6. August 2015

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Ein Jahr ist es her und ich weine noch oft. Du fehlst mir. Ich weiß, wenn du könntest, würdest du deswegen mit mir schimpfen. Ich kann es auch nach 365 Tagen nicht fassen.

Der 6.8.2014 war einer der schlimmsten Tage meines Lebens. Meines Lebens. Immerhin kann ich das sagen, denn ich lebe und Du nicht. Wir sind fast gleich alt und haben gut ein Viertel unseres Lebens miteinander verbracht. Ich vermisse dich.

Als ich morgens zu der Unfallstelle fahre, verstehe ich nicht, wieso alles so aussieht wie immer. Warum die Autos einfach fahren. Warum die Fahrradfahrer einfach fahren. Die Fußgänger gehen – so als sei nichts gewesen. Eigentlich müssten sie alle stehen bleiben, wie eingefroren.

Ich laufe zu der Unfallstelle und stecke eine gelbe Rose an das Geisterfahrrad, das dort steht und an deinen tödlichen Unfall erinnert. Dann mache ich mich auf den Weg in die Arbeit. Hastig und auch ein wenig ängstlich, so als ob es heute besonders gefährlich wäre Fahrrad zu fahren.

Als ich im Büro ankomme, muss ich wieder weinen. Du bist am 6.8.2014 nicht angekommen. Aus dem Asphalt an der Stelle, wo man die Fahrräder im Hof anschließen kann, wächst eine gelbe Blume. Ich denke an dich. Vielleicht bist du diese Blume.

Neulich war ich an deiner Wohnung, hab zu deinem Balkon gesehen und eine fremde Frau gesehen, wie sie ihre Blumen goss. Dein Strandkorb war nicht mehr da. An unserem gemeinsamen Arbeitsplatz liegen noch zwei Kaffeekapseln, die von Dir sind. Zwei von vielleicht zwanzig, die es ursprünglich mal waren. Die Markierungen an der Unfallstelle sind vom Regen schon lange weggewaschen.  Die Kerzen und Blumen sind ebenfalls weg, es steht dort eines der weißen Geisterfahrräder, die der ADFC jedes Jahr für die tödlich verunglückten Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer aufstellt.

Ich tue mich schwer mit deinem Verschwinden, mit dem Loslassen. Noch bin ich abwechselnd unfassbar traurig und dann wieder sehr wütend über die himmelschreiende Ungerechtigkeit, über dieses unbegreiflich grausame Schicksal. Bis ich mich versöhnlich fühlen werde, wird noch viel Zeit vergehen.

In Gedanken und im Herzen trage ich dich weiter. So kitschig das klingt. Und ich kann Dir sagen, mein Leben hat Dein Tod sehr verändert. Meiner Verbissenheit in manchen Dingen ist Gelassenheit gefolgt. Ich kann das Unwichtige ziehen lassen und das Gute festhalten. Ich verschwende keine Zeit mehr, ich weiß, was und wer mir gut tut und es fällt mir viel leichter zu erkennen, was mein Leben bereichert und was nicht. Ich kann genießen, verschwenderisch sein, wenn es gerade richtig ist und ich glaube, das kommt auch meinem Umfeld zu gute.

Liebe Freundin, es ist ein Jahr her, ich vergesse dich nicht. Du hast mir so viel gegeben – selbst jetzt noch. Ich danke Dir dafür.

42 Gedanken zu „6. August 2015“

  1. Länger nicht hier rein geschaut…

    2014 scheint kein gutes Jahr gewesen zu sein. Meine Freundin hat am 10.9. den ersten Todestag. Blöder Scheiss, das alles…

    Grade den letzten Absatz kann ich sehr gut nachvollziehen. Man verändert sich, Sachen werden unwichtiger, andere plötzlich viel wichtiger. Bei vielen Sachen denke ich mir, warum nicht vorher schon? Grade bei Sachen, die sie früher genervt haben, die ich jetzt einfach so anders machen. Nicht, weil ich es bewusst entschieden hab, sondern einfach so.

    Ein schlimmes Thema, aber schön geschrieben. Danke!

  2. Pingback: Carolyn Ott-Friesl
  3. Da mein Vater ja 1946 auf seinem Fahrrad von einem LKW überfahren wurde, bin ich als Autofahrerin doppelt, dreifach und mehr aufmerksam, wenn ich abbiege. Altersbedingt kann ich auch nicht mehr ganz so gut gucken wie eine Dreißigjährige – also dauert das Gucken vielleicht 2 Sekunden länger – ich bin schon oft von hinten deswegen angehupt worden. – Die Autofahrer sind derart hektisch, viele setzen wegen einer Sekunde Zeiteinsparung die Straßenverkehrsordnung außer Kraft.
    Die Erinnerung an die Freundin geht zu Herzen.

  4. Ich bin heute dort auch vorbei gefahren. An der Ampel bei rot dachte ich an Dich. Auch daran, wie merkwürdig es ist, an einem solchen Ort zu sein, der eine solche Bedeutung hat für einen anderen Menschen und andere dort vorbei huschen, nichts bemerken. Wie viele Plätze es in dieser Stadt gibt, die die Geschichten einzelner Menschen festhalten. Und bei all der Trauer ist es auch schön, wie warm Du sie im Herzen behalten hast.

