Über die Glorifizierung von Unvereinbarkeit

Vorab: Ich wünsche mir eine Welt, in der Menschen sich zwischen Erwerbsarbeit und Carearbeit nicht entscheiden müssen. In der die Entscheidung nicht lautet „entweder – oder“ sondern „beides“. Und dieses „beides“ soll gleichzeitig nicht bedeuten, dass Menschen Vereinbarkeit auf eigene Kosten herstellen, sondern dass es um sie herum ein System gibt, das anerkennt, dass menschliches Leben ohne Carearbeit nicht möglich ist und dementsprechend Care so organisiert, dass sich Menschen nicht bis zur Dauererschöpfung aufreiben müssen, um ein gutes Leben für ihre Kinder und ihre pflegebedürftigen Angehörigen zu ermöglichen.

Im Moment ist das nicht so. V.a. weil Carearbeit gar nicht erst berücksichtigt wird und Menschen (mehrheitlich Frauen[1]) sie unentgeltlich oder schlecht bezahlt leisten. Einfach weil …irgendwer muss es ja tun.

Ich habe mir das Video oben heute früh mehrere Male angeschaut und die Kommentare gelesen (mehrheitlich: „Awwww! Beautiful!“), weil es mich so fasziniert hat. Was sehe ich da? Eine Balletttänzerin? Ich klicke mich durch das Profil… sie tanzt nicht als Hobby, es scheint ihr Beruf zu sein. Eine Balletttänzerin also, die … alleinerziehend ist? Sie scheint nicht alleinerziehend zu sein, wenn ich das Profil richtig deute. Eine nicht alleinerziehende Balletttänzerin also, die … keine Betreuungsmöglichkeit für ihr Kind hat? In vielen Ländern ist das ja so – es gibt einfach keine staatliche Organisation von Kinderbetreuung. Man muss es selbst organisieren und v.a. komplett selbst zahlen.
Also: Wow. So nah nach der Geburt (thinking of Beckenboden) mit Baby tanzen… das ist krass. Grundsätzlich gut, dass der Arbeitgeber das ermöglicht. Die Tänzerin schreibt es ja selbst: sie ist glücklich, dass sie keine entweder oder Entscheidung treffen muss.

Aber was wird sie das kosten? Ihren Körper? Und ihre Nerven? Was, wenn das Kind aus verständlichen Gründen mal nicht mittanzen mag?

Und … wo ist der Vater?

Also schuldig im Sinne der Anklage: Ich habe mich wirklich zuerst gefragt: „Warum muss die Frau ihr Kind mit in die Arbeit schleppen? Hat das Kind keinen Vater, der sich kümmern kann? Wieso leben wir in einer Gesellschaft, in der die meisten es herzerwärmend finden, wenn eine Mutter beim Kind ist, selbst wenn sie arbeiten muss. Warum glauben so viele noch, dass v.a. die Mutter das Beste fürs Kind ist (vermutlich sogar oft auch die Mütter selbst)? In der wir noch nicht glauben, dass ein Kind viele Bezugspersonen haben kann, die ihm eine gutes seelisches und körperliches Heranwachsen ermöglichen? In der wir wirklich noch glauben, dass eine berufstätige Mutter, die sich aufopfert besser fürs Kind ist als eine gut ausgebildete Erzieherin…?“

Ich weiß. Social Media präsentiert nur einen Ausschnitt. Ich weiß rein gar nichts über den Vater. Wie oft er sich kümmert. Vielleicht ist er auch Tänzer und sie wechseln sich ab. Vielleicht ist er auf Geschäftsreise und die beiden haben einfach eine Terminkollision mit der sie umgehen müssen. Vielleicht hat er gerade eine Blinddarm-OP und kann einfach nicht.

Aber ja, mich verwirrt das große „Ah“ und „Oh“ und Entzücken, dass man hier eine Mutter sieht, die ihrem Beruf nachgeht UND für ihr Kind da ist.

Denn persönlich finde ich es nicht entzückend (s)ein Kind mit in die Arbeit nehmen zu müssen[2]. Persönlich finde ich es hart, dass es so viele Berufe gibt, für die Kinderbetreuung nicht mitgedacht wird. Nämlich so ziemlich alle Berufe, die vor 8 Uhr und nach 17 Uhr stattfinden. Persönlich machen mich die Kommentare traurig, die mich zahlreich erreicht haben, als ich das Video geteilt habe: „Vielleicht will sie ihr Kind ja nicht in Fremdbetreuung geben?“
Ja, vielleicht will sie das nicht. Das Wort „Fremdbetreuung“ sagt ja schon alles. Als ob ein Kind in eine Krippe oder in den Kindergarten geben „Fremdbetreuung“ ist. Ich hatte das Glück, dass ich meine Kinder in liebevolle, pädagogisch ausgebildete, geduldige Hände geben konnte. Das wünsche ich allen. Wir brauchen keine „Kinderaufbewahrungsstätten“, sondern qualitativ hochwertige, finanzierbare Betreuungsplätze. So dass Eltern sich eben nicht genötigt fühlen ihre Kinder mit in die Arbeit zu bringen.

