Die Brotzeit ruft

Wie einige bestimmt schon gemerkt haben, bin ich jetzt in diesem Alter, in dem man wandert. Wobei – ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich ein Alterseffekt oder ob das eine Folge der Pandemie ist. Vermutlich werde ich das nie genauer erfahren. Sei es drum. Nachdem wir jetzt einige Male in der böhmischen und in der sächsischen Schweiz waren, wurde mir immer wieder gesagt, das seien keine richtigen Berge und auch der Üetliberg sei kein richtiger Berg – also sind wir mal ins Voralpenland gefahren.

Bevor jetzt wieder jemand sagt, die Voralpen seien keine echten Berge: Der Teufelsberg in Berlin (da wohne ich, also nicht auf dem Teufelsberg – sondern in Berlin) ist 120 m hoch. Gleichzeitig ist der Teufelsberg der höchste Berg in Berlin. Der Berg, wo wir wandern waren, ist damit 14,425 Mal höher und ganz ehrlich: das geht für mich als Berg durch. Dass der höchste Berg in den Alpen nochmal 2,78 mal höher ist, schert mich nicht.

In den Voralpen hat jedes Huhn ein eigenes Trampolin

Jedenfalls: Wir waren also wandern und wie es sich gehört, haben wir natürlich in weiser Voraussicht, dass in der Vorsaison die Bergwirtschaften geschlossen haben, Schrippen mitgenommen. Die Schrippen habe ich jeden Morgen von einem Frühstücksbuffet gestohlen. Das war sehr aufregend! Bevor sich Lesende nun echauffieren: ich habe stets darauf geachtet, dass kein marktwirtschaftlicher Schaden für den Frühstücksbetreiber entsteht. Ich rechne ja gerne Dinge zusammen. Das Frühstück des Hotels wurde mit 21,50 Euro pro Person abgeechnet. Das heißt, ich habe immer genau addiert, was ich nehme und nur für 15 Euro vor Ort gegessen und getrunken und dann zwei belegte Brötchen im Wert von 6,50 Euro mitgehen lassen.

Man muss auch ehrlich sein: Als mittelalte Städterin erlebe ich ja sonst nichts abenteuerliches. Mein Freund, der das für moralisch nicht vertretbar hielt, hat mir den Kick des Verbotenen dann einfach genommen, indem er höflich gefragt hat, ob es okay wäre, wenn wir uns Brötchen mitnehmen. Die Frau, die immer an der Rezeption saß, hat nicht mal den Kopf gehoben und das mit einem lachenden „Freilich!“ gestattet und plötzlich kam es mir ein wenig albern vor, dass ich mir bebutterte Semmeln in meine Jogginghose gesteckt hatte.

Da sieht es wirklich so aus.

Egal. Wir sind also zu Fuß vom Hotel los direkt in die Berge und dann unendlich lange bergauf gelaufen. Das war unfassbar langweilig. Zum Glück hatte ich eine App dabei, mit der man Pflanzen kategorisieren kann und so konnte ich mich wach halten. Teilweise war es wirklich so öde, dass ich überlegt habe, ob ich vielleicht schaffe im Gehen zu schlafen. Ich bin eine hervorragende Schläferin – eine Kraft, die ich erst im Alter richtig zu schätzen weiß, da Schlaf plötzlich für viele ein kostbares Gut ist und sich die meisten Menschen schon schlaflos wälzen weil jemand im selben Raum atmet oder in der Nachbarswohnung eine Diele knarzt. Um auf die Wanderung zurück zu kommen: Ich glaube, mit ein bisschen Willensstärke würde es mir gelingen im Gehen zu schlafen. Ich brauchte halt nur jemanden, der darauf achtet, dass ich nicht den Berg runterfalle.

Wie gesagt, das Wandern in den Voralpen verstehe ich nicht ganz. Man läuft zwei, drei Stunden bergauf und dann sucht man sich eine Bank, um die schöne Aussicht zu genießen. Die Aussicht ist wirklich sehr schön, da gibt es nichts zu meckern. Mein Gehirn, das nur die Horizonte von Brandenburg kennt, hat allerdings leichte Probleme zu verstehen, dass ich nicht auf übertrieben schöne Postkarten oder Fototapeten schaue.

Da ich in letzter Zeit viel mit Midjourney spiele, generiert mein Kopf beim Anblick sofort einen passenden Prompt: View from a high mountain to a valley in which a lake can be seen. The lake has crystal-clear, blue water. On the lake you can see an island with trees. In the background you can see high mountains whose peaks are covered in snow. Trees grow right up to the snow line. The green is still bright. The trees are not yet in full splendour, you can just see the buds on the leaves.

