Die anderen dürfen aber!

Man möchte nie die Sätze sagen, die man von den eigenen Eltern gehört hat und dann sagt man sie doch: „Nur weil Paul aus dem Fenster springt, musst du das doch nicht auch machen, hm?“ Der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in Berlin geht es da nicht so. Die richtet sich doch lieber nach Paul. Die möchte lieber machen, was leichter ist:

Sie entscheidet nämlich, dass heute – eine Woche vor dem Start der Herbstferien – die Maskenpflicht an Berliner Grundschulen fällt. Für die Kinder ab der 7. Klasse (also für die, die 12 sind und geimpft werden können) bleibt sie allerdings bestehen. Lediglich zu Klassenarbeiten können die älteren Kinder die Masken absetzen.

Mein Gehirn möchte explodieren, wenn ich darüber nachdenke, auf welcher Grundlage diese Entscheidung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie gefällt sein könnte. Denn nichts daran ergibt Sinn. Zumindest wenn man z.B. die letzten 99 Folgen des NDR Podcasts „Coronavirus-Update“ mit Drosten und Ciesek gehört hat.

Wir haben deswegen, wie viele Eltern von Kinder unter 12, an den Senat geschrieben und diese Antwort erhalten:

Sehr geehrter Herr Richter,

Ihr Unverständnis und Ihre Bedenken zur Aufhebung der Maskenpflicht haben wir zur Kenntnis genommen und möchten Ihnen die Sichtweise der Senatsbildungsverwaltung erläutern, auch wenn diese Sie sicher nicht zufriedenstellen wird.

Der Aufhebung der Maskenpflicht an den Grundschulen liegt der Senatsbeschluss vom 27.9. zugrunde.

Nachdem sich Berlin immer viel vorsichtiger mit den Lockerungen der Schutzmaßnahmen verhalten hat und die Maskenpflicht im Verhältnis zu anderen Bundesländern am allerlängsten in den Schulen komplett umgesetzt hat, konnte eine vorsichtige Lockerung der Schutzmaßnahmen angedacht werden. Die Erfahrungen aus anderen Bundesländern und die Erkenntnisse, dass die Übertragungswege gut untersucht sind, dass es wenige direkte Übertragungsfälle am Ort Schule gibt und zudem die Krankheitslast betroffener Schülerinnen und Schülern gering ist, ließ auch den Hygienebeirat zum Schluss kommen, dass die Maßnahmen gelockert werden können.

Es ist immer eine Gratwanderung, den verschiedenen Ansichten, Meinungen und Forderungen, Untersuchungen und Erhebungen gerecht zu werden –  seit Wochen gibt es aber auch massive Forderungen der Eltern, Schülerinnen und Schüler und auch der Lehrkräfte nach Beendigung der Maskenpflicht.

Es erreichten uns Mails im vierstelligen Bereich, in denen das Unverständnis über die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen beschrieben wurde, die Maskenpflicht als Quälerei für die Kinder angesehen wurde und Sorgen um soziales Miteinander, Konzentrationsschwierigkeiten und verminderte Leistungsfähigkeit beschrieben wurden, viele unterschiedliche Begründungen, aber in einer großen Anzahl – hingegen gab es nur eine Handvoll von Mails, die die bis jetzt geltenden Maßnahmen begrüßt haben. Auch seit Bekanntgabe der Änderung ab Montag erhalten wir sehr viele zustimmende und dankbare Mails.

Natürlich wird weiterhin genau evaluiert, wie sich die Ansteckungszahlen entwickeln und ob womöglich nach den Herbstferien die Lockerung auch auf die Oberschulen ausgedehnt werden kann.

Das Maskentragen in den Schulen wurde ja auch nicht verboten und so kann jeder selber entscheiden, ob die Masken weiterhin getragen werden, um sich besser zu schützen.

Mit freundlichen Grüßen
Ruby Mattig-Krone

Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie
SEN Q
Qualitätsbeauftragte für Schulen bei Senatorin Scheeres

Dieses Schreiben lässt mich nahezu sprachlos zurück. Der Senat richtet sich also nach der Anzahl der eingehenden Mails. Wie kann ich mir das vorstellen? Sitzt da jemand, der Mails zählt? Ein Mailfach für Pro-Maske, eins für die Maskengegner*innen. Und auf Grundlage dieser Auszählung wird dann entschieden: „Ja also wenn da jetzt voll viele dagegen sind, dann lassen wir das.“

Also ehrlich. Wie zur Hölle kam es zu der Entscheidung und lebe ich wirklich in einem Land in der die Anzahl der Mails die Grundlage für Entscheidungen darstellt? Wäre ich Angestellte in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, dann hätte ich ja gedacht: „Oh, obwohl es wissenschaftlich völlig unumstritten ist, dass Masken die Infektionen eindämmen, haben so viele Eltern Bedenken und Sorgen. Da müssen wir wohl mal eine Aufklärungskampagne starten. Immerhin wird es jetzt täglich kälter und mehr als Lüften haben wir zum Schutz der Gesundheit der Kinder noch nicht umsetzen können.“

In KW 38 liegt die 7-Tages-Inzidenz* bei den 5-9 Jährigen bei 133,4 und die bei den 10-14 Jährigen bei 193,6

Jetzt könnte man optimistisch sagen „nur noch“, denn schaut man sich die Vorwochen an, dann sind die Zahlen Woche für Woche gesunken. Reicht das als Argument um auf diesen hohen Niveau die Maskenpflicht fallen zu lassen?

