Ich weiß auch nicht. Es gibt diese Texte, die bewirken, dass ich wie ein Gaul auf die Hinterfüße gehe. Die SZ kann sich in dieser Sache für die Auswahl ihrer Kolumnistin Charlotte Roche stolz auf die Schulter schlagen. Alles richtig gemacht in Sachen Traffic aus Gefühlen (oder Clickbaiting wie man so schön sagt). Jeder der Texte hat mich bislang aufgeregt. Mal ein bißchen postiv, mal so brrr und mal mit langsamen Kopfschütteln, aber der „Verlasst die Städte!„-Text bringt meine zarten Gefühle in Wallungen.
Nicht weil ich nicht nachvollziehen könnte, dass Menschen aufs Land ziehen wollen. Sollen sie bitte. Und wenn Menschen vom Land in die Stadt ziehen mögen: Bitte sehr.
Interessant ist eher die Frage, warum mich der Text so aufregt. Ist ja einer von Hunderten. Könnte ich auch einfach lesen und denken: „Yo.“ und dann weiter Super Mario Radieschen schnitzen.
Ich glaube aus dem Text spricht eine Art Kaputtheit, die ich bedrohlich finde und die zudem noch auf die AdressatInnen projiziert wird.
„Der Indianer in mir vermisst echte Erde unter den Füssen. Die Bäume in der Stadt sind eingemauert oder umgeben von Asphalt. Nachts sieht keiner Sterne. Da fehlt dann die Demut vor dem Universum, denn wir denken: Wir sind der Sternenhimmel, wir leuchten mehr als die Sterne.“
Ich bin sehr demütig vor dem Universum. Wirklich. Ich habe mir sogar extra Demutsübungen in meinen Alltag eingebaut. Ich glaube, die eine hab ich aus irgendeinem Kommentar von Antje Schrupp. Ich kann die Nachahmung sehr empfehlen. Sie geht so: In der Stadt (am besten mitten in der Nacht) an einer autoleeren Straße an einer roten Ampel einfach stehen bleiben und nicht rüber gehen. Ganz bewusst warten bis es grün wird. Die Zeit breitet sich dann unendlich vor einem aus. 40 Sekunden werden eine Woche. Wenn andere Menschen kommen und über die leere Straße gehen: Aushalten. Lächeln. Atmen. Den Kopf ganz leer machen. An die Großartigkeit des Universums denken.
Solche Übungen kann man ganz einfach in den Stadtalltag einbauen und ganz demütig werden.
„Was ist, wenn ganz viele Straftaten begangen werden von Menschen, die eigentlich die Stadt nicht mehr aushalten und einfach mehr grün sehen müssten. Sie wenden sich, wie Ratten im Experiment, gegen die eigenen Kollegen, weil alles zu nah und eng ist“
Ja, der beliebte Vergleich mit den Ratten. Ein Experiment der 70er, in dem der US-Psychologe John Calhoun an Ratten beobachten konnte, dass sie sich gegenseitig totbeißen und die Reproduktionsfähigkeit verlieren wenn zu viele Tiere auf zu wenig Raum leben müssen.
Sehr gerne werden solche Experimente einfach auf Menschen übertragen. Das ist zweifelsohne möglich, denn Komplexität und Differenzierung ist anstrengend und von daher sind eins zu eins Übertragungen solcher Beobachtungen allzu verführerisch. Dass man das Experiment mit z.B. Pferden wiederholt hat und denen es so gut wie gar nichts ausmacht, sehr eng zu leben und dass Schimpansen mit immer größerer Enge umgehen, indem sie sich mehr lausen und zu kuscheln und sogar leiser werden – wird nicht so eifrig zitiert. Auch Menschen scheinen Kulturtechniken entwickelt zu haben, so dass sich das oben geschilderte Crowdingphänomen gar nicht erst ausbildet.
So viel zur These des Crowdings und der einfachen Übertragbarkeit auf den Menschen.
Was der Text ja auch nahe legt, ist dass all die Nöte und psychischen Krankheiten, die vermutlich einfach aufgrund der Normalverteilung und der reinen Quantität an Menschen (auch) in Städten vorkommen – schwupps – auf dem Land durch die Natur geheilt werden könnten. Als gäbe es keine psychischen Krankheiten, keinen Stress, kein Burnout auf dem Land.
Das ist vermutlich ein weiterer Aspekt, der mich an dem Text so aufregt: „Der Mensch“ ist soundso und „das Land“ macht dann blablabla.
