„Ich war die perfekte Mutter – bis ich selbst Kinder bekam“ – den Spruch kennt und fühlt wahrscheinlich so jeder Mensch, der Kinder bekommen hat. Es ist schon absurd, welche Vorstellungen man kinderlos hat. Darüber, was die eigenen Kinder alles tun werden und auch darüber, was die eigenen Kinder auf keinen Fall tun werden. Alles eine Frage der Erziehung natürlich. Wenn die Kinder nicht von 20h bis 8h (durch)schlafen, wenn sie nicht alles essen, wenn sie nicht artig „Danke“ und „Bitte“ sagen, nicht teilen, am Tisch nicht ruhig sitzen oder generell rumschreien: da hat wohl die Erziehung versagt.
Das glauben wir alles aus Uninformiertheit. Es ist am Ende ja viel besser zu glauben, dass die Schwester, die gerade Kinder bekommen hat, ein bisschen inkonsequent ist, die Freundin, die gerade Mutter wurde, sowieso schon immer unorganisiert war oder die Kollegin, die Nachwuchs bekommen hat, offenbar ein bisschen überfordert ist. Alles Einzelfälle, alle irgendwie selbst schuld. Individuell bedauerlich.
(Wäre es allen glasklar, dass die meisten Kinder die ersten beiden Jahre einfach nicht durchschlafen, weil das biologisch nicht vorgesehen ist, könnten sich alle glasklar ausmalen, was die Autonomiephase ist oder verstünden wir alle vollständig, dass es eigentlich unmöglich ist gelassen Eltern zu sein UND Erwerbsarbeit zu wuppen – welche Verrückte würde sich FÜR Kinder entscheiden?)
Jedenfalls: Das mit den Kindern ist ja nicht der einzige Bereich, von dem wir glauben, dass es sich um individuelles Versagen handelt, wenn es nicht so klappt wie es soll.
Frauen verdienen im Schnitt x% weniger Geld? Naja, sie verhandeln einfach auch sehr schlecht!
Viel weniger Frauen in Führungspositionen? Ja mei, die Frau an sich, die ist einfach auch nicht so durchsetzungsstark!
Etc. pp.
Die Tipps lauten dann: Treten Sie selbstbewusster auf! Legen Sie sich die richtigen Argumente zurecht! Lean In, Hasi!
Bei den meisten sickert die Erkenntnis erst langsam durch. Erst kommt man selbst an die Grenzen, dann stellt man fest: oh, rechts und links geht es anderen Frauen auch so und irgendwann dämmert es einen: Ja, vielleicht sind viele Probleme gar nicht individuell und das Leben nicht völlig frei gestaltbar. Meistens sind die Zusammenhänge eben komplex. Eingebettet in ein System, multidimensional und auf das Meiste hat man vielleicht gar nicht so viel Einfluss.
Dennoch boomt das Coaching- und Ratgeberbusiness und Bücher, die schlüssig einfache Lösungen präsentieren, verkaufen sich wie geschnitten Brot. Marie Kondos: Magic Cleaning wurde z.B. in fast 40 Sprachen übersetzt. Auf 10 Millionen Buchverkäufe folgte eine Netflix-Serie. Ihr Nachname fand als Verb „to kondo“ (radikal aufräumen) Einzug in die Englische Sprache.
Alles im Leben läuft schief? Kein Problem: wenn man richtig aufräumt, wird alles gut. Sachen in die Luft halten und prüfen „Does it spark joy?“ Wenn nicht – weg damit. Wie schön wäre es, wenn das helfen würde. Meine Seele wäre auch sehr viel ruhiger, wenn in meinem Küchenregal nicht zwei Prinzessin Lillifee-, eine ranzige Rittertasse vom letzten Playmobillandbesuch, eine Tonkatzentasse von Mutti und eine Tigertasse stünden. (Und nein, das ist kein individuelles Problem, schaut in die Küchenregale von Menschen mit Kindern, unsere Augen leiden alle an der selben Unästhetik – aber wenn wir das alles wegwerfen, leiden unsere Ohren an dem Geschrei der Familienmitglieder, die an diesen Dingen hängen)
Jedenfalls: ich fand die Schlagzeile, dass Mari Kondo mit dem dritten Kind das Aufräumen aufgegeben hat, auch lustig.
