Buchmillionärin mit Bahncard-100

Zu 22 Bahnen gibt es 16.305 Rezensionen auf Amazon und nochmal 408 auf Thalia. Zeit, dass ICH auch nochmal was drüber schreibe! (Ernsthaft… ich hab mich schon so oft gefragt, wenn ein Buch schon über Tausend Bewertungen hat, wer ist die 1.001. Person, die denkt: „Die Welt hat auf meinen Senf gewartet! Da schreib‘ ich gleich mal die 1.001. Rezension!“?).
Manchmal stimmen die Kalendersprüche eben. Es ist schon alles gesagt, nur nicht von jedem und für was hat man sein eigenes Blog, wenn nicht zum senfen? Eben.

Also. Ich habe 22 Bahnen endlich auch gelesen. Ich hatte es in den letzten Monaten immer mal wieder in der Hand, hab den Buchrücken gelesen und dachte „Interessiert mich Null. Ich bin 50, ich bin raus aus dem Coming-of-Age-Alter“ und habe es wieder zurückgelegt. Da sich aber in meinem Bekanntenkreis immer wieder begeisterte Leserinnen fanden, habe ich diesen Vorgang so fünf, sechs mal wiederholt und mich nie durchringen können.

Am Ende haben wir das Buch in meinem Buch-Club kurz andiskutiert und da dachte ich: „Ja gut, wenn ein Buch-Club nicht genau für sowas ist, für was ist er dann?“. Also habe ich es gekauft und an zwei Abenden gelesen.

Es liest sich fluffig durch. Die Sprache ist einfach und der Spannungsbogen stets so, dass man denkt: „Da lese ich jetzt weiter“ und zack ist das Buch zu Ende.

Fand ich mindestens erstaunlich, denn den Inhalt fand ich nach wie vor öde. Mein Eindruck vom Buchrücken hat sich also bestätigt. Eine seelisch demolierte Studentin verliebt sich in einen seelisch demolierten Programmierer. Dazwischen schwimmt sie (und er auch) und die geneigte Leserin erfährt, dass sie eine alkoholkranke Mutter hat und eine sehr viel jüngere Schwester, die sie beschützen möchte. Gleichzeitig möchte sie aber auch ihr Leben führen. Sie arbeitet an einer Supermarktkasse, da das Familieneinkommen – wir erfahren nur, dass die Mutter nicht durchgängig arbeitet, dass der Vater aber regelmäßig Unterhalt zahlt – sonst nicht reicht.

Ja gut. Soweit, so unspektakulär. Wäre da nicht die Diskussion um die Autorin Caroline Wahl, die es gewagt hat öffentlich zu sagen, dass sie a) gerne Millionärin mit ihren Büchern werden würde und b) ein bisschen betrübt ist, dass sie keine Preise mit den überaus erfolgreichen Büchern gewonnen hat. Außerdem würde sie gerne ein dickes Auto fahren.

Also das geht natürlich nicht. Jedenfalls nicht solange sie nicht Carl Wahl ist. Carl Wahl könnte ziemlich sicher alles mögliche schreiben ohne dass ihm jemand in einem fiktionalen Roman vorwerfen würde, er habe nicht gut genug recherchiert und bediene sich Klischees (von „Armutsporn“ ist die Rede). Auch den ersehnten Verbrenner würde man ihm trotz Klimakrise heimlich gönnen.

Denn auch das wird Caroline Wahl vorgeworfen. Sie hätte das Romansetting nicht realistisch genug dargestellt. Arme Menschen hätten ganz andere Probleme und würden sich dementsprechend anders verhalten.

Ich muss gestehen, dass sie arm sein soll und so oft schwimmen geht, das fand ich auch seltsam. In Berlin kostet einmal schwimmen gehen, je nach Dauer und Tageszeit mindestens 4,50 Euro. Die Sommerbadekarte kostet 80 Euro für 20 mal Eintritt und wahrscheinlich würde der Hauptcharakter Tilda Studentenermäßigung bekommen. Dennoch Schwimmen ist echt nicht billig.
Viele Jahre meines Lebens hätte ich mir das nicht leisten können. Oft hatte ich um den 25. eines jeden Monats keinen Pfennig mehr auf dem Konto und hab mich von Dosenmais ernährt oder bin Freundinnen besuchen gegangen, die noch zuhause wohnten und bekocht wurden.