Wir setzen uns also auf die Bank – genau bei Höhenmeter 1.000 – und packen unsere Brötchen aus bzw. jetzt kommt es: Die Brötchen haben wir nachhaltig in mitgebrachte Dosen gepackt, die wir öffnen und neben uns stellen. Ich habe mir ein Brötchen mit Frischkäse und eins mit Schinken gemacht. Ich überlege lange, welches ich zuerst nehme. Das ist ja wichtig: Nimmt man das, was man leckerer findet zuerst oder hebt man sich das bis zum Ende auf, um dann den Geschmack des Lieblingsbrötchens im Mund zu haben, wenn man weiter wandert. Auf jeden Fall will ich mir nicht unästhetisch viel in den Mund stopfen also entscheide ich mich bescheiden für das Frischkäsebrötchen, zupfe mir eine Ecke ab und lege den Rest zum Schinkenbrötchen zurück als plötzlich ein schwarzer Hund aus dem Wald springt, der sich auf unsere Brote stürzt.

Geistesgegenwärtig halte ich mein Bein vor den Hund. In meinen Händen habe ich schließlich ein Frischkäsebrötchenstück und ein bislang unerwähntes Stück Paprika. Was mein Freund tut, sehe ich nicht, er hat zweifelsohne die Hände auch voll Brote. Es gelingt uns den Hund abzuhalten. Der dreht um, doch statt wieder im Wald zu verschwinden, läuft er um die Bank herum und greift erneut von der anderen Seite an. Diesmal etwas ehrgeiziger. Er windet sich wie eine Schlange und plötzlich hat er sich eines der Brötchen aus der Box geschnappt. Während ich noch nach angemessenen Schimpfworten suche, fährt er seine Zunge aus und tut, was jedes ordentliche Geschwisterkind, das sich den Anteil einer Nascherei seines Bruders oder Schwester sichern will auch tun würde und leckt die anderen Brote an.

Böser Hund, der uns die Brötchen geklaut hat. Sieht nur niedlich aus. Hat eigentlich niederträchtige Motive.

Wir sitzen da wie Bäume. Ich bin zutiefst geschockt. Wer weiß, wie essensneidisch ich bin, der kann sich meine Gefühle ausmalen. Es droht schließlich Lebensgefahr. Ich war zwei Stunden auf den Berg gelaufen, um nichts anderes zu tun als bei einer schönen Aussicht ein Brötchen zu essen und jetzt hatte der Hund mir alles genommen. Es war unklar, ob ich es unter diesen Umständen überhaupt wieder ins Dorf schaffen würde. Während ich mir ausmalte, ob irgendeine der Pflanzen, die ich vorher in der App erfasst hatte, essbar waren, erscheint ein Mann mit einer Leine in unserer Aussicht. Es täte ihm furchtbar leid. Dabei macht er keine Anstalten seinen Hund anzuleinen. Das erschien mir insofern absurd als dass neben mir mein Freund immer noch mit dem Hund kämpfte. Mein Freund hatte sich entschieden sein Brötchen nicht zu teilen, sondern er hatte sich gleich das ganze Brötchen aus der Brotdose genommen, das er jetzt in die Luft hielt, während der Hund versuchte danach zu schnappen. Ein aufregendes Spektakel. Mein Freund ist schließlich 2m groß und der Hund musste ziemlich hoch springen, um in die Nähe des Brötchens zu kommen.

Endlich leint der Mann seinen Hund an. Furchtbar leid täte ihm das. Wie könne er das gut machen? Könne er das gut machen? In mir tobt die Wut. Bin ich wirklich 120 Minuten immer bergauf gelaufen, um hier oben meine gestohlenen Schrippen an einen unerzogenen Hund zu verlieren? Sollte das wirklich mein Schicksal sein? Würde ich hier sterben? Verhungern? Im Wind auf der Bank verdörren und 2.000 Jahre später von Archäologen gefunden werden? Würden sie rekonstruieren können, was mir zugestoßen war?

