In fast jeder Familie gibt es die Tradition, dass die Mutter Jahr für Jahr die Geschichte der Geburt am Geburtstag des Kindes berichtet. So kommt es, dass man spätestens nach zehn Jahren Berichterstattung das Gefühl hat, man weiß wirklich jedes Detail über diesen Tag.
Als meine Mutter beispielsweise mutmaßte, ich würde nun bald geboren werden, packte mein Vater sie voller Elan in den Fiat 500 und raste mit Höchstgeschwindigkeit – sämtliche roten Ampeln missachtend – ins Krankenhaus. Dort verabschiedete er vorfreudig seine Ehefrau und bat sie, ihn telefonisch zu informieren, sobald ich geboren sein würde.
Meine Mutter bekam ein bisschen Lachgas und zwanzig Stunden später erblickte ich das Licht der Welt. Ich war gelb und es war der heißeste Tag Mitte der 70er Jahre.
Pünktlich um 15.09 Uhr ruft mich meine Mama nun jedes Jahr an und erzählt diese Geschichte. Jahr für Jahr für Jahr.
Jetzt habe ich eine eigene Geschichte, die ich meinem Kind erzählen kann. Wunderbar! Und noch besser. Ich kann sie auch meiner Mutter erzählen. Jahr für Jahr für Jahr!
An meiner Geschichte zeigen sich übrigens sowohl Charakter als auch Zeitgeistunterschiede. Zur Geburt fuhr ich nämlich mit der Tram. Der Geburtszeitpunkt war exakt auf den Terminkalender des vielbeschäftigten Vaters abgestimmt und ich erledigte das Ganze, gerechnet von der ersten Wehe bis zum Erscheinen des Kindes, in 2.5 Stunden. Die Hebamme hatte 13 Uhr vorhergesagt, doch da versagten meine deutschen Gene und ich gebar mit fünf Minuten Verspätung.
Kind 1.0 sagte beim Anblick des Geschwisters: „Hätte ich mir nicht so zerquetscht vorgestellt, aber Hauptsache der Charakter stimmt.“
Dies ist die Geschichte, die ich Kind 2.0 bis an mein Lebensende erzählen werde.
Auf die Frage nach meiner Geburt hat meiner Mutter immer nur geantwortet: „Oh Gott erinner mich nicht daran!!“
Meiner Mutter war wohl nur wichtig, dass ich an ihrem Geburtstag zur Welt komme. Das überschattet alle Geburtsgeschichten.
Mit unserem alljährlichen Ritual kann ich somit sehr gut leben.
„Herzlichen Glückwunsch.“
„Danke, gleichfalls.“
Nur der Papa – der braucht immer zwei Geschenke.
„… es war Samstag und ich und dein Vater hatten getrunken …“
Die Story kennt wohl jeder, jeweils ein bisschen individuell halt. Ich muss mir jedes Jahr anhören, dass es doch praktisch erst gestern gewesen ist wie ich da so sleig im Glasbettchen der Säuglingsstation geschlafen habe… hachja.
Das Geburtsvideo toppt ja mal alles.
Meine Mutter ist etwas abwechslungreicher. Die erzählt nur jedes zweite Jahr die Geschichte meiner Geburt. Die anderen Jahre ist die Empfängnis dran.
„Ach, Kind, ich weiß es noch wie gestern. Es war Samstag und dein Vater hatte frei…“
Aha, ist das so? Während Männer traditionell damit angeben, wer den größten hat, prahlen Frauen damit, welcher es am schnellsten kommt? (das Kind)
Die deutschen Gene sollten übrigens nach Präzision rufen: Die Geschichte muss jetzt einmal schriftlich festgehalten werden – dann kann man bei den jährlich folgenden Vorträgen die Abweichungen der oral history zur Geschichtsschreibung kontrollieren, und es beim nächsten mal besser machen.
Oder ist das wesentliche bei dieser alljährlichen Repetition, dass immer neue unbekannte Details hinzu kommen?
Joa, so Tradiotionen pflegen ist auch was nettes. Deine armen Kinder. ;)
das ist eigentlich nur zu toppen durch die geschichte, die meine freundin zum 30. geburtstag erlebt hat. ihre eltern fuhren mit ihr in ein schickes wellnesshotel. beim abendlichen diner in einem goumetrestaurant packte die mutter ein mehrseitiges elaborat aus, das sie sehr laut vorlesend und immer mal abschweifend noch lauter kommentierend zum besten gab: die geschichte der geburt meiner freundin aus der sicht ihrer mutter.
meine freundin sagte mir, das wäre der größte horror, den sie je mit ihrer mutter erlebt hätte und sie wäre einiges gewöhnt. beim hauptgang war man dann glücklich beim blasensprung angekommen. eine weitere stunde schilderung von austreibung und wehen drohte.
sie hat die sache dann mit einiger mühe abgebrochen. mama war entsprechend pissed. wer hört schon gern den satz: „es ist mein geburtstag und du redest nur von dir!“ („Ja aber, wir haben dich doch eingeladen kind!“)
noch schlimmer ist nur die jährliche vorführung des geburtsvideos.
woraus man schließen kann, daß derartige offenheit in meiner familie nicht üblich ist…
“Hätte ich mir nicht so zerquetscht vorgestellt, aber Hauptsache der Charakter stimmt.”
*lol* Echt?
Und für die Headline ist der Grimme 2008 fällig! :)
„…und, Kind, wenn du selber einmal Kinder hast, wirst du mich verstehen…“
Irgendwie schwingt in den meisten Geschichten hier immer mit, dass man Sie um irgendwas beschissen hat. Oder ist das ne klassische Übertragung?