Persönlich würde ich ja sagen: die Zahlen sind eindeutig noch zu hoch, erinnern wir uns, dass z.B. der Wert 100 irgendwann mal der kleinste gemeinsame Nenner für die Bundesnotbremse war und ab einer 7-Tages-Inzidenz von 165 sogar Schulschließungen vorgesehen waren… aber ich bin ja keine Virologin, nicht?

Schauen wir uns zusätzlich also die Studien an, auf die sich der Senat stützt. Denn natürlich zählt der Senat nicht (nur) Mailbeschwerden!

Denn „Das neueste Paper der Berliner Corona-Schulstudie (BECOSS) kommt laut Tagesspiegel zu dem Schluss, dass Schulen „keine Infektionsherde“ seien, dass aber die Lebensqualität der Schüler während der Schulschließungen litt.“

Leider gibt es da einen kleinen Haken:

(Tweet für ganzen Thread klicken)

Was die Studie verkürzt gesagt also v.a. zeigen konnte ist, dass Wechselunterricht mit Masken eine effektive Maßnahme gegen die Ausbreitung von Covid darstellt.

„Es gibt Erstklässler, die haben ihre Schule noch nie ohne Maske betreten. Es zerreißt mir das Herz“, sagte Bildungssenatorin Sandra Scheeres.

Liebe Frau Scheeres, wissen Sie, was mir das Herz zerreißt? Es gibt ganz grob 10 Mio Kinder unter 14 in Deutschland. Wenn wir diese nicht schützen, sondern sehenden Auges durchseuchen, dann bedeutet das (ich mache es Ihnen einfach, damit Sie das im Kopf rechnen können) bei erwartbaren 1% schwere Verläufe und 5% Long-Covid na? ZU VIELE KINDER, deren Gesundheit geopfert wurde, weil Politiker*innen auch nach 1,5 Jahren nicht in der Lage waren irgendwas anderes als „toitoitoi“ als Strategie zur Eindämmung der Covid-Infektionen leisten konnte.

Es ging nie um den Schutz der Gesundheit von Kindern. Das muss man sich mal vorstellen. Kinder wurden die ganze Pandemie unter dem Aspekt betrachtet, ob sie „Pandemietreiber“ – also Infektionsherde für Erwachsene – sein könnten. Jetzt da ein Großteil der Erwachsenen durch Impfungen geschützt ist, nimmt die Politik bewusst die Infektion der Kinder in Kauf. Es gilt die Arbeitskraft von Erwachsenen – nicht die Gesundheit der Kinder zu erhalten. Gehen die Kinder in voller Klassengröße in die Schule, können die Erwachsenen wieder regelmäßig erwerbsarbeiten.

Ja, mir tun die Kinder, die seit Monaten mehrere Stunden am Tag Maske tragen, auch leid. Ja, ich sehe, dass es nicht wenig Kinder gibt, die durch die Lockdownmaßnahmen gelitten haben. Ja, ich wünsche mir auch, dass meine Kinder endlich wieder ein unbeschwertes Leben ohne Masken haben. Wirklich.

Aber doch nicht zu dem Preis, dass bewusst bei mehreren Zehntausend ernsthafte Gesundheitsschäden riskiert werden.

In dieser Pandemie ist in Sachen Gesundheitsschutz für Kinder so ziemlich alles falsch gelaufen. Die Prioritäten hätten anders gesetzt werden können. Deswegen ist die Mail der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie nicht nur unglücklich formuliert. Die Worte zeigen v.a. eines: Offensichtlich hat man sich von den wissenschaftlichen Erkenntnissen verabschiedet und lässt sich von unaufgeklärten, pandemiemüden Menschen antreiben, um sich nicht weiter unbeliebt zu machen.


* Aktuellere Zahlen liegen für Berlin zum jetzigen Zeitpunkt nicht vor.

