Langer Jammerartikel oder schreiben sie doch mal was persönliches

Eine bestimmte Vorstellung hat man von fast allen Dingen, auch wenn man sie gar nicht kennt. Schwanger sein z.B. habe ich mir so vorgestellt:
Jeden Tag gehe ich in eine Konditorei und bestelle für mich und meine Freundinnen Sahne- und Buttercremetorten. Mittags esse ich große Portionen Nudeln süß-sauer und trinke dazu Sauerkrautsaft. In den Saft tunke ich als kleinen Nebensnack gezuckerte Biskuitlöffel.
Nachdem die Geschäfte geschlossen haben, schicke ich meinen Freund fort, um mir eine ganz bestimmte Eissorte zu holen, die es eigentlich nur im KaDeWe gibt. Wenn er entnervt nach drei Stunden zuhause ankommt, schlafe ich tief und fest und habe alternativ drei Bratwürstchen verdrückt.
Tatsächlich ist das so oder so ähnlich für 90% aller Schwangeren.
Neben anderen unangenehmen Erscheinungen gibt es für 0,03 Prozent aller Frauen in guter Hoffnung noch ein besonderes Schmankerl. Es heißt Hyperemesis Gravidarum.
Hinter dem vornehm klingenden lateinischen Begriff verbirgt sich frei übersetzt das Phänomen viel kotzen in der Schwangerschaft.
Dieses viel sprengt allerdings jedes viel, das mir vorher bekannt war.
Viel bedeutet in meinem Fall ab Woche fünf durchgehend täglich drei bis fünf Mal erbrechen – aber nur an guten Tagen.
Leider waren diese Tage gezählt und es gab weit mehr schlechte Tage, die insgesamt fünf Mal in einem längeren Krankenhausaufenthalt endeten. Solche Tage begannen ohne erkennbare Vorzeichen mit stündlichem Erbrechen und schaukelten sich hoch bis man viertelstündlich den ohnehin leeren Magen wie eine Kröte nach außen stülpt und nur noch Magensäure, Galle, Magenschleimhaut und Blut erbricht.
In diesen Zeiten ist an Essen und Trinken gar nicht zu denken. Und gar nicht bedeutet in dem Fall GAR NICHT. Ich konnte selbst Wasser, Tee oder Brühe keine zehn Minuten bei mir behalten.

