Berlin: Ende

Es ist sommerlich warm. Ich fahre mit der Tram zum Bahnhof und nehme einen Zug, der sonst ein IC ist. Für einen gewissen Teil der Strecke ist er dennoch für das Deutschlandticket freigegeben. Die Sitze sind aus Kunstleder, die Klimaanlage funktioniert, ich habe WLAN. Verspätung haben wir keine.
Es ist verwirrend.
1,8 Cent pro Kilometer habe ich auf meiner Reise gezahlt. Ich würde sagen: das Deutschlandticket hat sich gelohnt. Das mit der Verspätung pro Kilometer rechne ich nicht aus. Gestresst hat mich bis auf die Strecke Aachen Köln und zurück eigentlich nichts. Ich bin froh, dass ich diese Tour nicht mit dem Auto machen musste.

Während ich mich Berlin nähere, ruft das große Kind mich an und fragt, ob ich schon Mittag gegessen habe. Nein, habe ich nicht. Also würde es was für uns kochen? Sehr gerne! Ich darf mir etwas aussuchen.
Als ich ankomme, ist alles fertig. Wir essen miteinander und reden. Es ist ziemlich viel in meiner Abwesenheit passiert. Wir haben uns unterwegs nur kleine Nachrichten und Videoschnipsel zugeschickt.

Die Wohnung ist aufgeräumt, das Bett frisch überzogen. Der Kühlschrank ist gefüllt mit allem, was ich gerne esse. Die Wäsche liegt sauber und gefaltet in den Schränken. Ich hab auf der Reise kaum an den Alltag gedacht. Wenn mir das auffiel, hatte ich kurz ein schlechtes Gewissen. Muss eine Mutter nicht etc. pp?

Später kommt das „kleine“ Kind und umarmt mich ganz fest. Ich kann unsere Herzen schlagen spüren.

Ich mache ein Nickerchen bis mein Partner von der Arbeit kommt.
„Hast du mich vermisst?“ frage ich ihn. „Ja“ sagt er.
„Was wollen wir jetzt machen?“
„Vielleicht Pizza essen gehen?“
„Was liebst du mehr? Pizza oder mich?“
„Ich liebe euch gleichviel!“

Fair enough.

Km insgesamt: 3.240
Verspätung: 552 min

Dresden

Dresden ist nach Berlin die einzige Stadt, in der ich mir vorstellen kann, zu leben. Die Stadt ist wunderschön, an manchen Stellen wie eine Fototapete. Sie ist lebendig und kulturell vielfältig. Wie Prenzlauer Berg vor 10 Jahren vereint mit der Museeumsinsel.

Mein Dresdner Freund ist wie ein Stadtführer. Zu jedem Gebäude hat er eine Geschichte. Wir gehen erstmal essen. Er schlägt ein veganes Restaurant vor und wir teilen uns eine Vorspeisenplatte. Die Gespräche sind intensiv. Wir sind oft nicht einer Meinung, aber wir schaffen es, uns zuzuhören und über unseren Widerwillen zu lachen.

Für den Abend hat der Freund eine Idee: Wir könnten nach Freiberg fahren und uns im Dom ein Orgelkonzert anhören. Immerhin sei das eine Silbermann-Orgel!
Oho! Ich habe natürlich keine Ahnung, aber ich habe mir vor ein paar Jahren vorgenommen, einfach öfter beherzt „Ja“ zu sagen und so machen wir uns auf den Weg.

Im Dom ist es feierlich, klatschen darf man anscheinend nicht. Den Enthusiasmus zeigt man durch Atmen. Es werden klassische Bach-Stücke gespielt, aber auch etwas modernes, das mich an Hape Kerkelings „Hurz!“ erinnert. Nur dass die Orgel zwischendrin pfeift wie der Freiton eines Festnetztelefons.
Wir hören dann einen Klangteppich von Peter MØller, es geht um den Eintritt ins Paradies. So, so. Wie ein andauerndes Hupkonzert im Stau wird das also klingen.

Als ehemalige Katholikin finde ich die Protestanten sowieso toll. Wir schauen uns noch die 800 Jahre alte goldene Pforte an, die eine Geschichte von Erlösung und Eintritt der Seelen ins Paradies erzählt, ohne dass man vorher von Dämonen im Fegefeuer für seine Sünden gequält wird.
Ich teile meine Freude über diesen Sachverhalt und meine Begleitung erzählt mir einen Witz:

Der Teufel heißt einen Mann, der in die Hölle kommt, herzlich willkommen und führt ihn durch sein Reich. Der Mann ist zutiefst verwundert. Er sieht wunderschöne, weiße Sandstrände, freundliche Menschen, tolle Cocktails – alles wunderbar.
„Das ist aber ganz anders hier als ich es mir vorgestellt habe“, sagt er begeistert, „das reinste Paradies!“
Der Teufel lächelt und sagt: „Komm mit!“ Sie kommen in eine Ecke, in der einige Kessel und rundherum Dämonen stehen, die die Menschen in den Kesseln kochen und peitschen. Da ist der Mann ganz verstört und macht ein fragendes Gesicht. Darauf der Teufel:
„Das sind die Katholiken, die wollen das so …“

Auf dem Rückweg sehen wir den Erdbeer-Mond. Er ist rosa und riesengroß.

