Ich fühl mich so leer, ich fühl mich Brandenburg*

Häuschen im skandinavischen Stil
Symbolbild Häuschen im skandinavischen Stil Quelle: Snufkin @Pixabay

Wir sind bislang jeden Tag ein Stück um den See gelaufen. Eine Art Promenade oder einen richtigen Uferweg gibt es nicht. Es sind eher Trampelpfade, die vereinzelt von Privatgrundstücken, die direkt ans Wasser reichen, unterbrochen werden.

Ich finde erstaunlich, dass es so nah an Berlin einen so großen See gibt, der nicht komplett zugebaut ist.
Die paar Häuser, die hier stehen, weisen eine rätselhafte Architektur auf. Entweder sie sind aus dunklem Holz und erinnern mich an den Schwarzwald – nur dass sie aussehen wie eilig von Hand zusammengezimmert oder es sind völlig geschmacklose Prunkvillen, die wie aus einem Katalog bestellt aussehen. Ohne Charme, Charakter und Stil. Groß, kalt, pastellig, vier Säulen zum See.

Ich stelle mir vor wie wohlhabende Menschen gelangweilt in einem Fertigvillenkatalog blättern: Villa Rimini, 450.000 Euro, Villa Miracolo 570.000 Euro, Palazzo Pomposo 320.000 Euro.

Ein Stückchen näher zu unserem Feriendomizil gibt es Häuschen im skandinavischen Stil (steht zumindest auf der Immobilienanzeige). Sie kosten nur 220.000 Euro. Wenn man so wie ich, die Berliner Immobilienpreise gewöhnt ist und dann sieht, dass man für nur 220.000 Euro ein 90 qm großes, neues Häuschen direkt an einem See haben kann, dann beschleicht einen der Gedanke: Ach, so ein Häuschen… ach was, ZWEI Häuschen… das könnte man sich locker leisten. Nullprozentfinanzierung (denn kein Schwein schafft es bei den Lebenshaltungskosten auch noch Geld anzusparen), schon in 40 Jahren abgezahlt und dann hat man es schön hier, wenn man alt ist bzw. es bleiben einem mit etwas Glück noch ein bis zwei Jahre, die man das Häuschen schuldenfrei genießen kann, bevor man stirbt.

Symbolbild Winterdienst in Brandenburg Quelle: Pixaline @Pixabay

Es hat geschneit und alle Wege sind geräumt. Wirklich alle. Ich schaue gegen 6 Uhr morgens aus unserem Schlafzimmerfenster, selbst der Weg neben unserem Parkplatz ist geräumt. Der Gehweg, die Straße, die Hauptstraße sowieso, der Trampelpfad zum Bäcker.

Wie machen die das?
Bzw. wie kann es sein, dass die Berliner Unternehmen, die für den Winterdienst in der Hauptstadt zuständig sind, es nie gebacken bekommen?
Geräumte Gehwege! In Berlin walzt man die Schneedecke platt und dann streut man wie irre Kies (oder wie das heißt) drüber.
Das macht man jeden Morgen an dem es schneit. Wie eine Lasagne aus geplättetem Schnee und Streu.

Wenn es taut, ist alles voller Matsch und es liegen Tonnen an Streu herum. Ist der ganze Schnee verschwunden, kommen Männer mit Laubbläsern (ich schwöre, ich habe das wirklich mehrere Male gesehen!) und pusten den Streu maximal ineffizient an die Wegesränder, von wo aus er irgendwann verschwindet.

Vielleicht könnte die Berliner sich ja mal einen Winderdienst Experten aus Brandenburg ausleihen und die machen dann ein Bootcamp zum Thema Schnee.
Wahrscheinlich haben die Brandenburger einfach die geilere Technik. Echtzeitkarten mit automatisch ausgelösten Räum-Alarmen, wenn die Temperatur unter 4 Grad fällt.
Ich denke, der Brandenburger Winterdienst sitzt wie anderswo die Feuerwehr in einem Winterdienstquartier und wenn die Wetter-App Schneegefahr meldet, dann springen alle von ihren Plätzen direkt in die Stiefel, um die die Schneehosen schon drapiert sind und fahren mit ihren Räumfahrzeugen los.
Elektroräumfahrzeuge müssen es sein, denn ich habe hier noch nie ein Geräusch gehört.

