt keine Socken. Als ich später den Begriff Hipster google steht da „Shoes without socks: to say – I’m aware of convention but I reject it.“

Die U-Bahn fährt ein. Da die S-Bahn heute nicht fährt, ist sie sehr voll. Wir quetschen uns zu den anderen. Der Typ hält sich an einer der oberen Stangen fest. Ich komme da nur ran, wenn ich meine Arme gerade ausstrecke. Er ist so groß, dass er seinen Arm beim Festhalten anwinkeln muss. Er trägt eine schwarze Steppjacke. Ich betrachte die Rauten und denke daran, dass ich diese Art Stoff das letzte Mal bei meiner Mutter auf dem Bett liegen sah. Unter seiner Jacke sehe ich ein weißes T-Shirt mit Aufdruck, den ich nicht vollständig entziffern kann, weil er seitlich steht. Es ist kurz. Weil er seinen Arm nach oben streckt, sieht man ein winziges Stück seines flachen Bauchs.

„Ob dem nicht kalt ist?“, ist mein erster Gedanke und ich muss lachen. Ich bin so eine Mutti geworden.

Der Typ sieht genau genommen aus wie aus einem Hipster-Magazin ausgeschnitten. Ich finde faszinierend wie jedes Detail stimmt. An seiner Seite sieht man ein großflächiges Tattoo.  Seine Ohren haben Tunnel. Ich bin zu alt, um Tunnel schön zu finden. Ich hab nur einmal Tunnel gesehen, bei denen ich dachte: das macht Sinn. Die hatten ungefähr 5 cm Durchmesser und in dem Ring war eine Batman-Fledermaus zu sehen. Ich hab mir vorgestellt, wie man in der Dunkelheit hinter der Trägerin steht und ihre Batman-Tunnel mit einer Taschenlampe anstrahlt, so dass der Schatten auf die gegenüberliegende Hauswand fällt.

Der bärtige Mann hat keine Fledermäuse in den Tunneln. Sie sind nicht übertrieben weit gedehnt und es sieht zu seinem Look sehr stimmig aus. Ich grüble, ob es erst diese Menschen gibt und die Zeitungen dann über sie schreiben oder ob die Zeitungen solche Menschen erfinden und bestimmte Menschen das so toll finden, dass sie los ziehen, sich die entsprechenden Accessoires besorgen und dann mit einer Abbildung zum Frisör gehen, um sich entsprechend stylen zu lassen.

Der Mann, der so aussieht wie eine Fotografie, sieht in all seiner Inszeniertheit wirklich unfassbar toll aus. Unbewusst prüfe ich meine Spiegelung im U-Bahnfenster. Der Pony sitzt schief und auch sonst sehe ich echt nicht so toll aus. Während ich mein Spiegelbild betrachte, sehe ich eine Frau hinter mir, die scheinbar das selbe tut. Ich drehe mich um und mir fällt auf, dass sie ungewöhnlich gerade steht und ebenfalls diesen Mann anschaut. So wie die Frau daneben und die daneben und die daneben. Ein seltsamer Anblick. Normalerweise starren alle ohne Fokus vor sich hin, lassen die Schultern hängen oder tippen in ihre Telefone. Ich stehe aber in einem U-Bahn-Abteil mit Damen, die ihren Rücken gerade durchgestreckt und ihre Bäuche eingezogen haben. Eine zieht ihren Lippenstift nach. Um 6.18 Uhr. So lange kann es nicht her sein, dass sie den Lippenstift drauf gemacht hat.

Der Typ indes schaut weiter in sein Telefon und blättert seine iTunes Bibliothek durch. Er scheint nichts von dieser Szene mitzubekommen.

Wir kommen an der Endhaltestelle an. Die Türen öffnen sich, der Mann zieht den Kopf ein und tritt auf den Bahnsteig. Dann verschwindet er mit dem Menschenstrom. In der U-Bahn höre ich ein Ausatmen. Vielleicht war es auch ein kollektives Seufzen.

45 Gedanken zu „Der wahrhaftig existierende Hipster“

  1. Irgendwo habe ich von den tiefhängenden Hosen mal die faule Variante gesehen, wo die Jeans an der Unterhose ab Fabrik festgenäht war.
    Ich persönlich bin bei sowas immer in Versuchung, einmal kurz an der Hose nach unten zu ziehen…

    So wie sich das liest hätte ein kleiner(er) Mann bei komplett identischem Auftreten wohl keinen derartigen Effekt gehabt?

    Interessant bei Herausputzen finde ich persönlich die Goths (männlich und weiblich), die kriegen das finde ich im Schnitt am Besten hin.

  2. Leute mit „Accessoires“ gab es ja schon immer. Heute nennt man sie eben Hipster. Früher fand ich die immer lächerlich, speziell Männer. Ich dachte, ha, so beeindrucken die doch niemanden, aber doch, das tun sie. Allerdings glaube ich, liegt es nicht mal dran, wie sie sich kleiden und schmücken, sondern einfach daran, dass sie eben attraktiver sind als andere. Die wissen das auch, also trauen sie sich, sich zuzuhängen wie ein Weihnachtsbaum. Statte ich mich auch so mit Accessoires aus und lasse mir ’nen Vollbart stehen, sehe ich immer noch genauso bescheuert aus wie vorher. Das „Fundament“ macht den Unterschied, nicht die Tattoos, Bärte, unbesockten Füße, etc.