Egal was soundso und blablabla am Ende dann sind, es handelt sich um unzulässige Verallgemeinerungen. Denn es gibt ja nicht „den Menschen“ und „das Land“.
In meinen persönlichen Land-Erfahrungen wird darauf geachtet, dass der Gartenzaun nicht zu individuell aus dem Gesamtbild der Siedlung heraussticht. In meiner persönlichen Land-Erfahrungen legen BewohnerInnen Whats-App-Gruppen an, um verdächtig aussehende Fremde (wohlmöglich auch noch welche die „ausländisch“ aussehen) von ihren Kindern fotografieren zu lassen und dann ggf. an die Polizei zu melden, sofern irgendwo etwas geklaut wird.
Ist das Land deswegen böse und falsch? Ne. Es ist nur der eine Fleck nicht nach MEINEM Geschmack.
Wohnt man also in einer Ecke in Berlin, in der einem regelmäßig auf die Motorhaube gekotzt wird (auch Zitat aus dem Text), dann bedeutet das eben weder, dass Berlin grundsätzlich und überall so ist (geschweige denn dass alle Städte so sind), noch dass das alle Menschen stört.
Jede/r hat so seine Aufreger. Mich regt Hundescheiße auf. Das eint mich mit Frau Roche. Viele andere Dinge in der Stadt regen mich nicht auf. Ich liebe sie sogar. Mir ist im Gegensatz zu (war das Spahn?) Weiß-ich-nicht-mehr auch völlig schnurz, dass in meinem Kiez oft nicht Deutsch gesprochen wird. Dass es sogar Cafés um die Ecke gibt, in denen die Servicekräfte nicht mal Deutsch verstehen.
Im übrigen verfüge ich über sehr wirksame Wahrnehmungsfilter. An mir prallen vermutlich 80% aller möglichen Sinneswahrnehmungen ab. Top-Voraussetzungen für die Stadt. Solche Filter haben nicht alle. Das weiß ich. Menschen mit weniger Filtern fühlen sich tatsächlich in der Stadt nicht so wohl. Aber egal. Was ich sagen will: Mich regt nicht die Aussage auf, dass es Menschen gibt, die sich auf dem Land vielleicht wohler fühlen.
Vielmehr regt mich die Art der Verallgemeinerung einer persönlichen Einschätzung verbunden mit einem Appell, alle sollen es gleich tun, auf. Vermutlich. Vielleicht hab ich aber sonst keine Probleme im Leben, dass mich Texte in Zeitungen aufregen. Man weiß es nicht.
Hm, wenn alle aus der Stadt aufs Land ziehen würden, wäre das Land bald zur Stadt geworden und die Stadt verödet. Was natürlich utopisch ist, weil „alle“ es nicht tun würden, aber schon allein die Vorstellung finde ich nicht sehr prickelnd.
Ich rege mich über die Texte von Roche und von Nuf auf. Aber die von Roche lese ich schon lange nicht mehr. Das Nuf ist nicht dumm, manchmal witzig, bisweilen sogar charmant. Also werde ich weiter das Nuf lesen, auch wenn wir politisch wie Feuer und Wasser sind.
„Nachts sieht keiner Sterne.“ Da sieht man schön, was Verallgemeinerungen taugen. „Keiner“ schließt auch mich mit ein, aber ich sehe Sterne. Von meinem Fenster aus kann ich im Sommer den Großen Wagen sehen und ein paar mehr. Und ich wohne nur knapp außerhalb des S-Bahnringes. Auch innerhalb des S-Bahnringes hab ich schon öfter Sterne gesehen (und ein 22°-Mond-Halo, was mich total fasziniert hat). Klar, es sind weniger Sterne, als auf dem Land. Aber sie sind da, man müßte nur mal hoch sehen. Das allerdings muß man auf dem Land auch.
„Die immer noch fort-
dauernde kulturelle Differenz von Stadt und Land ist eine, wenn auch gewiss nicht die einzi-
ge und wichtigste, der Bedingungen des Grauens. Jeder Hochmut gegenüber der Landbevöl-
kerung ist mir fern. Ich weiss, dass kein Mensch etwas dafür kann, ob er ein Städter ist oder
im Dorf groß wird. Ich registriere dabei nur, dass wahrscheinlich die Entbarbarisierung auf
dem platten Land noch weniger als sonst wo gelungen ist. Auch das Fernsehen und die ande-
ren Massenmedien haben wohl an dem Zustand des mit der Kultur nicht ganz Mitgekommen-
seins nicht allzu viel geändert. Mir scheint es richtiger, das auszusprechen und dem entge-
genzuwirken, als sentimental irgendwelche besonderen Qualitäten des Landlebens, die verlo-
ren zu gehen drohen, anzupreisen. Ich gehe so weit, die Entbarbarisierung des Landes für
eines der wichtigsten Erziehungsziele zu halten. “
Adorno: Erziehung nach Auschwitz
Tatsächlich muss ich immer an diesen Abschnitt denken, wenn das Landleben zu arg gepriesen wird. Weil mit vieles sehr bekannt vorkommt, auch weil ich selbst vom Land komme….
