Berlin, mein schmuddeliger Freund

berlinAufgewachsen bin ich in einer Kleinstadt (eigentlich einer „großen Kreisstadt“), in der jeder jeden kennt – zumindest entfernt genug, um über ihn zu sprechen. Ich war die Tochter des Italieners und noch heute kennt jeder meinen Namen. Mein Vater, der Italiener mit dem roten Sportauto, wird auch noch 25 Jahre nachdem ich dort weg gezogen bin, angesprochen, ob er nicht mein Vater sei und neugierig gefragt, was ich denn so mache.
Später ziehe ich in ein Dorf und als ich mich ummelden gehe, sagt die Beamtin „Das wird aber auch Zeit, sie wohnen jetzt schon beinahe drei Monate hier!“. Das Ummeldeformular ist fast schon vorausgefüllt. Im Grunde muss ich nur unterschreiben.

Zum Studieren schickt mich die ZVS nach Bamberg. Köln und Berlin habe ich als Wunschstädte angegeben.
Bamberg ist wie eine Playmobilstadt. Kleine, bunte Häuser, manche schief. Selbst die pompösen Barockbauten sehen aus wie aus verblichenem Plastik. Pastelfarben und oft sind die Ornamente der Fassaden nur auf die Oberfläche gemalt.
Vor allem ist es sauber. Alles ist sauber. Die Häuser, der Boden, die Wände. Alles eben.
Mein Professor, der aus Berlin kam, sagte einmal: „Immer wenn ich Berlin vermisse, würde ich gerne mit einem Edding durch die Innenstadt laufen und alles taggen. Dann wäre es hier fast so schön wie in Berlin.“

So wie die Städte waren, so kamen mir die meisten Menschen vor. Hochglanzpoliert von außen. Alle ansehlich. Alle redlich. Die Kleidung fleckenlos und gebügelt. Sehr darauf ausgerichtet was MAN tut oder was MAN nicht tut. Mit parallelen Lebensläufen. In der Studienzeit gab es noch die ein oder andere Freiheit, ein Auslandsaufenthalt vielleicht, ein Paar Diskobesuche. Das wars.
Es wird geheiratet, die Eltern der meisten stellen einen Teil des Erbes zur Verfügung, es werden Häuser gebaut. Dann kommt die Heirat und die Männer gehen arbeiten. Die Frauen hingegen, die bleiben mit den Kindern zuhause, Kinderbetreuung gibt es frühstens ab drei Jahren. Richtig findet man es jedoch nicht die Kinder fremdbetreuuen zu lassen. Wofür hat das Kind die Mutter? Wofür hat das Haus den großen Garten?

Ich habe mich falsch gefühlt bis ich nach Berlin kam. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich mich gleich wohl gefühlt hätte. In erster Linie war ich überwältigt von Berlin und bin eigentlich ohne Freundinnen gar nicht vor die Tür. Alles war zu groß und zu viel. Die Stadtteile, die Menschen, die Vielfältigkeit. Alles war anders. Schmutzig, getagged, voller Graffiti. Nur wurde das nicht überstrichen.
Ich habe mich in Berlin auch nicht richtig gefühlt, aber eben nicht mehr auffallend oder unpassend. Ich war nicht mehr die mit den roten Haaren. Das hat mir schon gereicht.

berlin2Bald bin ich 14 Jahre in Berlin und ich möchte wirklich nicht mehr weg. Ich mag Berlin so sehr, weil es hier ein Plätzchen für jede Existenzform gibt. Von Berlin-Moabit bin ich nach Mitte gezogen und in der Zwischenzeit lebe ich in Friedrichshain. Wenn ich Heimweh nach Westdeutschland habe,  gehe ich in die Spandauer Fußgängerzone oder laufe ein bisschen durch Wilmersdorf. Gemessen am Berliner Spektrum bin ich ganz schön spießig. Ich bin verheiratet, wir haben Kinder, beide berufstätig. Mein Mann bügelt sogar seine Hemden.

Aber sobald wir unsere Lebensblase verlassen, komme ich mir vor wie dieser eine Junge von den Peanuts, der seine schmuddelige Decke hinter sich zieht, die kleine Dreckwolken in die Luft pustet. Oder wie die Flodders.
Es ist als, ob wir das Chaos und die Berliner Schmuddeligkeit mit uns ziehen. Ich finde uns plötzlich auffallend, laut und chaotisch.
Für ein Paar Tage ist das OK und ich erfreue mich in Heringsdorf oder Bamberg, wenn wir dort zu Besuch sind, der sauberen Fassaden. Am Ende bin ich aber immer wieder froh, nach Berlin zurück zu kommen.
Berlin ist für mich ein schmuddeliger Freund, den ich sehr gerne habe. Berlin ist für mich so unverstellt, dass ich mich ermutigt fühle auch so sein zu können wie ich mich fühle – wie ich bin. Berlin ist wie ein Freund, der einen gerne hat, auch wenn man gerade erst aufsteht, die Haare zu Berge stehen und man dringend mal Zähne putzen müsste.

berlin3

 

Du bist nicht schön
Und das weißt du auch
Dein Panorama versaut
Siehst nicht mal schön von weitem aus
Doch die Sonne geht gerade auf
Und ich weiß, ob ich will oder nicht
dass ich dich zum Atmen brauch

Peter Fox, Schwarz zu blau