Km bislang: 3.058
Verspätung: 542 min

Leipzig

Auf dem Weg nach Leipzig erlebe ich meinen ersten Zugstau. Eine Weiche ist defekt und die Strecke kann nur in eine Richtung befahren werden. Also müssen sich die Züge anstellen und werden der Reihe nach durch die Engstelle geschleust.

Weil es mir von München nach Leipzig mit dem Deutschlandticket zu lange dauert, habe ich mir für die Verbindung ein Ticket im ICE gekauft. Ich habe 57 min Verspätung laut Anzeige. Ab 60 min bekommt man 25% des Fahrpreises erstattet. Es ist seltsam, dass man oft 57 oder 59 Minuten Verspätung hat und nie 61 oder 62 Minuten.

In Leipzig holt mich eine Freundin ab, die ich über meinen Job kennengelernt habe. Sie ist eine der scharfsinnigsten Personen, die ich kenne. Außerdem denkt sie so schnell, dass ich mich oft neben ihr fühle wie dieses Faultier aus Zoomania.

Sie hat mir einen Schokoladenkuchen mit Krokant gebacken und den Tisch geschmückt. Es ist schließlich mein Geburtstag. Nur wußte auf der Reise niemand so genau, wann der ist. War er schon oder kommt er noch oder ist er HEUTE Gott bewahre!
Mein Freund in Nürnberg hatte sich auch schon beschwert, dass mein Geburtstag nicht in meinem Wikipedia-Artikel steht. Frech! ChatGPT wusste das Datum auch nicht.

Am nächsten Morgen schlafe ich etwas länger und wir gehen mit ihrem Leihund spazieren. Der Leihund ist ein ausgesprochen süßer Dackel. Als wir ein Selfie mit Hund machen, erlebe ich meinen ersten Schlabberkuss mit Hund.
Das Foto werde ich mir ausdrucken. Wir sehen so fröhlich aus. Die Sonne scheint, wir tragen Sonnenbrillen und Sonnenhüte wie Kleinkinder, wir lachen übers ganze Gesicht und der Kund küsst mich.
Über die 2.965 Bakterien aus dem Hundemund denke ich nicht nach. Ich nutze schließlich auch öffentliche Verkehrsmittel und fasse ohne Handschuhe an Haltestangen um mir dann mal an der Nase zu kratzen. Schlimmer kann das nicht sein.

Km bislang: 2.946
Verspätung: 520 min

Fränkische Schweiz und Bamberg

Heute fahre ich nicht Zug. Es kommt mir falsch vor. Man ist eben ein Gewohnheitstier. Kaum fährt man 14 Tage jeden Tag Zug, hat man das Gefühl: Das ist jetzt mein Leben. Irgendwo zwei Nächte zu bleiben kommt mir übermäßig etabliert vor.

Wir tuckeln durch die fränkische Schweiz, besteigen die Wallerwarte bei Ebermannstadt, schauen auf Burg Feuerstein, wo ich als Jugendliche zwei, dreimal meine Sommer verbracht habe und wandern dann zur Muschelquelle, wo man ein kleines Stück in eine Höhle reinlaufen kann – was wir machen, um uns dann klaustrophobische Geschichten über die Nutty Putty Cave zu erzählen, bis sich ein ungutes Gefühl im Steiß breit macht.

Die Wanderstrecke ist wunderschön. Die fränkische Schweiz kommt mir so vertraut vor, obwohl ich viele Ecken gar nicht kenne. Es macht mich ganz ruhig hier in der Natur zu sein.
Um meinen fünftägigen Kloß-Streak zu halten, essen wir noch Kloß mit Sauerbraten im Atlitzer Biergarten und schauen auf Schneckenhof. Früher war ich öfter hier. Wahrscheinlich mit meinem damaligen Freund auf seinem Motorrad oder ich bin vielleicht selbst mit meiner Schwalbe hier hoch gefahren. Ich erinnere nur den Braten und der ist immer noch so gut wie vor 30 Jahren.
Abends holt mich ein Schulfreund ab und wir fahren nach Bamberg. Mit meinem Gastgeber witzeln wir, dass ich um 22h aber zurück sein muss. Wir schaffen es nicht pünktlich. Alles wie früher.