Es ist offenbar Saure-Gurken-Zeit, und damit Zeit für die Dauerbrenner „Stadt oder Land“, „Auto- oder Radfahrerin“ und „Geha oder Pelikano“. Frau Roche begründet meiner Wahrnehmung nach ihren Ruhm darauf, mit Nasenpiercing und Tattoos im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine Sendung moderiert zu haben. Die Zielgruppe, die sich von sowas schocken lässt, ist offenbar die angepeilte Zielgruppe für ihre Zeitungskolumne.
(Lächeln und winken. Bzw. lächeln und weiterblättern.)
Genau!!
Was mich bei dieser ganzen Land-Schwärmerei auch immer so ankotzt, und was Du ja auch angesprochen hast, ist, dass so getan wird, als könnten alle einfach so auf’s Land ziehen und sich wohlfühlen. Frag mal Schwarze oder Frauen mit Kopftuch in Berlin, ob die nicht „einfach mal eben“ in’s ach so tolle Brandenburg ziehen wollen. Beim transform-Magazin wurde neulich auch die Oberlausitz angepriesen. Klar, wenn man weiß ist und sich nicht politisch engagiert, ganz toll. Sonst wird man halt gerne mal bedroht oder einem alles abgefackelt (Nicht, dass das in Berlin nicht passieren würde…) Von wegen auf dem Land gäbe es weniger Aggressionspotenzial und es wäre die große Freiheit für alle…
Ich habe gestern was ähnliches im Gespräch gesagt und wurde ganz empört angeschaut. Tatsächlich halte ich das auch für ein Problem. Man sieht es ja auch an den Wahlergebnissen der Bundestagswahl. In manchen Bezirken 25% AfD.
Ja, diese empörten Reaktionen kenne ich. Ganz seltsam.
Hmm, Texte von Charlotte Roche lesen und sich dann ärgern ist aber auch ein bisschen, als würde man die Büchse der Pandora öffnen und sich dann hinterher über das Übel aufregen. Sie ist halt auch, ist meine persönliche Meinung, keine sonderlich gute Autorin. Hätte sie übrigens statt dauernd „wir“ lieber „ich“ geschrieben, wäre es ein einigermaßen interessanter Meinungs- und Erfahrungsbericht geworden. Denn die Erfahrung an sich hab ich auch gemacht: Nach ein paar Jahren Schöneberg ist das ziemlich ländliche Altglienicke echt eine Erholung. Allein diese Sterne am Himmel, Wahnsinn! Aber bin ich dann (selten) abends mal wieder in der City, denk ich jedes Mal: All diese Bars, die bunten Lichter, Wahnsinn!
Gebe ich Dir Recht, schreibe ich ja auch zu Beginn. Die SZ hat sie bestimmt auch danach ausgewählt.
Wie gesagt: Inhaltlich verstehe ich beide Positionen.
Ach seufz, es ist ja nicht so als dass mir das Land nicht gefaellt, aber: Ganz realistisch betrachtet liegt die Zukunft der Menschheit nicht im immer-weiter-aufs-Land ziehen sondern in der Verkleinerung des Verbrauchs von Ressourcen, und dazu gehört eben auch der Platz. Kleinere Autos, kleinere Wohnungen, dichter besiedelte Städte, all das. Und man kann natürlich sagen, mir gefällt es auf dem Land besser aber bei „Alle Menschen sollten auf dem Land wohnen“ geht es sehr schnell in Richtung „Alle Menschen sollten 400qm Wohnungen und Autos für sich haben“ – das wäre natürlich nett, aber praktikabel und vor allem nachhaltig ist das halt nicht.
Ich gebs zu, ich hab einen Stadt-ist-super-Post erwartet, deswegen extradanke für die differenzierte Antwort.
(irgendwo wird demnächst dennoch eine undifferenzierte Prostadtkolumne geschrieben und alle Chefredakteure seufzen vor Glück bei so viel Debatte).
Yes. Ich konnte auch nur den Kopf schütteln.