Fortschritt ist relativ

2016 habe ich mich noch darüber aufgeregt, dass es eine Schlagzeile wert ist, wenn ein berufstätiger Mann sich ein paar Tage frei nimmt, um sich um seine Scharlach-kranke Tochter zu kümmern. Im Spiegel Online war zu lesen: „Tochter krank – Vizekanzler nimmt sich frei“. Die Rede war von Sigmar Gabriel und zwei Jahre zuvor hatte ich mich schon echauffiert, dass der „moderne Vater“ sich sage und schreibe einen Mittwoch Nachmittag frei hielt um eben jene Tochter vom Kindergarten abzuholen. „Vizekanzler in Teilzeit –Gabriel will Nachmittage mit Tochter verbringen“ titelte die Zeitung dazu.

Alles in mir hat seinerzeit WTF geschrieen.

Jetzt ist 2020 und ich lese:

und denke: „Cool. Selbst in Japan, einem tief patriarchalisch geprägtem Land mit einer sehr ungesunden Arbeitskultur tut sich was.“ Japan ist, sollte das nicht bekannt sein, eines der Länder mit der höchsten Suizid-Rate (v.a. unter Männern) weltweit, die v.a. auf den Druck im Arbeitsleben zurückgeht. Fast doppelt so viel Arbeitsstunden wie in Deutschland werden im Durchschnitt erbracht bei zehn Tagen Jahresurlaub, viele arbeiten über das Rentenalter hinaus weiter. Ein großer Teil der Selbstmorde wird von Männer im fortgeschrittenen Alter durchgeführt weil sie sich ohne Arbeit wertlos fühlen.

Also halte ich es für ein gutes Zeichen wenn ein japanischer Minister tageweise Elternzeit macht.

Ist das nicht schön? Vier Jahre post-Gabriel bin ich so altersmilde und habe eine ausgeprägte Ambiguitätstoleranz entwickelt. Ich kann mich nämlich darüber freuen, dass sich in dem einen Land miniminimini-etwas zum Positiven verändert und in meinem Land immer noch doof finden, wenn Väter sich nicht ordentlich an der Care-Arbeit beteiligen.

Denn ja, was Koizumi tut ist bahnbrechend. Im Schnitt nehmen japanisch Väter nämlich weniger als 5 Tage (!) Elternzeit. Das soll geändert werden und so sollen ab April alle männlichen Staatsdiener dazu verpflichtet werden, mindestens einen Monat Vaterschaftsurlaub zu nehmen.

Irre. Denn da haben Menschen in einem Land mit zu wenig Geburten verstanden, dass die Lust aufs Kinderbekommen wahrscheinlich damit korreliert, ob man sich als Frau und Mutter unterstützt weiß oder nicht.

Wäre doch schön, wenn sich in Deutschland auch noch mehr bewegt und es z.B. gesetzlich zugesicherten Vaterschutz direkt nach der Geburt gäbe oder wenn das Geld in der Elternzeit nur fließt, wenn man sich die Monate mindestens 60/40 aufteilt.

Hach, es gibt noch so viel zu tun.


Mehr dazu: Teresa Bücker: Ist es radikal, alle Väter in Elternzeit zu schicken?

89 Gedanken zu „Fortschritt ist relativ“

  1. In Gewissen maßen finde ich den teilbaren Mutterschaftsurlaub in Ordnung, aber man muss auch sagen das die gegebene Zeit eine viel zu lange ist… vorallem für einen Mann. Klar ein neuer Abschnitt beginnt mit dem Baby und man muss die Frau entlasten, aber das benötigt keine Jahre an Urlaub für den Mann

  2. Ich finde es sehr viel verstörender, dass ein Schauspieler (so nennt man es wohl) eine Frage beantwortet, die seiner Tochter gestellt wurde und dabei mal eben über ihren Körper und ihr Leben bestimmt. WTF hoch zwei!
    Irgendwann überholt uns Japan noch…

  3. Die niedrige Geburtenrate hängt in Japan aber auch u. a. damit zusammen, dass Schwangerschaften nicht von der Krankenkasse abgedeckt werden, siehe
    8900km.de/2020/01/12/kinderwunsch

    1. Wow!
      Jetzt bin ich glatt durch einen interessanten Artikel (Danke ans Nuf) auf einen so tollen Japan-Blog gestoßen! Vielen Dank und ein Glück, dass es thematisch so gut passte und dieser Artikel just nach ein paar Monaten Lesefaulheit der erste im Nuf-Blog war!
      Lieber Gruß von einer Nicht-Mutter und dennoch gerne „Mutterkram“-Lesenden und Japan-begeisterten
      Anna

  4. Wir haben die EZ 10/4 (bzw.3, weil der erste zusammen) aufgeteilt. Mein Mann wollte 50/50. Interessanterweise habe ich vor allem von jungen Kolleginnen gehört,dass sie das nicht verstehen, weil sie sich „ihr Jahr“ nicht wegnehmen lassen wollen… sie fanden meinen Mann frech(wtf)


    1. Oje, da werden aber Narrative untergraben!
      Ich war ehrlich gesagt total froh über 3 Jahre Elternzeit, aber wenn der Mann einen größeren Anteil daran haben hätte wollen, hätten wir das auch einrichten können.

    2. In der Schweiz hat man den Vorschlag einer Elternzeit, die beliebig aufgeteilt werden kann, abgelehnt, weil man den hart erkämpften Mutterschaftsurlaub auch nicht einmal als freiwillige Option aufteilen wollte.
      Und ja, so wie die jungen Kolleginnen würden meiner Meinung nach die meisten Jungmütter reagieren. So modern ist man (hier : frau) dann meistens doch nicht, wenn es um die eigenen Privilegien geht.

    3. Das kenne ich! In unserem Laden scheitern auch regelmäßig Männer, die mehr als 2 Monate Elternzeit nehmen wollen, nicht etwa an ihren Vorgesetzten, sondern an den Ehefrauen. Wir haben in unserer Abteilung auch schon einen armen Kollegen rausgehauen, dem die Frau überhaupt keine Elternzeit zugestehen wollte (wegen ihrer ambitionierten Pläne zum Eigenheim). Da hat der (kinderlose) Chef noch eine Sondergenehmigung eingeholt, dass der Mann sein Zeitkonto überziehen durfte und so kamen mit Ach und Krach doch knapp 2 Monate zusammen.

  5. Heute in der Arbeit ein Gespräch geführt:
    “Mein Mann hat heute Pflegeurlaub.“
    “Dein Mann! Geht das von seiner Arbeit aus? Rein rechtlich ists ja klar, dass er darf, aber was sagt sein Arbeitgeber dazu?“
    Was der sagt weiß ich nicht, ich sage, wir haben 2020


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