Hätte es Thema im Buch sein müssen, dass Schwimmen ziemlich kostspielig ist?
Nein. Wenn ich mich nicht irre, ist 22 Bahnen nämlich kein Sachbuch über Armut*.
Ist es die Pflicht einer Roman-Autorin Rahmenbedingungen realistisch wiederzugeben? What the heck? Nein. Man kann über Drachen und Zwerge schreiben, über Menschen, die plötzlich reich werden oder über über ein Waisenkind, das zufällig Schachgenie ist und sich durch alle Tourniere der Welt nach oben kämpft.
Ja, buuuuuh! Alles unrealistisch!
Warum kommt man bei Caroline Wahl auf die Idee, dass sie in der Pflicht steht monate- vielleicht jahrelang zu recherchieren, um Tildas Lebensumstände realistisch wiederzugeben? Verstehe ich nicht.
Und als Autorin muss ich auch sagen: Wie soll man das finanzieren? Ich weiß nicht, was Nicht-Autoren denken, was man mit einem (gar dem Ersten) Roman verdienen kann, wenn man nicht ohnehin schon Promi ist und der Verlag davon ausgehen kann, dass mindestens 100.000 Menschen das Buch kaufen werden.
Meistens muss man für den 1. Roman sogar in Vorleistung gehen. Man schreibt also nicht nur ein ausführliches Exposé, sondern um die 100 Seiten Leseprobe. Zur Einordnung: 22 Bahnen hat 205 Seiten im Taschenbuch. Man schreibt also unter Umständen das halbe Buch vor – ohne auch nur einen Cent gesehen zu haben (oder zu wissen, dass da jemals ein Cent kommen wird).

Finde es daher völlig berechtigt, dass man diese Leseprobe dann möglichst zügig schreiben will und nicht erst ein Masterstudium in Soziologie mit ein paar Ergänzungssemestern Data Science absolviert.

Wenn man ein Buch fertig gelesen hat und es ist nicht so, wie man es sich gewünscht hätte, dann kann man das Buch weglegen und sagen :“Doof. XY hat mir besser gefallen“
Die Art und Weise wie Caroline Wahl öffentlich angegangen und kritisiert wird rechtfertigt das nicht.

Und als Autorin kann ich sagen: Mein Lebenstraum ist es auch mit dem Schreiben reich zu werden**. Ich würde mir dann eine Bahncard 100 kaufen und durch die ganze DACH-Region tingeln wollen und ich würde ein Urban Sports Max Abo abschließen, damit ich in allen Städten in die schicken Fitnessstudios gehen könnte. Meinen Kindern würde ich Reisen schenken und später ermöglichen auszuziehen. Wir würden regelmäßig Wanderurlaube in der Schweiz machen. Warum soll man das nicht wollen?


Nachtrag: Was Kaltmamsell auf Mastodon schreibt, kann ich allerdings zu 100% nachvollziehen. Denn ich wünschte mir auch, Menschen würden verstehen, was es bedeutet arm zu sein, um in den laufenden Bürgergelddiskussionen nicht so eine menschenverachtende Scheisse zu labern um dann auch noch Parteien zu wählen, die es akzeptabel finden, dass jedes 7. Kind in Deutschland armutsgefährdet ist.

Zu Kaltmamsells Sicht auf 22 Bahnen

*Viel, viel schlimmer finde ich übrigens, dass Sachbuchverlage neuerdings auf Influencer*innen setzen, die dank Reichweite auf jeden Fall gut verkaufen werden und dabei eben nicht die nötige Fachexpertise für Sachbücher mitbringen. Das finde ich richtig bitter.

**Falls zufällig eine Literaturagentin mitliest: Ich hab eine super Romanidee und ein fertiges Exposé. Bitte melden!

2 Gedanken zu „Buchmillionärin mit Bahncard-100“

  1. Ich habe 22 Bahnen gelesen und lese jetzt gerade Windstärke 17. Ich finde beides lässt sich sehr gut weglesen und ich mag die Geschichten. Ich sehe kein Problem darin über Armut zu schreiben ohne das selbst erlebt zu haben. Behauptet sie doch auch überhaupt nicht. Ich werde auch für meine Arbeit bezahlt, ohne dass meine Lebensweise mitbewertet wird. Und natürlich ist es legitim mit der eigenen Arbeit reich werden zu wollen. Aber bei Ihrer Schlussfolgerung gehe ich nicht mit und ich schreibe das hier weil ich das schon öfter gelesen habe und nicht nachvollziehen kann. Es gab Kritik an der Autorin die unter die Gürtellinie ging (das sie ihr Hörbuch selbst eingesprochen hat und dass sie hochmütig wäre). Das geht beides gar nicht. Gleichzeitig ist es natürlich in Ordnung sich inhaltlich über Romane kritisch zu äußern, gerade wenn die Themen einen selbst betreffen. Die Texte und Reels (auf die sich die Autorin auch teilweise selbst bezogen hat) waren eher sachlich. Die Autorin hat das zu einem feministischen Thema gemacht, weil sie als Frau kritisiert wird und ihr der Erfolg als Frau missgönnt wird. Ich finde es in Ordnung dass die Autorin sich persönlich angegriffen fühlt und dann so mit der Kritik umgeht, oder es Marketingstrategie verwendet. Aber ich verstehe nicht und finde es auch ein bisschen ärgerlich dass dieses framing übernommen wird. Ich bin nicht der Ansicht, dass ein Mann andere Reaktionen nach dem Umgang mit Kritik bekommen würde (ein bisschen natürlich schon weil es Männer in der Öffentlichkeit immer leichter haben). Aber es ist doch nicht frauenfeindlich Büchern von Frauen (inhaltlich!) zu kritisieren.

  2. Ich war die meiste Zeit meines Lebens arm und fand das Buch gut, da es für mich nicht vorrangig um das Thema Armut ging, sondern eher um die Sorge um ihre Schwester und den Konflikt mit der Mutter.

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