Mich beschäftigt seit einiger Zeit die Fetischisierung von Härte. Das kam mir heute früh wieder in den Sinn als ich die Replys auf einen Tweet las. Der Ausgangstweet war folgender:
Niemand erwartet, dass wer erwerbstätig und krank geschrieben ist, arbeitet. Kranke Schüler:innen hingegen müssen an Tag 1 ihres Wiederkommens alles können oder parat haben, was durchgenommen wurde und sind dabei noch in der Holschuld. Was das soll, habe ich gefragt!
— Daniela Albert (@dalbert79) December 14, 2022
Eine Reihe von Antworten sieht so aus:
Die Empfehlung lautet also, dass man den Kindern möglichst früh beibringt über ihre eigenen Grenzen hinaus zu gehen und jederzeit Leistung zu zeigen.
Denn – am Ende sollen auch die Arbeitnehmenden nicht so rumjammern, Klappe halten und arbeiten. Egal in welcher Lebenslage sie sind. V.a. die, die noch Zusatzbelastungen haben (Eltern – Mütter insbesondere, Menschen, die Angehörige pflegen, Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen) sollen einfach immer weiter arbeiten als sei nichts. 100% Leistung, Vollzeit, Überstunden. Wer weniger macht, hat keine Ambitionen, ist faul, ist eine Last.
Es ist mir unbegreiflich. Denn natürlich durchleben Menschen verschiedene Lebensphasen. Mal ist man ohne Belastungen und mal mit. Es ist mir unbegreiflich, dass wir in einem System leben, indem wir nicht gemeinsam daran arbeiten, dass alle gut leben können. In dem es nicht ein Wert ist, sich zu überlegen: Es gibt einfach Verpflichtungen neben der Erwerbsarbeit – wie können wir die verteilen und wie können wir Platz schaffen, so dass alle gut leben können. Lieber kacken wir uns gegenseitig an, schmücken uns mit Opferbereitschaft und beißen die Zähne zusammen, um einfach so weiterzumachen als gäbe es nur die Erwerbsarbeit und sonst nichts. Und die Kinder, ja die, die sollen das von klein auf lernen.
Dieses verzerrte Bild ist mir wirklich ein Rätsel. Man findet es überall. Zum Beispiel in Jobanzeigen, in denen sich Arbeitgeber als besonders familienfreundlich hervortun wollen:
Nein, es ist eben nicht beides gleichzeitig möglich. Nein, Homeoffice ist nicht Vereinbarkeit in dem Sinne, dass man erwerbsarbeiten kann UND sich um die Kinder oder Angehörige kümmert.
Homeoffice hilft Wegezeiten zu sparen. Das ist ein Benefit. Aber Homeoffice ist kein Konzept Familie (und WTF Hobby????) und Job zu vereinen.
Was hier als toll dargestellt wird, ist eine Krücke, die schon in der Pandemie zur völligen Erschöpfung geführt hat. Das jetzt als Konzept für Vereinbarkeit anzupreisen (mindestens in der zitierten Form) ist einfach falsch. Erwerbsarbeit muss sein. Aber wie kann ein Staat davon ausgehen, dass beides gleichzeitig geht? Care und Erwerbsarbeit und dann kein krisensicheres Konzept für Kinderbetreuung und Pflege?
Care muss vorausschauend gedacht werden. Mitgedacht werden. Wir müssen im Kopf behalten: bestenfalls sind wir noch nicht in der Situation nicht 100% leisten zu können. Aber bei den allermeisten Menschen wird das Leben einfordern, dass sie sich kümmern müssen und zwar um sich oder um andere. Menschen werden krank, Menschen bekommen Kinder, Menschen werden alleinerziehend, Menschen werden pflegebedürftig.
Ich finde es wichtig den Kindern genau das beizubringen. Dass sie auf sich selbst acht geben und dass, wie weil sie das tun, dann auch auf andere achtgeben. In meiner Timeline hatte neulich jemand (ich erinnere mich leider nicht wer) ein Shirt an, auf dem stand: „Soft as fuck“. Da dachte ich: DAS ist mal ein Wert, den ich teilen kann.