Überhaupt. Diese Stille hier macht mich völlig verrückt. Zum Glück haben wir die Kinder dabei, die ständig rumschreien, weil sie im Schnee spielen. „Schau mal, Mama. Mama, Mama, Mama! MAAAAMA.“
Ich denke an meine Mutter mit ihrem Spruch: „Für jedes Mama ne Mark und ich bin Millionärin!“

Aber im Ernst, außer unseren Kindern macht hier niemand Krach. Die Menschen nicht, die Fahrzeuge nicht (weil es einfach keine gibt), kein Laut aus den winterschlafenden Häusern, in den Restaurants sind wir alleine.
Einmal flog eine Kohlmeise auf unsere Terrasse. Die Kinder waren ganz aufgeregt. „NATUR! MAMAMAAAAA! KOMM! SCHAU MAL EIN VOGEL!“ Er macht „piep“, es klang wie ein sehr rabiates PIEP. Wahrscheinlich hat er die Kinder geschimpft weil sie so laut waren.

Abends, gegen 24 Uhr, wenn wir ins Bett gehen, öffne ich nochmal das Fenster um Sauerstoff rein zu lassen und horche in die Nacht. Es ist wirklich NICHTS zu hören. Keine entfernte Straße, nicht mal die Straßenlaternen summen.

Zwei Tage gefällt mir das, doch dann fängt es an mich nervös zu machen. Was ist hier eigentlich los? Wo sind die Menschen? Wo sind die Geräusche? Wahrscheinlich werden alle Touristen, die länger als zehn Tage hier sind von irgendeinem Wesen (dem großen Brandenburg Golpsch!) geholt und verschlungen, dann ist wieder Ruhe.

Ich denke an den Liedtext Auszeit von Marteria

Ja ich vermiss diese Stadt
Hab‘ die Bikinis und Frisbees so satt
Morgens beim Aufstehen hilft mir ein Krahn
Ich träum‘ von ’nem Haus mitten auf der Autobahn
Der Abend dämmert, hier schreien keine Lämmer
Kein Druck, keine Pressluft die hämmert
Kann diese Ruhe nicht gebrauchten
Dreh das Radio auf, such den lautesten Sender
Brauch ’n Kiez voll mit Jugendbanden
Kann nur schlafen, wenn neben mir Flugzeuge Landen

Quelle: Marteria „Auszeit“

Ja, das gilt auch für mich. Ich bin Stadtmensch. Diese Ruhe hier ist kaum auszuhalten.

Whirlpool
Symbolbild Whirlpool Quelle: derRenner @Pixabay

Apropos Ruhe. Wir haben einen Whirlpool. Völlig irre so ein Teil. Eine Eckbadewanne mit 300 Liter Fassungsvermögen. Macht pro Bad 2 Euro 10 Cent wenn ein Liter Wasser 0,7 Cent kostet.
Der Whirlpool hat zwei unterschiedliche Düsen. Blubberdüsen und Jetdüsen, ich nenne sie mal Jetdüsen, weil sie sind so laut wie ein Jet.
Außer uns hat bestimmt niemand in Brandenburg jemals gewagt die Jetdüsen ein zweites Mal anzustellen.

Meine App zeigt tatsächlich 110 Dezibel.

Trotz meiner ersten, nicht so erfreulichen Whirlpoolerfahrung versuche ich es ein zweites Mal mit dem Whirlpool.
Die Düsen brauchen 3000 kW die Stunde, denke ich als ich ins Wasser gleite. Aber was kostet die Welt! Ich habe Urlaub. Heute gönne ich mir einfach den ohrenbetäubenden Krach. Schließlich arbeite ich 30 Stunden die Woche. Irgendwie muss ich mein Geld auch wieder unter die Leute bekommen.

Ich stelle die Jetdüsen also auf volle Pulle. WAHNSINN. Druckmäßig passiert fast nichts, zur Massage völlig ungeeignet, aber der Lärm lockt unser geräuschintensives Kind 3.0 an den Pool.
„YEAAAHHHHHH! HUUUHUUUU! JUHHUUUUUUU!!!!“ schreit es, würde ich messen, vermutlich weitere 20 dB lauter als der Pool.
„WAS IST DAS?“
„EIN WHIRLPOOL!“
„FÜR WAS BRAUCHT MAN DAS?“
„KEINE AHNUNG!!!“
„YEEEAAAAHHHHHHHHHHH. HHHUUUUUUUUIIIHHUUUUUUU!!!“

Während ich also mit schmerzenden Ohren im Whirlpool sitze, denke ich mir, wenn ich irgendein CEO eines Startups wäre, ich würde versuchen rauszubekommen, wer das Marketing für Whirpools gemacht hat.
Das ist doch eine irre Sache. 110 dB ist der Irrsinn laut, bewirkt rein gar nichts, einfach nur LAUT und irgendwer auf diesem Planeten hat es geschafft, das als Wellness zu verkaufen.

