Mittagskind

Schon im Kindergarten trifft man auf so mancherlei Irrglauben.
So brachte ich den Sohn meines Freundes, nennen wir ihn K., vergangene Woche an meinem letzten Urlaubstag in die Kita, als er kurz vor der Verabschiedung mit Tränen in den Augen bat: „Kann ich heute mal Mittagskind sein?“
Mittagskind klang verdächtig nach mittags abholen und da ich noch einiges bei Post, Baumarkt und Co zu erledigen hatte, verneinte ich zunächst.
Darauf folgte bittere Enttäuschung und eine kaum gegenzusprechende Argumentation. Das arme Kind habe ja Verständnis, dass die Erwachsenen ganztägig berufstätig seien und es deswegen immer erst abgeholt würde, wenn es schon dunkel ist. Die anderen Kinder aber, nämlich jene, die von ihren Mamis und Papis lieb gehabt werden, die würden mittags abgeholt werden. Lediglich die Aschenbrödel der Kita blieben bis nach Sonnenuntergang. Ich hätte doch Urlaub und da wäre es doch ein leichtes ihn ein einziges Mal nur zum Mittagskind zu machen.
Natürlich willigte ich weichherzig ein.
Das Kind hüpfte in den Gruppenraum und verkündete dir frohe Kunde und im Weggehen konnte ich hören wie ein Kanon mit fremden Kinderstimmen erklang: „K. ist heute Mittagskind! K. ist heute Mittagskind!“
Ich hatte drei Stunden, um die wichtigsten Dinge zu erledigen. Schnell zur Bank um zu sehen, ob die freundlichen Ebaybieter schon überwiesen hatten, schnell ins Internet, um zu schauen, ob es Neuigkeiten gab, schnell zum Frisör, um sich den in die Augen hängenden Pony kürzen zu lassen.
Der Kontoauszugsautomat war natürlich kaputt. Eine Alternativbank leider nicht in der Nähe. Bei easy internet wurde geputzt und deswegen waren nur zwei von fünfzig Rechnerplätzen verfügbar. Als ich unverrichteter Dinge beim Frisör ankam, hatten sich gerade sieben Damen vor mir in den Laden gequetscht.
Pünktlich um 12 Uhr stand ich wieder vor der Kita und blies mir den langen Pony aus den Augen. Das strahlende Kind schwor mir unter Bezugnahme auf verschiedene Ehrencodices (Pfadfinder- Indianer-, wirklichwirklich, etc.) alle Erledigungen zu begleiten, nicht zu jammern, nicht zu bummeln und sich nicht auf den Boden zu schmeißen, weil es nicht mehr laufen könne.
Fünfzehn Minuten später weinte das Kind, es könne nicht so schnell laufen. Siebzehn Minuten später wollte das Kind stehen bleiben und eine sich drehende Litfasssäule bewundern. Neunzehn Minuten später wollte das Kind ein Würstchen. Einundzwanzig Minuten fragte es, wo denn der Baumarkt sei und schrie mich an, als ich Richtung Süden auf ein Mediamarktlogo deutete. „Ich geheeee jetzt nicht weitaaa, das is kein Baaaaauuuummaaarkt! Da gips nur Compüüüüter!“
Im Baumarkt versteckte sich das Kind im Farbregal und spielte später Krepppapierkegeln.
Dann mussten wir dreißig Minuten hässliche Zimmerspringbrunnen anschauen.
Am Ausgang des Baumarktes schmiss sich K. auf die Strasse weil er drohte zu verdursten, wenn er nicht sofort Limonade bekäme. Ich ließ ihn schreien und ging ein Paar Meter weiter. Als mich herum drehte, redeten von drei Seiten Erwachsene auf K. ein. „Hast du deine Eltern verloren?“.
K. antwortete nicht sondern schrie (eher schreulte).
Als eine Passantin die Polizei holen wollte, schritt ich ein und versuchte K. gut zuzureden. Die Dame fragte K.:“Ist das deine Mami?“ Wahrheitsgemäß brüllte K. „Naaaaaaaiiiiiin“.
Ich verbrachte eine weitere Viertelstunde der Frau zu erklären, dass ich zwar nicht Mami war, dass das Kind aber dennoch zu mir gehörte.
Wir fuhren nach Hause und hatten eine ausführliche Debatte über den Fakt dass es im Winter früher dunkel würde und K. nicht bei Einbruch der Dunkelheit ins Bett müsse, sondern wie gewöhnlich um 20 Uhr. K. widersprach vehement.
Zuhause lud ich die drei Tüten ab. „Du kannst entweder hier unten warten oder aber mit hoch kommen, falls du noch so schlimmen Durst hast.“
K. entschied sich fürs gemütliche Warten und brüllte erst als ich wieder unten war, ich solle sofort nach oben gehen und ihm was zu trinken holen.
Wortlos oder heulend brachten wir den Rest der Erledigungen hinter uns. Dabei trat K. in die größte Hundekackwurst der Stadt, hatte Hunger und konnte fünf Mal nicht mehr laufen.
Um 16.30 Uhr kamen wir wieder zuhause an. Wir hatten vier Stunden für etwas gebraucht was ohne Kind 1,5 Stunden in Anspruch genommen hätte.
Schweigend begann ich die Küchenwand zu streichen.
K. ging in sein Zimmer und kam eine halbe Stunde später heraus um zu fragen, wo sich die Wischlappen befänden.
Ich begleitete ihn, um zu sehen, was ein 4jähriger wohl säubern wollte. Es war die mit Wachsmalkreide beschmierte Wand. Was hätte ich da sagen sollen? Ich male die Wand an und es ist richtig. Er malt die Wand an und es ist böse. So etwas kann man nicht erklären. Also bat ich ihn leicht violett im Gesicht, den Rest der Wohnung zu verschonen.
Ich machte mich am Anschluss daran meinen Kleiderschrank einzuräumen, während K. abwechselnd aß und dann mit essensbeschmierten Händen die Möbel anfasste. Ich bat ihn fertig zu essen und dann Händewaschen zu gehen. Wenige Minuten später erschien K. im Türrahmen. Er hatte sich die halbe Seifenflasche auf die Hände gekippt machte Schaumblasen indem er sie rieb und schmierte sie dann an der Wand ab.
Dieses Verhalten brachte mich in einen emotionalen Ausnahmezustand und ich hob K. hoch, schleppte ihn zum Waschbecken und wusch ihm die Seife von den Fingern. K. schrie dabei dass ich fest damit rechnete, dass einer der Nachbarn Polizei und Kinderschutz alarmieren würde.
Dann stellte ich K. in sein Zimmer, von dem aus er lauthals verkündete, ich sei ein böser, böser, böser Mensch.
Als mein Freund von der Arbeit nach Hause kam und fragte, wie mein Tag war, brach ich in Tränen aus. K. erschien hinter mir und sagte: „Nuf war nicht so lieb, sie war sehr anstrengend heute. Du musst mal mit ihr ein ernstes Wörtchen reden, Papa.“