Da war ich vermutlich nicht die Einzige, denn die Sozialen Medien sind voll mit Kommentierungen.
Dabei fand ich mehrere Dinge bemerkenswert:
Es wird lobend erwähnt, dass sie offensichtlich selbst aufräumt und sich selbst um ihre Kinder kümmert.
Dabei ist im deutschsprachigen Raum[2] auch an kaum einer Stelle der Vater der Kinder erwähnt. Ich meine: rein theoretisch hätte sie genug Geld zu ordentlichen Konditionen jemanden einzustellen, der für sie aufräumt und/oder der Mann könnte ja ebenso in der Verantwortung stehen, den 3-Kinder-Haushalt in Ordnung zu halten. Die meisten Artikel stellen die Frage aber gar nicht und dass Mutti, das Beste fürs Kind ist, scheint sehr tief in den gesellschaftlichen Ansichten verankert.
Viele der Kommentierungen sind außerdem voller Schadenfreude, in der gleichzeitig mitschwingt: endlich ist Marie Kondo gescheitert. Hähähä!
Dabei könnten wir ihr warmherzig einen Platz in unserer Mitte anbieten und gemeinsam die Erkenntnis an die noch Unerleuchteten bringen: Selbstoptimierung hilft bei systemischen Problemen nicht.
Und vielleicht könnten wir uns am Ende fragen, ob es nicht Zeit für die große (Care-)Revolution ist, denn – in was für einer Welt leben wir bitte, in der sich selbst eine Millionärin mit drei Kindern an gängigen Standards von Ordnung gescheitert sieht?
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[1] Wortwitz auch bei Heiko Bielinski gelesen
[2] In der Wahsington-Post klingt das übrigens ganz anders als in den deutschen Artikeln: „She and her husband, Takumi Kawahara, president of KonMari Media, the company she founded, carefully plan their days to spend time with their children while still getting other tasks done. (Kawahara, by the way, goes to bed at the same time as the kids and gets up at 4 a.m.)“
Und P.S. die Familie lebt nicht in Japan, sondern in den USA
Hallo zusammen,
ich musste erst einmal erst einmal googeln, was ein systemisches Problem ist. ‚Ein Problem aus systemischer Sicht ist eine negativ bewertete Soll-Ist-Differenz. Das bedeutet, dass es eine Diskrepanz zwischen dem, was gewünscht oder erwartet wird, und dem, was tatsächlich der Fall ist, gibt.‘
Man seit ihr alle schlau ;-)
Sorry, wenn ich erst jetz kommentiere, ich habe erst heute Patricia Cammarata auf Mastodon entdeckt.
Persönlich bin ich Vater von zwei, inzwischen erwachsenen, Jungs.
Selbst aufgewachsen bin ich bei einer starken, (zusätzlich extern) arbeitenden, allein erziehenden und liebenden Mutter. Sie ist heute 88 und überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. In ihrer Lebenssituation, hat sie das auch!
Ich persönlich koche gerne, mache auch ganz normal die Wäsche, putze mindestens so viel wie meine Frau. Beim Aufräumen haben wir halt manchmal unterschiedliche Strategien. Das ist aber nicht wichtig, solange wir uns beide dabei wohl fühlen.
Ich hatte nie einen Vater als Vorbild. Ich war 4 Jahre bei der Scheidung. Mein Vater hatte auch nie etwas mit Kindern am Hut.
Mein prägendes Vorbild war meine Mutter. Für mich stellte sich also nie die Frage, ob ein Mann etwas besser oder anderes kann als eine Frau. Ich wurde also nie oder nur sehr sehr begrenzt in das klassische Rollemmodell ‚gepresst‘. Als Kind hinterfragt man das auch nicht, Kinder nehmen es so, wie es kommt. Sie sehen ihre Situation als einfach ’normal‘ an.