Wellness! Muss man sich mal vorstellen. Das ist so als wenn man ein Gerät erfindet, dass einen in den Magen schlägt und es dann für 150 Euro (ist ja nur To Go) an alle Welt als der neuste heiße Scheiss am Wellnessmarkt verkauft. (Immerhin so ein Schlag in den Magen ist viel entspannender als das was man heutzutage jeden verdammten Morgen in den Nachrichten liest).
Ich schreibe mir als Merker auf einen Zettel „Whirlpool Marketing Genie recherchieren“.

Findling
Symbolbild Findling Quelle: katzengraben @Pixabay

Ein anderes Marketinggenie arbeitet in der Touristenbehörde Brandenburgs. Nachdem wir nämlich drei Tage um den See gelaufen sind, denke ich mir: Man könnte ja auch mal was anderes machen und googele „Ausflüge kindertauglich Brandenburg“ und stoße auf eine Seite, die mir eine Wanderung durch die Rauenschen Berge anpreist. Nur zweieinhalb Kilometer vom Waldparkplatz zum Aussichtsturm. Super. Da machen wir.

Es gibt nämlich nicht nur den Aussichtsturm von dem aus man angeblich den Berliner Fernsehturm sehen kann, sondern es gibt auch ACHTUNG zwei Steine.

Ja, Sie haben richtig gelesen. Steine. Große Steine zugebenermaßen – aber es werden tatsächlich Steine als Sehenswürdigkeit angeboten.

Auf der Seite Touristischesuperlative.de lese ich, dass es sich bei einem der beiden Steine um den größten landliegenden Findling Brandenburgs handelt.
Die Steine heißen großer und kleiner Markgrafenstein. Wobei der kleine Markgrafenstein der größere der beiden Steine ist. Natürlich war ursprünglich der größere der beiden Steine der große Markgrafenstein – aber wie Menschen so sind, musste der große Markgrafenstein natürlich zerteilt werden, damit man irgendwas nutzloses herstellen konnte – in dem Fall die große Granitsteinschale im Lustgarten.

Zusammen mit diesem abgeschlagenen Teil wäre der Reststein 800 Tonnen schwer, und – jetzt halten Sie sich bitte fest – damit wäre der Findling auch der größte landliegende (was ist das eigentlich? Was sind wasserliegende Findlinge und kann man die auch besichtigen?) Findling nördlich von Berlin!!!

Jetzt aber ist der kleinere der Markgrafensteine der größte. Umbenannt wurde er trotzdem nicht. Obwohl er viel größer ist, heißt er für immer kleiner Markgrafenstein.

Wie sich der kleine Markgrafenstein damit fühlt, der ja nun seit vielen Jahren der faktisch größere der beiden Steine ist, vermag ich mir nur vorzustellen.
Da kriecht man Jahrhunderte mit einer Moräne von Schweden bis Brandenburg, immer der kleinere der beiden Steinbuddys, hat sich schon damit abgefunden – ich bin eben nur 280 Tonnen schwer – und dann kommt DIE Chance und der Angebergranitklotz, der einem vermutlich nur die ganze Zeit gefolgt ist, um sagen zu können: „WUHUUU, schaut mich an, ich bin ja viel größer!“ wird um 550 Tonnen verkleinert… und dann bleibt man trotzdem für IMMER der kleine Markgrafenstein.
Also das ist kein schönes Schicksal.

Egal wie, wir stapfen durch den Schnee zu den beiden Steinen und machen pflichtbewusst ein Foto.

Ich glaube, damit haben wir im Urlaub alles erreicht was geht.