Der Mann mit dem Hund hatte Glück. Ich bin zumindest nach außen ein sehr ruhiger und rationaler Mensch und beschränkte die Beschreibung der Situation auf: „Ihr Hund hat meine Brotzeit verspeist. Die ist jetzt weg. Daran können wir nichts mehr ändern. Die Vergangenheit ist vergangen.“ Dabei achte ich darauf Worte zu nutzen, die Einheimische verstehen können UND ich verliere nicht zu viele Worte damit meine Emotionen nicht durchdringen. Ob man es wieder gut machen könne! Der Mann ist sichtlich peinlich betroffen. Seine Frage stimmt mich noch ärgerlicher. ER muss uns doch ein Angebot machen. Ein übertriebenes, das wir abschlagen und dann ein reduzierteres, was wir annehmen. Wir könnten starten bei einem einwöchigen Aufenthalt in einem Luxushotel und wir könnten uns dann einigen bei einem Abendessen in einem Sternerestaurant. Aber nein, er fragt immer und immer wieder, bis schließlich mein Freund die peinliche Situation mit: „Passt schon. Das ist jetzt so“ beendet.

Woraufhin der Mann seinen Hund nimmt und verschwindet.

Die Szene geht mir noch lange nach. Hätten wir unsere Brote retten können? Warum haben wir z.B. nicht den Deckel auf unsere Brotdose gemacht? Hätte ich mich auf den Hund stürzen sollen? Was wenn unsere Brotdose ein Baby gewesen wäre? Hätten wir dann auch auf den Hund eingeredet und ihn das Baby ablecken lassen? Was wenn der Hund ein Bär gewesen wäre? Hätten wir dann schneller von den Brötchen ablassen können oder wären wir dann wegen eines Brötchens von einem Bär gefressen worden? Essen Bären Brötchen? Was muss man nochmal machen, wenn man Bären sieht? Warum haben wir kein Foto gemacht vom doofen Hund? Hätte man noch schnell googeln können, was man macht, wenn Bären einem die Brotzeit stehlen wollen?

Ich denke wehmütig an die sächsische Schweiz zurück. Da gabs keine Hunde ohne Leine. In Bayern gibt es sehr viele Hunde ohne Leine. Obwohl überall steht, dass man die Hunde anleinen soll. Mein wunderbares Brötchen. Warum habe ich es aufgeteilt und nicht wie mein Freund wenigstens das ganze Brötchen in der Hand gehabt und damit nur ein Brötchen verloren. Warum habe ich nicht getan was in jedem Coming of Age Film als Lebensweisheit transportiert wird und den Nachtisch aka das Schinkenbrötchen zuerst gegessen? Was läuft noch falsch in meinem Leben? Warum hat der Mann seinen Hund nicht erzogen? Warum hat er uns nichts angeboten sondern nur Fragen gestellt? Ich bin immer noch sehr wütend. Mein Brötchen! Wie kommt der Hund dazu einer dreifachen Spiegelbestseller-Autorin ein Brötchen wegzufressen? Weiß der Hund eigentlich WEM er dieses Brötchen angeleckt hat? Zum Glück habe ich bei der Wanderung meinen Laptop dabei. So dass ich diese Geschichte noch festhalten kann. Die Nachwelt soll sie erfahren. Sie soll so lange geteilt werden, bis die Frau von dem Mann eines Tages auf diesen Blogartikel stößt: „Schau Herbert. De Gschicht klingt haargnau so wia des wos du vo doana Oipenwanderung mid unsam Bello eazählt hosd. Scho draurig, wos da Frau do wiederfahrn is!“
Und dann schaut sie leicht angewidert auf meinen ausgedörrten Ötzikörper, der jetzt für immer auf dieser Bank mit Panormablick sitzt.

Patricia Cammarata, Höhenmeter 1.000, bayerisches Voralpenland.

2 Gedanken zu „Die Brotzeit ruft“

  1. Solche Hundehalter ärgern mich auch sehr. Der Hund hätt ja auch beim Hochspringen jemanden umwerfen können, oder einem Diabetiker die Zwischenmahlzeit wegfressen. In beiden Fällen wär die Situation rapide weniger lustig.

  2. applaus, sehr gut und eindrücklich beschrieben, die szene!
    apropos eindrücklich: bei der gelegenheit würde ich gerne erwähnen dass ich dein musterbruch-buch neulich las und einmal träumte dich zu treffen und fragte, ob es ok sei, babies in derselben windel stecken zu lassen, wenn diese nicht reingepinkelt hätten (sieht man ja an dem kontrollstreifen) und du mit derselben wut und vehemenz wie hier im artikel mitteiltest, das ginge jawohl garnicht (wie meine frau das damals auch gemacht hat)

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