Um den Schulbezug aufzugreifen: Es gibt Konzepte, die vom Gleichtakt-Lernen und Frontalunterricht sich nicht nur gelöst sondern es vollkommen verbannt haben. Alle Kinder bekommen die Förderung, die sie benötigen und werden Individuell angesprochen. Glecihzeitig lernen sie, wie man sich selbst und vor allem gemeinsam mit anderen organisiert, wie man Ziele setzt, wie man sie erreicht. Und solche Konzepte sind bereits 100 Jahre alt: Montessori und Jena-Plan. Spätestens seit den 1960er Jahren weiß die Bildungsforschung auch, dass unser Schulsystem sch** ist und keine Gefestigten, orientierten Menschenhervorbringt und dass die alternativen Konzepte besser funktionieren. Aktuell wird erforrscht, warum das so ist, inklusive Datenerhebung und wissenschaftlicher Begleitung: Schulversuch [Universitätsschule](https://universitaetsschule.org) Dresden.
Meine beiden Kinder gehen dahin. Sie sind glücklich, selbständig, wissen, was sie wollen und haben keine Versagensängste.
Dieser Beitrag zeigt deutlich auf, wie wichtig es ist, dass Schulen ein Konzept verfolgen, das auf individuelle Förderung und selbstständiges Lernen abzielt. Es ist ermutigend zu lesen, dass Konzepte wie Montessori und Jena-Plan bereits seit 100 Jahren erfolgreich eingesetzt werden. Es ist beeindruckend, dass aktuell wissenschaftliche Studien durchgeführt werden, um die Vorteile dieser Konzepte zu erforschen.
PS: Ich würde gerne mehr über die Ergebnisse des „Schulversuchs“ in Dresden erfahren.
Hast du dieses Tagesspiegel-Interview schon gelesen? Musste dabei an dich und Mental Load denken.
tagesspiegel.de/wissen/was-jun…
Was ich nicht ganz verstehe: Macht ihr das alle einfach mit?
Wenn mein Kind krank war und am ersten Tag direktr was nachschreiben soll dann schreibe ich der Lehrkraft das das nicht geht.
Da gibt es doch auch Regelungen dazu. Oder ist das auch wieder so etwas das jede Schule für sich selbst festlegt, wie z.B. ob über die Ferien Aufgaben aufgegeben werden dürfen?
Ich verstehe das viele (vermutlich fast alle) Eltern einfach keine Energie mehr haben zu kämpfen, aber ich sehe gerade im Bereich Schule auch immer wieder die sehr deutsche „Tugend“ einfach zu machen was gesagt wird. (Und sich dann woanders darüber aufzuregen.)
Wir akzeptieren alle zu viel Bullshit und haben auch einfach nach 3 Jahren Ausnahmezustand absolut keine Kraft mehr zu kämpfen. Das ist doch scheiße!
Ja! Ja! Ja! ruft es aus mir heraus, wenn ich diese und ähnliche Artikel von dir lese und es denkt in mir drin: man müsste doch mal, ich sollte doch noch, ab morgen dann, in den Stadtrat, einer Partei beitreten, einen Verein gründen … nur um zehn Minuten später müde und geschafft ins Bett zu fallen und froh zu sein auch diesen Tag mit (Teilzeit) Arbeit im „luxuriösen“ Home-Office und Putzfrau geschafft zu haben. Mit zwei Kindern sollte das doch wirklich zu schaffen sein …
Von Vereinbarkeit kann da wirklich nur sprechen, wer nicht in dieser Lebenssituation steckt bzw. die schon längst vergessen hat …
Wie wäre ein direkter Austausch mit der HR Direktorin des Unternehmens?
Aber wo kämen wir denn da hin, wenn Leute nicht mehr klaglos für den Chef buckeln und die, die aus der Reihe tanzen, durch Anranzen wieder auf Kurs bringen???
Stimmt – auch dass in der Politik oft nicht nur von „Arbeiten“, sondern von „hart arbeiten“ die Rede ist, ist mir in letzter Zeit oft aufgefallen. (und ich fürchte, die wirklich harte Care-Arbeit ist damit mal wieder nicht gemeint)
Diese Stellenanzeige haben Menschen ohne Kinder oder zu pflegende Angehörige geschrieben. Parallelwelt.
Ich bin aus der Parallelwelt – weder Kinder noch zu pflegende Angehörige. Es stimmt schon, das ist wirklich eine Parallelwelt. Aber im Leben würde ich solche Antworten nicht schreiben. Die Typen sind nicht aus meiner Parallelwelt. Die sind einfach mies.