    1. Da würde ich widersprechen. Nicht jedes beliebige Accessoire macht jeden beliebigen Menschen attraktiv, aber ich finde, bestimmte Menschen sind einfach „Typen“ und das kann (jenseits der „Normschönheit“) auch sehr attraktiv machen.

      1. Na so hab ich’s ja im Prinzip auch gemeint. Manchen steht all der Kram einfach, manche sehen damit lächerlich aus. Andere müssen sich nicht mit Accessoires vollhängen und wirken, schlicht, wie sie sind, trotzdem attraktiv. Und bei wieder anderen will eben gar nichts so recht klappen. Muss es ja auch geben.

      1. Ohja, der ist schön…

        Gut ist ja, wenn das nur ein Lichtstreif ist, der die Stimmung aufhellt und nicht durch „Oah, wie seh ich denn aus… egal, da käme ich in hundert Jahren mit Jillian Michaels nicht hin!“-Bridget-Jones-Verzweiflung die Laune runterzieht.

        Aber in die Verlegenheit komme ich hier auf’m Acker ja gar nicht erst.
        Es sei denn, demnächst werden olivgrüne, an den Knieen gestopfte Overalls mit Kuhkackespritzern hip

  3. Geht es nur mir so oder möchte noch jemand nicht, dass die Hipster dann ihre unbesockten Füße nach einem Tag Arbeit aus den Schuhen holen?

    Ich kann mir nicht helfen, ich finde Hipster unglaublich albern…

  4. ******************KOMMENTAROMAT**********************
    Wunderschön geschrieben
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    Ich liebe diese Gesamtkunstwerke (nicht nur die Hipster) morgens in der U, noch nicht vom Tag zerstört.

  5. ******************KOMMENTAROMAT**********************
    Gerne gelesen
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    Ich bin bei solchen Menschen immer hin- und hergerissen. Einerseits finde ich den Aufwand so albern und kann mir das gar nicht für mich vorstellen, andererseits hat eine konsequente Inszenierung oft eine überraschend starke Wirkung auf mich, egal ob jetzt punkig oder Business-Look.

  6. Ich glaub, den kenn ich. Oder zumindest einen, der genauso aussieht (und wirkt). Gibt es in Berlin wahrscheinlich mehr als einen von.

    These: Es ist für Männer viel einfacher als für Frauen, so hipstermäßig gut und aufgeräumt auszusehen. Insgesamt benötigen sie dazu weniger Accessoires und kein Make-Up.

    Es gibt zwar auch unfassbar gut angezogene und -aussehende Hipsterfrauen, jedoch ahne ich bei denen immer, wie viel Mühe dahintersteckt.

  7. Toll beschrieben. Kennt bestimmt jeder, diese Situation – sowohl mit Männern als mit Frauen. Und wenn man das, wie ich heute, nach einem Tag erfolglosen frustvollen Jeans-Shoppings liest, wird man auch immer ein bisschen neidisch.

  8. Ist wirklich ein Phänomen, gerade hier in der Stadt.
    Hipster, die ihre ironischen Accesoires mit einer derartigen Ernsthaftigkeit tragen, dass es dann doch eher albern wirkt. Vor allem wenn vom Vollbart über den bedruckten Beutel bis zum passenden Getränk wirklich ALLES dran ist.
    Ich sehe aber selten Hipster-Männchen, die solche Blicke von Frauen auf sich ziehen..

  9. ******************KOMMENTAROMAT**********************
    Made my day
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    Ich liebe deine Geschichten und die Art und Weise, wie du sie erzählst! Grüße aus HH

  10. Das war mir schon immer ein Rätsel, Männer die für mich total albern aussehen und damit aber beim weiblichen Geschlecht super ankommen. Früher waren es glänzende Schlaghosen und Gel in den Haaren, heute Bärte und Wollmützen im August, sowie T-Shirts Ende Oktober.

    Was ich mich immer frage: Rasieren sich solche Typen eigentlich halbsabwärts gemäß dem allgemeinen Trend (also überall) und kommt man sich dabei nicht ungemein albern vor?

  11. Oh das hast du so schön geschrieben. Ein Moment, der wunderbar festgehalten wurde. Man dachte, selbst dabei gewesen zu sein.

    Solche Augenblicke machen den Tag erst ganz.

    Liebe Grüße!

  12. Hi,

    Meine Mutter sagte immer: „Einen schönen Menschen kann nix entstellen.“ Gilt sogar für Tunnel inne Ohren.

    Ich habe es auch gern gelesen. Wie immer.

    Bei uns sehen die Hipster meist eher nach Tech-Nick aus. Gilt der überhaupt als Hipster? Wahrscheinlich eher nicht…

    LG
    Esther

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