Als Kind habe ich mich wahnsinnig viel gelangweilt. Aufgewachsen in einem fränkischen Dorf, in dem es Kinderbetreuung erst ab drei Jahren und dann nur zwischen 8 und 12 Uhr gab, war das sicherlich kein Spaß für meine Mutter. In Ermangelung eines Gartens hat sie mich einfach raus geschickt. Vielleicht nicht im Kindergartenalter, aber ich habe deutliche Erinnerungen an die Grundschulzeit in der ich in Gummistiefeln Kaulquappen in Tümpeln eines kleinen Waldstücks sammelte, Staudämme baute und Schnecken sammelte. Alleine und mit Freunden. Wir stiegen in verlassene Grundstücke ein und erdachten uns haarsträubende Mutproben.
Als die Pubertät einsetzte, sollte ich mehr zu Hause oder zumindest an Orten sein, an denen keine Gefahren in Form des anderen Geschlechts lauerten. Mein Vater ist Sizilianer. Ich verbrachte viel Zeit in Jugendgruppen der katholischen Kirche und las mich durch die Dorfbibliothek. Ich erinnere mich, dass die ausgeliehenen Bücher händisch eingetragen wurden und dass ich eines Tages jedes Buch meiner Altersklasse durchgelesen hatte.
Die Kindheit meiner eigenen Kinder verläuft völlig anders. Auf eine Weise. Denn wir leben in Berlin. Ich denke, es wird meinen Kindern nie möglich sein eine Bibliothek durchzulesen. Auf der anderen Seite können sie alles ausprobieren auf was sie Lust haben. Da meine Eltern keinerlei sportliche Ambitionen hatten, besuchte ich nicht mal den örtlichen Tennisverein. Meinen Kindern wünsche ich eine Grundsportlichkeit – v.a. aus gesellschaftlichen Aspekten. Ist die Ausbildung erstmal beendet, stellt Sport für mich eine der bequemsten Arten dar neue Menschen kennenzulernen. Auch war mein Kontakt zu anderen Kulturen sehr eingeschränkt. Ich schwöre, ich habe Döner erst mit 19 kennengelernt, als ich nach Bamberg zog, um zu studieren. Das exotischste Essen, das ich kannte war „chinesisch“. Ganz anders unsere Kinder. Sie wünschen sich Bliny, Kotbullar, Schawarma und endlich mal wieder Haloumi. Sie lernen Englisch im Kindergarten und halten Euromünzen aus anderen Ländern in den Händen.
Bei uns im Dorf gab es einen einzigen herunter gekommenen Spielplatz. Allein in einem Umkreis von 1000 Metern, gibt es in unserer derzeitigen Wohngegend zehn. So lange es das Wetter erlaubt, gehen wir jeden Tag nach dem Kindergarten auf einen der umliegenden Spielplätze. Ich denke, allein deswegen haben unsere Kinder es ganz gut bei uns.
V.a. aber weil ich ihnen ebenfalls das unschätzbare Geschenk des Sichlangweilens schenke. Wenn wir an einem Ort sind, an dem keine Gefahren drohen, klinke ich mich aus und überlasse die Kinder (altersgemäß) sich selbst. Nach anfänglichen Protesten, am Bein zerren und ähnlichen Versuchen mich in ihr Spiel einzubeziehen, zeigt meine Passivität Früchte. Die Kinder beginnen sich selbst zu beschäftigen. Sie erdenken sich Spiele, nehmen zu anderen Kindern Kontakt auf oder hängen sich bäuchlings über eine Schaukel und lassen sich das Blut in den Kopf steigen.