Forchheim

Es gibt jetzt* eine S-Bahn, die einen blickdicht von Nürnberg nach Forchheim bringt. Die Schallschutzwände sind bestimmt ein Segen für Anwohner – ich bin ein bisschen traurig, dass ich die Landschaft nicht sehen kann.

In Forchheim besuche ich alle Orte meiner Jugend. Die Schule, den Wegm den ich früher mit unserem Hund gelaufen bin, das Reihenhaus, wo ich mit meinen Eltern gewohnt habe, die Stadtmauer, wo wir als Jugendliche geknutscht haben und die Sportinsel, wo ich bei den Bundesjugendspielen nie eine Urkunde bekommen habe und zuletzt die Schleuseninsel, wo im Sommer die Partys waren. Ich habe viele schöne Erinnerungen und viele, die mich schwermutig machen. Mit 17 hat mich meine Mutter auf die Straße gesetzt. Die Zeit davor war auch nicht gerade harmonisch. Die Orte zu sehen, verbindet mich mit meiner Vergangenheit und es schmerzt wie einsam und unverbunden mit der Welt ich mich früher gefühlt habe.

Ich erkenne im Nachhinein, dass ich nie alleine war. Ich hatte so viel Unterstützung auf meinem Weg.
Die Eltern einer Freundin, die mir eine Wohnung organisiert haben. Die Frau, die mir diese Wohnung damals für 100 DM vermietet hat, damit ich mein Abi machen kann. Der Freund, der mit mir gebrauchte Geräte gekauft hat, um meine neue Wohnung auszustatten. Der Bio-Lehrer, der mich den ganzen Sommer mit Gemüse aus seinem Garten versorgt hat, damit ich immer genug zu essen habe.

Ich hasse deswegen diese neoliberalen Sprüche, dass man sich im Leben nur anstrengen muss, dann würde alles gelingen. Nein, das Anstrengen alleine bringt gar nichts, man braucht auch Glück und Unterstützung.

Dreißig Jahre später fühle ich mich schon lange im Leben angekommen. Ich fühle mich geliebt und eingebettet in meinem Leben. Wie gerne würde ich das meinem Teenager-Ich sagen: Du musst nur geduldig sein. Irgendwann wird alles gut.

Km bislang: 2.328
Verspätung: 460 min

*vor 30 Jahren gab es die noch nicht

Nürnberg

Mein Bahnmojo ist zurück. Die letzten beiden Fahrten hatte ich keine Minute Verspätung. In Nürnberg komme ich also pünktlich an.

Bei der Planung meiner Reise habe ich Pfingsten übersehen, es war einigermaßen schwer ein Hotel in Nürnberg zu finden. Rock im Park war auch noch, aber auch das wusste ich nicht.
Im Aufzug des Hotels habe ich zwei junge Frauen mit extrem verschlammten Schuhen gesehen. An ein Rockkonzert habe ich nicht gedacht. Es schien mir naheliegender, dass sie gerade irgendwen verscharrt hatten.
In Nürnberg treffe ich einen Freund aus Schulzeiten. Ein sehr belesener und wahnsinnig aufmerksamer Mensch, mit dem man hervorragend über alle Themen sprechen kann, die angeblich auf der Tabuliste stehen: Geld, Tod, Religion und Kindererziehung.

Wir besuchen Orte meiner Kindheit, u.a. das Johannes-Scharrer-Gymnasium, dessen Neubau schon vor 30 Jahren sehr häßlich war (es sei denn man hat einen Faible für Brutalismus), laufen durch den Burggraben, bestaunen Albrecht Dürer Kunstwerke, die ich als Kind sehr gruselig fand, essen Schweinebraten mit Klößen und trinken Rotbier. Ich liebe fränkisches Bier. In Berlin trinke ich fast nie Alkohol, wenn ich hier 0,5 l Bier trinke, bin ich eigentlich schon leicht angetrunken.

Sind wir noch bei Regen und Sturm gestartet, aber am Nachmittag scheint die Sonne und wir laufen durch St. Johannis, dann an der Regnitz entlang und ich merke wie stark ich Nürnberg mit meiner Kindheit verbinde. Am Wunschbrunnen drehe ich den schwarzen (!) Ring und wünsche mir etwas für zwei Menschen, die ich sehr liebe.

