„Sie bezweifelt, dass sie viel Spaß haben wird auf ihrem dreißigjährigen Abitreffen. Sie hat noch nie verstanden, warum man wild darauf sein soll, lauter Menschen wiederzusehen, die man vor langer Zeit aus den Augen verloren hat – aus guten Gründen, sonst hätte man ja noch Kontakt.“
Witzig, dass ich diese Zeilen aus „Man sieht sich“ von Julia Karnick just lese als mein dreißigjähriges Abitreffen ansteht. Ich glaube, ich war seit 1995 auf einem der Abitreffen. Vielleicht war es das fünfjährige? Danach hat mich die Lust verlassen. Weitere 25 Jahre später bin ich doch motiviert.
Tatsächlich war es ein unerwartet schöner Abend. Alle waren sehr herzlich. Jeder und jede, die ankommt, macht eine Runde und begrüßt alle. Die Cliquen, Freund- und Feindschaften scheinen sich aufgelöst zu haben. Wir fragen uns das Übliche: Was machst du beruflich? Hast du Kinder? Wo wohnst du?
Ich habe dabei nicht das Gefühl, dass es um einen Wettbewerb geht. Man fragt sich eher: Der Thomas, der war doch so ein Chemie-Crack, ist ihm das erhalten geblieben? Und wir sind alle alt genug, um zu wissen: das Leben ist keine geradlinige Erfolgsstory. Es gibt Krankheiten, es gibt Tod, Scheidungen und andere Lebenskrisen. Wer davon mit 50 nichts erlebt hat, der hat einfach Glück gehabt.
Viele kann man nach 30 Jahren ohne Probleme erkennen. Manche sehen wirklich genau aus wie in den 1990ern, nur faltiger. Andere erkenne ich nicht und bei manchen frage ich mich, ob ich sie je wahrgenommen habe? Ich selber bin anscheinend schwer zu erkennen. Ich hatte früher immer rote Haare und war sehr dünn und eigentlich wollte ich auch nie auffallen.
Letzteres ist mir anscheinend nicht gelungen. Einen meiner ehemaligen Mitschüler erzähle ich, dass ich mich immer sehr von ihm eingeschüchtert gefühlt habe. Er sagt „Noja, so woke Leit, die hamma halt noch nie gemöcht.“
„Also woke war ich in den 1990ern wirklich nicht…“
„Aber so grüana Hosn hoast oaghabt. Die Madla in Oberfrangen trogen kei grüane Hosn. Da homma di halt a weng gmobbt.“
Aha, meine Hosen waren also schuld. Ich frage mich, ob ich meine Hosen einfach nicht mehr angezogen hätte, wenn ich gewusst hätte, dass sie so aufwühlend sind.
Einem anderen erzähle ich, dass ich mich immer eher als Aussenseiterin gefühlt habe. Er ist aufrichtig betroffen und nimmt mich in den Arm: „Das habe ich nicht gewusst!“ Ich finde das wirklich sehr rührend. Mein Herz wird ganz weich.
Überhaupt, was man alles nicht gewusst hat. Wir sprechen über die letzten Jahre in der Oberstufe, was einen beschäftigt hat, wie es zuhause war. Ich stelle fest, viel weiß ich von den anderen nicht und so ist es nicht verwunderlich, dass ein Großteil gar nicht mitbekommen hatte, dass meine Mutter mich in der 11. auf die Straße gesetzt hat und ich die letzten Schuljahre schon alleine gewohnt habe.
Das Abitreffen wühlt mich emotional sehr auf. Es verbindet mich mit meinem Vergangenheits-Ich und den Gefühlen dieser Zeit. Und Mitte/Ende der 1990er war eine schreckliche Zeit für mich. Ich war ohne Wurzeln und unglücklich, habe mich meistens sehr einsam gefühlt. Irgendwann bin ich rausgewachsen aus diesem Gefühl und ich habe es lange abgetan als „das gehört halt zum Erwachsenwerden dazu“. Hormonell ist ja wirklich einiges durcheinander. Als meine Kinder dann in dieses Alter gekommen sind, hatte ich furchtbar Angst, dass sie sich auch jahrelang so fühlen. Wenn ich jetzt auf sie schaue, scheint das nicht der Fall zu sein. Wenn ich sie frage, dann sagen sie sowas wie: „Mama, du hattest ja eine scheiß Jugend. Die haben wir nicht. Warum sollte es uns schlecht gehen?“ Ja, keine Ahnung. Weil ich dachte, es sei das Alter. Aber vielleicht ist es wirklich nicht eine Frage des Alters, sondern eine Frage des Aufwachsens. Und vielleicht ist es ganz normal, dass man sich furchtbar fühlt, wenn man nach einer andauernden Phase von Streits von heute auf morgen auf die Straße gesetzt wird, obwohl man noch nicht mal mit der Schule fertig ist. Einer meiner Mitschüler hat in mein Abiheft geschrieben: „Was macht ihr Freund nachts mit ihr, dass sie im Unterricht immer schlafen muss?“ Ja, gar nichts hat er gemacht. Ich habe oft bis spät in die Nacht nach der Schule in einer Kneipe gearbeitet oder Baumarkinventur gemacht, denn ich hatte ständig Geldsorgen.
Diese Phase ist jetzt wirklich lange vorbei. Ich dachte auch, ich hätte das hinter mir gelassen. Aber anscheinend nicht so, dass es mich nicht noch tagelang begleitet, wenn ich erstmal wieder daran denke.