Das kann sich dann natürlich in der Pupertät ändern, aber die Grundprägung (Formung) bleibt selbst bei ‚Aufstand‘ oder ‚Ablehnung‘ beim Wandel zum Erwachsenen bestehen. Bewusst oder meist unbewusst. (Nur meine bescheidene Meinung ;-) )
Meine Söhne hatten mich (und natürlich meine Frau) als Vorbild (inzwischen sind meine Frau und ich 31 Jahre verheiratet). Sie kochen selbst und gerne, machen ihren Haushalt selbst, sind liebevoll und empathisch. Beide natürlich in ihren persönlichen Ausprägung. Die persönliche Ausprägung bzw. Stärken steuern noch zusätzlich die externe ‚Pressung‘. Meine ältere Schwester kann heute noch nicht kochen ;-) Sie hat aber andere Stärken.
Habe ich Fehler oder Fehler gemacht im Leben? Ganz sicher! Das Resultat ist aber für mich wichtig. Zwei Kinder, auf die ich stolz bin und eine Partnerin, mit der ich trotz den üblichen Alltagsproblemen bis zum Ende meines ‚Daseins‘ zusammen bleiben will.
Ich verstehe nicht, wie man sich so an Kondo abarbeiten kann, wie viele das jetzt tun (und zwar weit weniger überlegt als Du). „Weniger aufgeräumt“ heißt im Leben von Marie Kondo wahrscheinlich auch jetzt nicht, dass die Küchenschaben ein fröhlich Stelldichein feiern und das Jugendamt nicht mehr durch die Tür kommt, weil messiartig verstellt. In ihrem Leben heißt das wahrscheinlich: eine Topfpflanze steht schief und irgendwo liegt einsam und allein eine Kindersocke. Die Maßstäbe sind da ja sehr unterschiedlich, und sie kommt von sehr hohem Niveau.
Ich persönlich bin eher messiartig veranlagt und mir tut Aufräumen und Ausmisten psychisch gut. Genau so habe ich auch Marie Kondo verstanden: man soll doch bitte tun, was einem gut tut, die Sachen aufheben, die man mag, die weggeben, die einem das Leben nicht erleichtern. Sehr vernünftiger Ansatz. Ich habe mich dadurch nie unter Druck gesetzt gefühlt. Den Druck bauen andere auf, oft, habe ich den Eindruck, Frauen selbst, die sich gegenseitig bei aller Freundschaft auch so ein bisschen belauern, wer’s hinkriegt und wer nicht. Eine Systemdiskussion findet da, wo ich bin, schlicht nicht statt.
Das ärgert mich auch so! Wie aus „sie macht jetzt nicht mehr den kompletten Idealablauf“ gleich wird „haha, die ist jetzt Mutti und räumt nimmer auf, funktioniert also wohl alles gar nicht, nä?““.
Tatsächlich hat mich die grundsätzliche Frage „does it spark joy“ doch sehr erwischt. Frag ich mich ab und zu und versuche dann auch, dementsprechend zu handeln.
/nach Diktat in den Waschkeller ohne WLAN verreist//
Den dritten Artikel fühl ich.
Marie Kondo hat (für mich) schon zuvor ihre Glaubwürdigkeit verspielt, als ihr Shop anfing, zusätzlich zu Aufräummaterial vollkommen unnützen Krimskrams zu überzogenen Preisen anzubieten.
Weil sie suggeriert hat, dass das jeder kann, wenn er sich nur anstrengt und diszipliniert ist.
Deshalb: Ordnung ist das halbe Leben, aber die andere Hälfte gefällt mir viel besser!
Ich denke, es war wirklich ihr Hobby. Mit drei Kindern ist eben weniger Zeit dafür.
Wobei das sicher bei Frau Kondo auch sehr viel mit Schadenfreude und Missgunst zu tun. Und Eltern gönnen sich gegenseitig sowieso nicht die Butter auf dem Brot, da wird ständig verglichen und der Wettbewerb befördert.
Die Headlines der Medienlandschaft, Spiegel der Realität. Nicht. ? Wer weiß schon, wie es wirklich bei ihr aussieht oder auch nicht.