Auf unsere Familie trifft also nicht zu, was Jesper Juul in einem etwas älteren Interview mit Zeit Online bemerkt: „Die armen Kinder haben ja heute kaum noch Zeit für sich, sie haben keinen erwachsenenfreien Raum, wie meine Generation ihn noch hatte.“
Eine Sache, die bei uns sehr anders ist als in meiner Kindheit, ist die Sache mit der Konsequenz. Was von meinen Eltern einmal gesagt war, war Gesetz. Es wurde nicht verhandelt. Wenn man Pech hat, erzieht man so Fatalisten. Für mich ist die Botschaft einer konsequenten Erziehung: Egal wie Du Dich bemühst, egal was Du tust, egal wie Du argumentierst – nichts ändert sich.
Deswegen sind wir ziemlich inkonsequent. Inkonsequent auch in dem Sinne, dass ich nicht davon ausgehe überhaupt in der Position zu sein alle Wahrheiten und Gesetzmäßigkeiten zu kennen. Ich habe oft festgestellt, dass Kinder Lösungen für Konflikte hervorbringen können, die mir nie im Leben eingefallen wären und die für mich völlig akzeptabel sind. Für die Freiräume, die ich meinen Kindern einräume, bekomme ich oft sehr viel zurück. Wenn ich in einer Situation nachgebe, in der es mir durchaus möglich ist, lassen meine Kinder im Gegenzug Dinge der Art: „Ich bin zu erschöpft jetzt noch Eis essen zu gehen, können wir das bitte verschieben?“ gelten.
Ein dritter großer Themenkomplex, der eine Rolle in unserer Erziehung spielt, wird ebenfalls im oben genannten Interview angesprochen: Er betrifft das Glücklichsein.
Natürlich wünschen auch wir uns glückliche Kinder – aber wie man weiß, ist das Leben kein Ponyhof und damit muss man umgehen lernen. Unsere Kinder bei Rückschlägen zu unterstützen und sie mit Kompetenzen auszustatten dennoch glücklich und optimistisch zu bleiben, ist mir viel wichtiger als sie in einer Glücksblase aufwachsen zu lassen. Einen wunderbaren Artikel dazu hat Dirk Böttcher in der brand eins geschrieben (bitte UNBEDINGT lesen). Dem ist nichts hinzuzufügen.
Deswegen halte ich es auch für richtig sich vor den Kindern authentisch zu verhalten. In unserer Familie gibt es die geflügelte Formulierung: „Streitet ihr jetzt oder diskutiert ihr noch?“. Ich finde es sehr wichtig, dass Kinder mitbekommen, dass nicht alles glatt und ideal verläuft, dass es Meinungsverschiedenheiten, Befindlichkeiten, äußere Zwänge und negative Gefühle gibt. Sie lernen hoffentlich auch, dass es immer Wege der Bewältigung gibt und dass man sich verzeihen kann, dass man Kompromisse erarbeiten und mit Alternativen zufrieden sein kann. Jedenfalls wünsche ich mir das. Wie schön, dass Jesper Juul das auch denkt:
ZEITmagazin: Was ist Ihr wichtigster Rat an die Eltern von heute?
Braucht noch jemand Buchempfehlungen? Meine Bibeln in Sachen Kindererziehung sind: „In Liebe wachsen“, „Das kompetente Kind“ und „Kinder verstehen“.
Es ist kaum zu glauben, wie viel die Erziehung ausmacht. Die vielen Meinungen und Theorien zu der idealen Methode halte ich nur in wenigen Aspekten als korrekt.
Vielmehr nehme ich an, dass auch hier viele Wege nach Rom führen und jede Erziehungsmethode zum Kind selbst und dem dahinterstehenden Charakter passen muss.
Axel Hacke sagt zum Thema „Erziehung heute“ im Kleinen Erziehungsberater: „Man wurstelt sich so durch“. Trifft auch bei uns zu – selbst mit vier Kindern sind wir noch unglaublich schlecht im Erziehen oder denken das zumindest oft. Mit jedem dazu kommenden Kind dachten wir, jetzt wüssten wir ja, wie es geht. Haha.
Danke für diesen Beitrag und die verlinkten Artikel!