Sollte man sich in 48 Stunden über hundert Mal erbrechen, ist ein Gang ins Krankenhaus ratsam.
Dort spielte sich im Wesentlichen stets dasselbe ab.
Ich möchte voran stellen, dass mir die Stressfaktoren im Beruf Arzt und/oder Krankenschwester durchaus bekannt sind. Ferner ist mir auch bekannt, dass es schlimmeres im Leben gibt, als sich eine ungewisse (sicherlich aber nach ca. 40 Wochen endende) Zeit heftig zu Erbrechen. Dennoch sind meine Erfahrungen subjektiv entmutigend und in Kombination mit der körperlichen Entkräftigung zumindest humorraubend.
Die Empfangsdame in der Notaufnahme begrüßt bei Anmeldung stets mit folgenden Spruch: „Erbrechen in der Schwangerschaft ist völlig normal“.
Nach 48 schlaflosen Stunden des Erbrechens ist man leider zu dehydriert, um ihr den letzten Rest Galle auf den Tresen zu kotzen.
Das erste Mal wurden wir in den Warteraum geschickt, wo ich mich vor mehreren anderen versuchte pietätvoll in einen Plastikkotzbeutel zu erbrechen.
Nach einer mir unendlich erscheinenden Zeit, tauchte eine Schwester auf, die mir erlaubte mich hinzulegen. Wort- und erklärungslos wurde ich an einen Tropf angeschlossen und auf eine Station geschoben, wo man mich entnervt fragte, wo denn mein mitbebrachtes Nachthemd sei.
Jedes Mal wenn ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde, fragt man mich immer wieder die selben Dinge. Jede Schwester und jeder Arzt hat ein anderes Formular und obwohl es so praktische Dinge wie den Mutterpass gibt, ist niemand in der Lage von dort einfach abzuschreiben oder Daten aus der abgefahrenen Erfindung Computer zu übernehmen.
Eine Eingangsanamnese gibt es nicht, weitere Erläuterungen sparte man sich ebenfalls. Erst nach gut 24 Stunden und ca. sechs Infusionen, bei denen es ebenfalls niemand für nötig hält grob zu erläutern, was da überhaupt in mich reinfließt, habe ich das Gefühl wieder einigermaßen klar denken zu können. Essen, Trinken oder Aufstehen sind die ersten Tage leider immer noch weitab jeder umsetzbaren Möglichkeit. In der Regel erbreche ich mich immer noch jede halbe Stunde.
Drei Tage später erbreche ich mich nur noch drei Mal am Tag und kann wieder trinken und suppenähnliche Dinge essen. Ich werde mit einem freundlichen Brief entlassen, in dem steht, dass ich unter Hyperemesis leide, dass es mir jetzt aber wieder super geht, eine Folgebehandlung unnötig sei und ich mit Antimetika (=Antibrechmittel) behandelt wurde.
Neben dem alltäglichen Erbrechen ist zu erwähnen, dass der Kreislauf ebenfalls destabilisiert. Ein Blutdruck über 90/60 ist sehr selten und Treppen steigen strengt mich so an, dass ich ohne Pausen nicht in den vierten Stock komme. Leichte Ohnmachtsanfälle gesellen sich dazu. An Alltag in dem Sinne, dass ich mit meiner Familie essen oder sogar einkaufen oder spazieren gehen kann, ist überhaupt nicht zu denken.
Bis zur 12. Woche hatte ich Hoffnung, dass sich mein Zustand wieder normalisiert.
Der nächste Krankenhausaufenthalt in Woche 15 belehrte mich eines besseren.
Diesmal habe ich ob des Unwillens mich der Krankenhaussituation erneut auszusetzen, zu lange gewartet. Da ich so viel Erbrochen habe, dass ein Elektrolytungleichgewicht in meinem Körper herrscht, bekomme ich zusätzlich heftiges Herzrasen (zu wenig Kalium und Chlorid) und anschließend Muskelkrämpfe (zu wenig Magnesium). Ich kann insgesamt fünf Tage am Stück nichts essen oder trinken.
Neben den Infusionen bekomme ich Tabletten, die – oh Wunder – genau bis zum nächsten Erbrechen, was meistens keine Stunde dauert – den Magen auf umgekehrten Wege wieder verlassen. Auch kommt man auf die Idee mir Magnesium in Verbindung mit Zitronensäure zu verabreichen was sich ganz hervorragend mit der verätzen Speiseröhre und dem blanken Magen macht.
Um 6.30 wird man mit Neonlicht geweckt und muss innerhalb weniger Sekunden aus dem Bett aufspringen, was mit oben genannten Blutdruck ein wunderbarer Trigger für weitere Übelkeit ist. Die Schwestern meckern einen an, dass man sein Erbrochenes nicht regelmäßig selbst wegräumt.
Zusätzlich wird man unter Druck gesetzt endlich wieder Nahrung zu sich zu nehmen. Zwieback ist das mildeste was man haben kann und gleichzeitig ziemlich das unmöglichste was man nach mehreren nahrungslosen Tagen ohne Flüssigkeitsaufnahme zu sich nehmen kann. Eine Suppe oder Brühe soll der Besuch mitbringen. Leichte Kost nach Krankenhausspeiseplan d.h. Käsehacksteak mit Gartengemüse und Kartoffeln. Mir vorzunehmen, den Abstelltisch zu essen, erscheint ähnlich erfolgsgekrönt.
Obwohl ich schon lange über die magische 12. Woche hinaus bin, muss ich mir bei jeder Visite anhören, dass es nach der 12. Woche aufhört.
Weitere beliebte, völlig nervende Tipps sind:
– kalte Milch trinken (ich kann leider nichts trinken, Herr Doktor)
– Tee trinken (ich kann leider nichts trinken, Herr Doktor)
– Buttermilch trinken (ich kann leider nichts trinken, Herr Doktor)
– Brühe trinken (ich kann leider nichts trinken, Herr Doktor)
– auf keinen Fall Milchprodukte zu mir nehmen
– nur kaltes Wasser, keinen warmen Tee trinken (ich kann leider nichts trinken, Herr Doktor)
– trockenes Brot essen (ich kann leider nichts essen, Herr Doktor)

Alles völlig nutzlos, v.a. dann wenn der Magen jegliche Nahrungsaufnahme verweigert. Auch Tipps der Art, man solle zur Kreislaufstablisierung Joggen gehen, kann ich nur mit Unverständnis aufnehmen.
Für mich ist es manchmal zu anstrengend vom Schlafzimmer zum Klo zu laufen, weswegen ich mit Vorliebe in eine niedliche kleine Schüssel neben dem Bett erbreche.
Statt die üblichen Kilos zuzulegen, habe ich bis Ende des sechsten Monats sechs Kilo abgenommen. Noch nie war ich so froh wie jetzt darüber vor der Schwangerschaft kein Hungerhaken gewesen zu sein!
Abgesehen von all den körperlichen Randerscheinungen ist für mich besonders schlimm, dass offensichtlich 9 von 10 Ärzten keine Ahnung von Hyperemesis haben und sich nicht ausmalen können, wie belastend es ist, trotz Schwangerschaft nichts essen zu können, ständig zu erbrechen, kaum schlafen und nicht mehr am Familien- und Arbeitsalltag teilnehmen zu können.
Außerdem gibt es als Schwangere doch eine gewisse Scheu Medikamente einzunehmen. Ganz abgesehen davon, hat mir bislang von den verordneten noch keines geholfen.
Es hilft am Ende also nur, nicht an den nächsten Tag zu denken, sondern einfach an den nächsten Augenblick und es immer bis dahin durchhalten. Immerhin gab bis zum siebten Monat insgesamt neunzehn Tage ganz ohne Erbrechen und dem Baby ging es laut Ultraschall immer gut. Es strampelte und wuchs und nach dem sechsten Monat erhielt ich den Tipp es mal mit Akupunktur zu versuchen. Und was soll ich sagen? Es half! Und nach 42 Wochen wurde Kind 2.0 gesund und munter geboren.
So und jetzt wissen alle warum ich eine kleine Blogpause einlegen musste…