  5. Ich lese Deine Worte und sie verschwimmen. Nicht nur, weil Tränen meine Wangen hinab laufen, auch weil meine Gedanken hin und her rasen. “ Ja, das stimmt!“ / „Oh scheiße ja, so fühlt es sich an!“
    Na klar geht es jeden Tag ein bischen weiter, sicher lache ich auch wieder und erfreut mich – erst recht an Dingen, die mir früher zu banal erschienen, aber wenn dieses grau-braune Gefühl mich manchmal wieder überrennt, dann möchte ich weglaufen, schlafen, schreien. Alles auf einmal. Aber dann, ja dann lese ich Texte wie Deine. Und auch wenn es für alle, denen so eine Tragödie widerfährt, furchtbar ist, so denke ich, dass es da diesen Zusammenhalt gibt. Da gibt es dieses stille „Ja, sag nichts, ich weiß!“ und ein Blick genügt.
    Du bist eine starke Frau und bewegst andere zu tollen Dingen.
    Gern hätte ich Dir das mal persönlich gesagt, aber manchmal, ach manchmal siegt dann doch meine Angst oder der Moment war einfach doof…
    Ich schicke Dir gute Gedanken und gieße die große gelbe Blume auf meinem Balkon heut nur für Deine Freundin.
    Tiffy

  6. .

    Deine Freundin, Eure Kollegin ist durch diese Texte Teil vieler Gedanken. Schon seit einem Jahr. So habt Ihr, hast Du auch etwas bewegt. Es ist so toll, dass dieses Internet dies möglich macht. Das geht natürlich nur, weil Du die Dinge, die Du erlebst, in diese bewegenden Worte fassen kannst. Danke dafür. Ich denke an Euch. An die Freundin und ihre Familie, Deine KollegInnen, Dich.

  7. du liebe, ich habe eine meiner engsten freundinnen 1991 verloren und es ist in jedem jahr komisch, vor allem, dass sie in gedanken mit mir älter wird, und nicht 21 geblieben ist. ich gewöhne mich nie daran, dass sie fehlt. liebe hilft. ich denk an dich.

  8. Mein herzliches Beileid und das reißt, noch lange nicht zusammengeheilte Wunden wieder ein kleines Stück mehr auf. Meine kleine Schwester wurde vor 27 Jahren, als Sie 4 Jahre alt war, einfach tot gefahren. Ich musste das mit meinen 5 Jahren alles mit ansehen und es vergeht kaum ein Tag an dem ich nicht an Sie denke und dieses Unfall vor Augen habe. Ich möchte Dir damit sagen, dass es immer schmerzen wird und Du wirst es nie vergessen aber man lernt das Glücklichsein, wieder zuzulassen und man macht eben weiter und mir hilft nach wie vor die Gewissheit dass Sie im Himmel ist und ich Sie wiedersehe und ich bin nicht gläubig aber dadurch ist Sie einfach immer bei mir.
    Fühl Dich umarmt.
    Dani

  9. Das Bild, sie vor einem Jahr da liegen gesehen zu haben und die Tatsache jeden Arbeitstag an dieser Stelle vorbeizufahren, halten den 6.8. bei mir sehr präsent. Oft ärgert man sich, wenn das weisse Rad nicht gerade steht oder das Schild schief hängt, kommt sich dann aber irgendwie lächerlich vor, weil ein gerade stehendes Rad oder ein exakt hängendes Schild sie weder lebendig machen kann, noch man sich vorstellen kann, dass es ihr besonders wichtig wäre. Manchmal ertappe ich mich dabei, das weisse Fahrrad anzuschauen und heimlich zu lächeln und dabei zu nicken, als würde ich guten Tag sagen, fast so wie früher jeden Morgen im Büro.

  10. Hi Patricia,
    ich bin vor einem Jahr kurz nach dem Unfall an der Kreuzung vorbeigekommen und war geschockt. Ich kannte deine Freundin nicht, aber dieser Unfall hat mich mehrere Wochen begleitet. Vielleicht weil ich auch Mama bin, vielleicht weil es mich hätte treffen können, wenn ich etwas früher losgefahren wäre. Ich hatte darüber letztes Jahr getwittert und heute Morgen im Timehop gesehen, dass es heute ein Jahr her ist. Als ich heute Morgen an dem Geisterfahrrad vorbei gefahren bin, habe ich deiner Freundin ein paar Worte geschickt. Und als ich gesehen habe, dass eine Rose am Fahrrad hängt, habe ich mich gefreut, dass es noch Menschen gibt, die weiter an sie denken und ebenfalls in Gedanken bei ihr sind. Danke für deinen schönen und emotionalen Text. Liebe Grüße, Diana

  11. Meine Liebe, auch das mag kitschig klingen, aber ich glaube daran – wer über den Tod hinaus geliebt wird, ist nie vergessen. Manchmal ist es wichtig, das laut zu sagen: dass wir „unsere“ Toten vermissen, dass es schmerzt, dass wir trauern – und dass wir weiter lieben, obwohl die geliebte Person nicht mehr da ist. Das Tabu, dass uns dabei hemmt, es tatsächlich zu tun, ist noch viel zu mächtig heutzutage. Danke für diesen schönen Text. Ich denk an dich.

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