*Zitat aus dem Lied „Brandenburg“ von Reinald Grebe

Lichtshow in Begleitung

Die Eröffnung des Stadtbahnhofs am Donnerstag hatte mir besser gefallen. Freie Sicht auf den Bahnhof, kein Regen und nicht diese schreckliche Musik.
Nichtsdestotrotz muss man als guter Berliner natürlich bei jedem Event dabei sein. V.a. ich; seit ich 1996 Halebob verpasst habe, raffe ich mich zu allen Ereignissen auf, von denen ich später im Seniorenheim täglich drei Mal den Zivis berichten kann. Also bin ich am Freitag los gegangen, um dem Spektakel erneut beizuwohnen. Diesmal mit 499.999 anderen.
Schon die Hinfahrt war ein Erlebnis. Warum den weiten Weg nach Tokio auf sich nehmen, wenn man so was in der Heimatstadt haben kann? So fuhr ich mit dem Gesicht in den Brusthaaren eines brandenburgischen Bodybuilders versunken mit der S-Bahn Richtung Friedrichstraße, um dort dem nicht enden wollenden Menschenstrom zum angekündigten Lichtspektakel zu folgen. Sensationell war das. Hochgerechnet liefen rund vierzig Leute pro Sekunde an uns vorbei und verschwanden irgendwo. Ich nehme an, hinter dem Hauptbahnhof am Horizont hört die Welt auf und die armen Menschen, die ich weiter als wir wagten, fielen alle hinten runter. Wie Lemminge, die Armen.
Die Verbleibenden blieben auf den Brücken stehen und starrten Richtung Bahnhofsgebäude. Sehen konnten wir und 20 andere um uns herum nichts. Eine starrköpfige alte Frau und deren Sohn hatten sich mit aufgespannten Sonnenschirmen in der ersten Reihe der Brücke platziert. Man bat sie rund zehn Mal den Schirm ein wenig herunter zu nehmen, doch das sture Weib hielt den Schirm wortlos höher. Die drei Teenagergören hinter mir machten es geschickter. Die suchten sich kräftige Kerle, die sie hoch heben durften und riefen dann voller Begeisterung „Ey voll geil!“ oder „Woah, Alter, krass!“ und gaben den Umstehenden das Gefühl Teil an etwas Großem zu sein. Vorne wurde Feuerwerk in den Himmel geblasen und ich meine, ich habe zu Freude schöner Götterfunken Mehdorn persönlich im Tütü über das Wasser tänzeln sehen. Zum Abschluss der Lightshow wurden die Top-Manager in die Luft geschossen und das ganze Volk applaudierte. Ein rarer Moment für die Bahn, denn schon wenige Sekunden später entbrannten die Diskussionen über das unmögliche neue Verkehrskonzept.
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Sicht für die anderen

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Sicht für uns

Korrelationen

Wo doch das Thema Autofahren gerade in ist … wer gelegentlich in Brandenburg Auto fährt, dem wird aufgefallen sein, wie waghalsig so mancher Zeitgenosse fährt. Nicht umsonst hat der ADAC im Westen die Alleen komplett abgeholzt. Schließlich neigen Bäume dazu ab Tempo 160 in die Fahrbahn zu springen.

Jedenfalls scheint es ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, das lautet: Wenn vor Dir ein Kleinwagen fährt, fährt er langsam. Schau nicht auf Deinen Tacho. Sei Dir sicher, er ist langsam wie eine Schnecke.

Deswegen wird man gedrängelt bis zum geht nicht mehr. Auch wenn man schon schwitzend die Tachonadel bis 120 gejagt hat. Im Rückspiegel nähert sich unaufhörlich der Hintermann. Man kann schon die roten Äderchen im Inneren seines Auges sehen. Sein Atem beschlägt bereits die eigene Heckscheibe.
Einen ähnlich provozierenden Charakter scheinen Absätze zu haben. Wenn ich mit Absätzen Fahrrad fahre, werde ich grundsätzlich überholt. Selbst die schwer schnaubende Oma in Gesundheitschuhen zieht böse blickend an mir vorbei. Ich habe sie mit meinen Absatzschuhen schließlich provoziert. „Entschuldigung!“, rufe ich hinterher. Doch sie kann mich nicht hören, denn meine Stimme wird von dem Fahrtwind der anderen siebzehn Fahrradfahrer weggetragen, die ebenfalls an mir vorbei rasen.

Hätte ich Turnschuhe an, führen sie alle hinter mir. So ist das auf brandenburgischen Straßen wenn man einen Mittelklassewagen aufwärts fährt.

Allee