Mein Schulfreund hat meine Rundmail, in der ich mir gemeinsame Erinnerungen wünsche, ernst genommen und erzählt mir wie wir in einem Winter mal einen Hund gerettet haben und wie ich meinem italienischen Cousin aufgeklärt habe, dass man Klöße nicht schneidet, sondern rupft: „If you don’t cut it with a knife, it sucks better.“

Km bislang: 2.288
Verspätung: 460 min

Esslingen

In Esslingen habe ich eine Freundin besucht, die ich wirklich sehr mag. Ich habe mit ihr meine erste Elternzeit auf Berliner Spielplätzen und in Parks und viele sonnige Tage verbracht. Durch den ganzen Sand der Spielplätze, das Eis, das wir mit unseren Kindern gegessen haben und die Sonne, fühlt es sich an, als ob wir quasi ein Jahr komplett gemeinsam am Meer verbracht haben. Dass es reichlich Kindergeschrei, klebrige Hände, nervige Wespen, blutige Knie und andere Katastrophen gab, hab ich einfach vergessen.

Ich verehre meine Freundin auch so sehr, weil sie so ziemlich der spontanste Mensch auf der Welt ist. Während ich alles ordentlich wochenlang und bis ins letzte Detail plane, ist sie für jeden verrückten Einfall zu haben: Warum nicht? Ja, lass uns das probieren!

In dieser Tradition hat sie mich empfangen und vorgeschlagen, dass ich sie vom Bahnhof zum Juwelier begleite, denn sie hat sich überlegt: Ohrringe, das wäre doch was! Also hat sie sich kurzerhand Ohrringe stechen lassen.

Im Anschluss waren wir in einem Kaffee und ich habe festgestellt, dass sich Esslingen in den letzten 10 Jahren sehr verändert hat: man kann jetzt auch hier problemlos einen Flat White Decaf mit Hafermilch bestellen und ein Stück Hipsterkuchen essen.
Früher noch undenkbar. Ich war mal länger in Esslingen, weil meine Freundin alleinerziehend war und zwar einen neuen Job aber keine Kinderbetreuung hatte. Weil ich gerade das zweite Mal in Elternzeit war, bin ich mit meinen Kindern nach Esslingen gefahren, denn ob man nun zwei oder drei Kinder betreut, das macht keinen großen Unterschied. Damals war alles noch sehr beschaulich und ich habe ständig von älteren Damen Erziehungstipps bekommen. Das Kind hat Durst! Sie müssen die Kinder alle an die Hand nehmen! Schauen sie, ihr Kind hat da einen Fleck auf dem Shirt, sie müssen es mal umziehen!

Die Erinnerungen, die meine Freundin mit mir geteilt hat, haben mich ein bisschen geschockt. Angeblich haben sich meine Kinder mal um einen Schokoriegel gestritten und als nach längerem guten Zureden keine Einigung über eine gerechte Einigung herbeizuführen war, hätte ich den Riegel kurzerhand in mich reingestopft. Am Stück.
War ich wirklich so eine Mutter?

Km bislang: 2.068
Verspätung: 460 min

Gießen

In Gießen bin ich Bus gefahren, habe selbstgemachte Bihun-Suppe und köstlichen Rhabarberstreuselkuchen gegessen. War an der Lahn spazieren und habe in Erinnerungen geschwelgt. Ein Teil meiner Geburtstagsreise war nämlich der Wunsch, dass diejenigen, die ich besuche, eine Erinnerung mit mir teilen, die sie aus unserer gemeinsamen Vergangenheit haben.

Es ist faszinierend wie das Erinnern funktioniert. Ich erinnere mich oft gar nicht oder komplett anders und es fällt mir auch schwer mich mit den Erinnerungen anderer mit meinem Vergangenheits-Ich zu verbinden.
Offensichtlich war ich nicht immer so ruhig und ausgeglichen, wie ich es jetzt bin (oder ich bin es jetzt auch nicht, nehme mich aber anders wahr? Wer weiß das schon!)

In meinem Gießen-Stopp hat die Person, die ich besucht habe, sogar Fotos nachmachen lassen. Fotos aus Zeiten, in denen man nicht einfach jeden Tag 20 Fotos gemacht hat, sind irgendwie immer besonders wertvoll. Ich kann sie lange betrachten. Es ist als ob man eine Zeitmaschine hat. V.a. Gegenstände im Hintergrund aktivieren dann wieder weitere Erinnerungen. Eine Lampe, die ich mal besessen habe oder ein klobiger kleiner Röhrenfernseher an den eine Spielkonsole angeschlossen ist.

Zeit ist schon wundersam. Nach hinten wird sie schwarz und nach vorne ist sie das auch und irgendwo dazwischen lebt man.

Km bislang: 1.763
Verspätung: 429 min