Hab die Filme sicherheitshalber nie gesehen, aber Wäscheteile, Unterhemden, Shirts… hintereinander, sichtbar in die Schublade zu legen statt übereinander hat mein Leben erleichtert.
?
„Selbstoptimierung hilft bei systemischen Problemen nicht.“
Möchte ein T-Shirt mit diesem Satz.
ich auch!
ja genau! hatte das gelesen und sofort als Sinnspruch verbildlicht
Jap! Das ist ein Satz, den ich gerne überall hinschreiben möchte. Mehrfach hintereinanander.
Hier ein kleiner Tröt-Thread von mir zum Thema (https://dizl.de/@swimtt/109766747901690121): „Diese Häme, mit der sich manche nun daran ergötzen, dass die (scheinbare) Goddess of #minimalism #MarieKondo in einem Interview sagt, sie habe nun mit dem 3. Kind genug vom akribischen Inventarisieren und Ordnung halten und sich für Unordnung und mehr Zeit für ihre Kinder entschieden. Uff, das offenbart so Vieles. Erstens über den Frust der hämischen Vielen mit ihrem eigenen #Konsumismus, geschenkt. Zweitens aber darüber, dass das, was Kondo getan hat, wenig mit #Minimalismus zu tun hat, wie ich ihn verstehe. Für sie war Ordnunghalten ein Job, sogar ein Wirtschaftsunternehmen. Sie verkaufte ihre Methode zum *äußerlichen* Ordnungschaffen, die nun leider Viele mit #Minimalismus verwechseln und folglich Kondos „Jobwechsel“ auch dem #Minimalismus anlasten. „Hab ich schon immer gewusst, dass so ein künstlich übertriebener Ordnungsfimmel nicht halten kann.“ Äh, nein. Bzw. ja. Wer wie Kondo Ordnung an perfekt gefalteten Hemden bemisst, wird irgendwann scheitern. Wer Dinge wegschmeißt (ja, bei ihr war es entsorgen! allein deshalb hab ich nie etwas von ihr zu Ende gelesen) mit dem Gedanken „kaufe ich wieder, wenn ich’s brauche“, hat nichts vom Geist des #Minimalismus verinnerlicht, sondern betreibt #Lifestyle, formt #Konsumismus lediglich um bzw. übertüncht ihn. Da ist mir offener Konsumismus lieber. Weder falte ich Kleidungsstücke ordentlich, noch besitze ich überhaupt ein Bügelbrett. Und Minimalismus, wie ich ihn auffasse, sorgt dafür, eben gerade MEHR ZEIT für das zu haben, was einem wichtig ist. Familie zum Beispiel. Kondo hat der ganzen Sachen einen echten Bärendienst erwiesen. PS: Minimalismus im so verstandenen Sinne https://dizl.de/@swimtt/109726593764886434 und eine reduzierte Umgebung funktionieren (gerade!) mit Kindern (und *für* sie) in meiner Erfahrung sehr gut.“ Und das möchte ich auch hier nochmal betonen: Minimalismus mit Kindern funktioniert, und zwar im Sinne des Zeit- und Nervensparens. Wenn (und das erscheint mir selten) Eltern das selbst authentisch leben. Mein Kind wächst da hinein, das ist das Entscheidende. Wenn ich einfach nur vom Kind verlange, die ranzige Tasse wegzugeben, ist das Geschrei selbstverständlich groß, wie du schreibst. Und zwar zu Recht!
Weil die Realität dazwischen kam, die allen anderen Menschen ohne privilegierte Situation auch vorher schon dazwischen gekommen ist…
Sehr beruhigend
Ging mir original nach dem 3. Kind auch so.
Weil die Uschi mit ihrem unwissenschaftlichen Kram total genervt hat?
Danke, dass Du so häufig über systemische Probleme schreibst. Das ist jedes Mal wieder sehr erhellend und entlastend.
Danke für den Text! Ja, es ist längst Zeit für die care Revolution! Ich wäre dabei.