„Mein Freund hat einen Pullover, den finde ich furchtbar. Ich habe es ihm aber nie gesagt.“ oder „Obwohl meine Oma eine sehr liebe Frau ist, habe ich ihr als Kind Geld gestohlen.“ oder „Ich habe eine Affäre mit dem Freund meiner Schwester, das macht mir ein wirklich schlechtes Gewissen!“. Das sind Sätze, die man gar nicht hören möchte. Sie sollten geheim bleiben. Die meisten Menschen haben solche dunklen Geheimnisse. Glücklicherweise sprechen sie nicht darüber. Jedenfalls so lange man nicht den Satz: „Ich studiere Psychologie…“ ausspricht.
Kaum ist dieser Satz verhallt, verwandeln sich Menschen in Abgründe und sie haben nichts dringlicheres zu tun als einem genau jene Geheimnisse zu erzählen. Das ist nicht immer angenehm.
Dieser Effekt hat meine frühe Adoleszenz beinahe versaut. Glücklicherweise bin ich irgendwann darauf gekommen auf Partys auf die Frage: „Was machst Du so?“ mit „Ich bin Fleischereifachverkäuferin“ zu antworten. Zwar machte mich das nicht zum begehrten Gesprächspartner, es sorgte jedoch zumindest dafür, dass die Menschen ihre Geheimnisse freundlicherweise für sich behielten.
Ich muss sagen, die Neigung wildfremden Menschen die intimsten Details seines Lebens zu erzählen, war mir bislang unbegreiflich und fremd.
Jedenfalls war es mir bis vor einigen Wochen ein totales Rätsel, was mit den Menschen passiert, die sonst so viel Energie darauf verwenden nach außen alles perfekt scheinen zu lassen, wenn sie erfahren, dass ich irgendwann mal Psychologie studiert habe und mir unabhängig davon ob sie mich seit Jahren kennen oder vor zehn Sekunden kennen gelernt haben, all ihre schmuddeligen Seelenabgründe offenbaren.
Doch neulich hatten wir Besuch von der Mutter eines Freundes von der ich wußte, dass sie Psychologin ist. Da saß sie nun an unserem Tisch, unterhielt sich mit uns und es war als wirbelte um sie herum eine Erzählmiralles-Aura. Sie saß da, lächelte und tat eigentlich nichts. Doch in mir stieg dieses Gefühl auf, ihr mein ganzes Leben, ja jedes Detail offenbaren zu wollen. Nein, nicht nur leise davon berichten, am liebsten hätte ich mich auf den Boden geschmissen und alles ausgeschrien. All die Gefühle und Gedanken, die man manchmal hat, die man aber nie sagt, weil das sozial nicht erwünscht ist. Am liebsten hätte ich mich an ihren Hals geschmissen und ihr Gesicht zu mir gedreht, um sicherzugehen, dass sie mir zuhört, wenn ich von den letzten 36 Jahren meines Lebens berichte. Sie hatte so eine gütige und verständnisvolle Ausstrahlung, ich hätte mich auch gerne auf ihren Schoß gesetzt und hätte mich umarmen lassen wollen. So wie die Bekloppten in den amerikanischen Filmen, wenn sie auf Psychologen treffen.
Dank meiner übermenschlichen Fähigkeit meine Gefühle robotermäßig im Griff zu haben, kaute ich stattdessen unauffällig meine Kartoffeln weiter und flötete mir innerlich ein Liedchen, UM MICH ENDLICH ZU BE R U H I G EN!