125 Gedanken zu „Die anderen dürfen aber!“

  1. Ich habe diese unsägliche Mail auch bekommen und dann auch darauf geantwortet.
    Dies würde dann im Abstand von 2 Tagen mit 2 fast gleichen E-Mails beantwortet. Sie begannen beide mit: „ich möchte mich unbedingt dagegen verwahren, dass die Entscheidung zur Aufhebung der Maskenpflicht etwas mit den vielen eingehenden Mails zu tun hatte, in denen die Aufhebung der Maskenpflicht gefordert wurde. Dies war lediglich eine Information darüber, dass es unter den Eltern und Bürgern auch viele andere Meinungen gibt. Dass diese Missinterpretation jetzt vor allem in den sozialen Medien verbreitet und aus dem Zusammenhang gerissen wieder gegeben wird, kommentiere ich jetzt nicht mehr.“
    Womit sie denn stattdessen begründet wurde, wurde nicht weiter erläutert. In der 2. E-Mail hat man es immerhin noch geschafft dem zitierten Absatz eine „wir nehmen Ihre Bedenken ernst“ hinten dran zu stellen.

    1. Ihr habt eine Antwort bekommen? Hier in Stuttgart antwortet keiner der Verantwortlichen Politiker mehr. Weder auf Landesebene noch von der Stadt. Die Elternvertrerung ist auch nicht ansprechbar. Die Zeitung schreibt jeden dritten Tag sich wiedersprechende Nachrichten über die Maskenpflicht. Die neuen Kennzahlen werden nicht kommuniziert durch die lokale Presse. Geschweige denn, dass die Regeln so sind, dass normale Menschen verstehen, was jetzt eigentlich wo gilt. Ich finde es einfach furchtbar.

  2. Liebe Patricia, ich finde es auch absurd, dass die jüngeren Kinder vor den älteren Kindern keine Maskenpflicht mehr haben. Ich persönlich würde aber andersrum argumentieren. Lasst bei beiden die Maskenpflicht weg. Die älteren können geimpft werden, bei den jüngeren Kindern ist das Risiko zu vernachlässigen.. Ausserdem kriege ich bei der Art und Weise der Umsetzung hier in Baden-Württemberg eine Meise. Zum Testen setzen alle geschlossen die Maske ab. Sport wird ohne Maske gemacht, die Tochter zeigt mir, wie sie die Maske ein bisschen runterziehen kann, um mehr Luft zu bekommen, der Kindergeburtstag wird mit 20 Kindern aus fünf verschiedenen Klassen gemacht. Ein Kind kommt aus einer Klasse mit positivem Schnelltest und hat Halsschmerzen. Da kann ich die Maskenpflicht ehrlicherweise auch in der Schule abschaffen. Liebe Grüße aus Baden-Württemberg, wo es noch eine Maskenpflicht in der Schule gibt.

  3. Wenn die SenBJF echt so wenige Anfragen zur Aufhebung der Maskenpflicht an Grundschulen erreichen, hätten sie die vopy&paste-Antwort ja zumindest teil-individualisieren können!

    Daß explizit als Datenbasis zur Aufhebung eine Art Applaus-o-meter genannt wird ist peinlich aber nicht überraschend. Natürlich werden sie immer mehr Anfragen zur aktuell NICHT angewendeten Maßnahme erhalten & daß die Anzahl der Anfragen die Entscheidung der SenBJF maßgeblich beeinflußt haben, kann man bestenfalls als Oberservation-Bias bezeichnen.
    Ich nehme aber mal an, daß sich das Verhältnis inzwischen zumindest angeglichen hat & hoffentlich die Petition mit fast 2000 Unterzeichner*innen (https://www.change.org/p/senatsverwaltung-für-bildung-jugend-und-familie-maskenpflicht-an-berliner-grundschulen-muss-bleiben) zur Kenntnis genommen wurde. Ich wüßte außerdem gerne, ob sie mit dieser Aussage vielleicht eine automatisierte Spam-Welle hervorgerufen haben?
    Die Impfung für jüngere Kinder ist nah & jetzt auf Durchsuchung zu setzen einfach so falsch, die SenBJF müßte einfach nuf die Füße still halten.
    Das Tragen von Masken ist doch kein Selbstzweck. Ich versteh echt nicht, warum auf die letzten Meter aufgegeben bzw. eingeknickt wird.

  4. Nachtrag, damit der Artikel nicht zu lang wird:
    Wenn die Politik von Anfang an die Priorität auf die Kinder gelegt hätte, dann hätten vielleicht andere Gruppen die Ausbreitung der Pandemie verhindern können bzw. müssen. Dass die Kinder die ganze Zeit und so lange Masken tragen mussten, dass sie z.T. isoliert zu Hause sein mussten, dass sie sich dadurch überfordert gefühlt haben und in der Schule u.U. nicht mehr mitgekommen sind, ist direkte Folge, dass es nie eine Priorität auf die Kinder und deren Alltagsleben gab. Nur hohle Worte, während Erwachsene z.B. in Fußballstadien grölend ihre Freizeit verbringen durften und weiter in Großraumbüros arbeiten gehen durften _obwohl_ das auch anders möglich gewesen wäre.
    Für sie gibt es Testpflicht, wohingegen das für Erwachsene anscheinend eine untragbare Bürde und Einschränkung ihrer Freiheitsrechte darstellt.

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