Schöner Beitrag zur Erziehungsdebatte. Meine Kinder müssen/dürfen sich auch recht oft allein beschäftigen, das klappt mal mehr, mal weniger. Auch hier schimmert es durch, dass Authentizität, Gelassenheit und Vertrauen auf die Fähigkeiten der Kinder (und ihr Vermögen, dass selbst einzuschätzen) eine Richtlinie für ein entspanntes Familienleben ist. Mein Erziehungsexpertenheld ist übrigens Remo Largo, auch der propagiert, bei allen Erziehungsfragen einfach vom Kind auszugehen und deren Bedürfnisse dann sozusagen positiv zu kanalisieren.
Dirk Böttchers Artikel allerdings ist nicht gelungen. Das einzige, was er macht, ist für seine eigene Meinung anekdotische Belege zusammenzusuchen, die größtenteils die Zustände in den USA beschreiben. Letztlich ist es so, dass es Situationen gibt, in denen Sieger ermittelt werden müssen, und solche, in denen dies nicht der Fall ist. Bei einem Sportfest der ersten Klasse muss das nicht unbedingt sein, wenn das Ziel ist, Begeisterung für Sport an sich zu wecken. Was nicht heissen soll, das es nicht auch Wettkämpfe um den Jahrgangsbesten im Laufen, Werfen, Springen geben sollte. Das sind zwei Paar Schuhe, und vllt. hat sich Böttcher das falsche Paar angezogen.
Bevor man einer Beobachtung dann gleich gesellschaftliche Bedeutung gibt, sollte man vielleicht dann seinem Umfeld mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Böttcher als Lone Wolf der einzige seines Mittelschichtsbekanntenkreises ist, der es gut findet, wenn Kinder Sieg und Niederlage kennenlernen. Er schreibt ja auch, dass Diskussionen beginnen, und er nicht allein mit seiner Meinung steht. Ich behaupte mal, da gab es welche, die das so sahen, und andere sahen das so und wieder andere ganz anders. Es macht sich also jeder so seine Gedanken und kommt zu einem anderen Ergebnis, leider ist es nicht das von Dirk Böttcher, und schon wird die Mittelschicht von einer Narzissmusepidemie heimgesucht, also wieder mal Apokalypse, darunter geht es nicht. Ich zähle mich zur Mittelschicht, und in meinem Umfeld sind sich die Eltern einig darüber, dass der Umgang mit Niederlagen zu den Lernaufgaben gehört. Die einen federn es vielleicht etwas mehr ab als die anderen, aber grundsätzlich ist das Konsens. Das, was Böttcher fordert (und so, wie es im Beitrag beschrieben ist), erlebe ich als Mainstream.
sehr spannender Beitrag, habe gleich mal verlinkt und zwei passende Zitate eingefügt…
Viele Grüße,
Fabian
Erziehung ist wie Kunst – ein schmaler Grat zwischen Genie und Wahnsinn. Und 100% aller Eltern von erwachsenen Kindern haben Fehler gemacht und haben dennoch alles richtig gemacht.
Und Dirk Böttcher hat nur Recht für das Kinderleben in KiTa und Grundschule, auf jeder weiterführenden Schule, im Fußballverein, in der Jugendfeuerwehr ist die Leistung Erster/ Bester zu sein am wichtigsten für die Kinder. Und die stecken auch Niederlagen locker weg.
Und Erziehungsratgeber sollte man alle in die Papiertonne treten……
oh wow, knapp und klar, auf den punkt gebracht. beneidenswert konzis. danke dafür, so kommt man auch ins nachdenken. werde ich heute abend mal noch ausführlich lesen.
Da sind viele interessante Aspekte zur Erziehung drin – vom Aufwachsen auf dem Land bis hin zur Erziehung zum Glücklichsein…
Nur kurz Reinwerfen möchte ich noch den Gedanken der Spiegelneuronen, mit denen Menschen Verhalten lernen – das Lernen durch Imitation kann so auch Lernen von Gewohnheiten sein, Lernen von Sport, Lernen von Lesengewohnheiten… Und vielleicht sogar Lernen von Glück?