(P.S. Aus dem selben Grund übrigens machen mich Rückbildungskurse mit Baby in der Zwischenzeit traurig. Ich meine: Hallo? Wieso ist das der Standard? Wieso ist es nicht möglich EINMAL in der Woche 90 min das Baby abzugeben, um sich auf sich und seinen Körper zu konzentrieren. Wieso geht das standardmäßig nicht ohne schlechtes Gewissen? Wieso zahlen die Krankenkassen nicht per default zu jedem Rückbildungskurs eine Babybetreuung … aber ach. Der Artikel wird schon wieder ausschweifend.)

[1] Stichwort Gender Care Gap
[2] Never forget in diesem Kontext unsere entzückende Ex-Familienministerin, die im Pandemie-Lockdown sagte: „Homeoffice mit kleinen Kindern ist anstrengend, aber möglich!“ Der Satz wird mich für immer auf die Palme bringen.

PP.S. Ja, aus ergonomischen Gründen soll man die Babys nicht nach vorne tragen. Wir sehen es alle.

126 Gedanken zu „Über die Glorifizierung von Unvereinbarkeit“

  1. Der Begriff der Glorifizierung ist hier wichtig für die Trennschärfe.

    Wir hatten das Thema neulich, darum bin ich zwiegespalten. Ganz ehrlich, mein Freund ist arbeitet viel und mehr als ich, aber er hat das Kind schon öfter mit zur Arbeit genommen als ich, weil er einen modernen Arbeitgeber hat. Natürlich ist das nicht ideal. Aber auch oft nicht zu ändern. Etwa, da es Berufe mit unregelmäßigen Abendterminen gibt und wir beide nicht den finanziellen Spielraum haben, dass eine/r noch kürzer treten könnte. Es ist wie es ist. Und vielfach eine Luxusdiskussion.
    Neulich hatte ich mein Kind auch das erste Mal auf der Arbeit dabei. Es war ein Sonderfall, da die Kita einfach mal Konzeptionstage hatte. Hat ja nicht jeder eine Oma oder einen Opa um die Ecke, wovon man in der Kita offenbar ausgeht. Ich war dankbar, dass es unproblematisch ablief und mir das auf der Arbeit niemand als unprofessionell angekreidet hat, obwohl ich ganz offenkundig nicht die übliche Leistung bringen konnte. Für die Kleine war es spannend.
    Kinder gehören zum Leben und ein Job muss ein Ort sein, wo wir Menschen sein dürfen. Früher haben Kinder ihre Eltern nicht einfach nur mit Aktentasche verschwinden sehen, sondern deren Berufsleben häufig miterlebt. Dass heute so streng getrennt wird, ist eine relativ neuartige Entwicklung, in der Familie geradezu als ungehörig, als Makel gilt. Insofern finde ich es richtig, dass solche Dinge gezeigt werden. Es gibt nämlich durchaus noch Arbeitgeber, die da wirklich null Verständnis haben („Haben Sie keine Nachbarn? Die können doch sicher mal ran.“). Wir arbeiten für die Sichtbarkeit von allerlei Menschengruppen in der Gesellschaft und in der Öffentlichkeit, und das ist gut, aber warum sollen wir dann Kinder verstecken?
    Und wenn dann die Frage: „wo ist eigentlich der Vater?“ kommt, die ich leider auch schon oft hören durfte, muss ich leider sagen: diese Frage hilft der Mutter im Akutfall überhaupt nicht. Wenn der Vater es nicht macht und sie in Not ist, helfen ihre weise Sprüche und Verurteilungen nichts. Das Ergebnis ist, dass Muttern sich krank schreiben lässt, damit das Kind betreut ist, und drüber schweigt, wie die Realität aussieht. Wollen wir das?

    Und ja, Glorifizierung kann es nicht sein. Wer es sich leisten kann, damit hausieren zu gehen und Glamourpunkte einzuheimsen, dem oder der kaufe ich das Problem der Vereinbarkeit nicht ab.
    Und nein, das Tanzen mit Trage sieht nicht gesund aus.

  2. Mit dem Baby in der Trage hat sie auf jeden Fall ein extra Training, wenn sie das Gewicht ständig ausgleichen muss. :-)
    Ich möchte mir jetzt gerne vorstellen, dass sie fünf min später eine Pause zum stillen macht, wofür es in der Halle ein bequemes Plätzchen gibt und die Kolleginnen und der Trainer immer mal 15 min das Baby halten, wenn sie lebhaftere Sprünge üben möchte.
    Gesendet aus dem Homeoffice mit hustendem Kind, immerhin inzwischen fieberfrei. Keine Pointe. (Glücklicherweise bin ich EDV-Hexe, keine Ballerina.)

  3. Was sollen diese (aus meiner Sicht paternalistischen) Mutmaßungen über das Leben und den Körper der freiberuflich tätigen und in Los Angeles ansässigen Balletttänzerin (so die Selbstauskunft auf ihrem Instagram-Profil) Gracie Holway? Können Gedanken zur (Un-)Vereinbarkeit von Care- und Erwerbsarbeit nicht losgelöst von solchen Mumaßungen formuliert werden?

    1. Doch könnten sie. Wenn sie durch ein bestimmten Grund ausgelöst werden, gebe ich Kontext. Ich formuliere meine Gedanken und hab auch geschrieben, dass ich über die konkreten Gründe nichts weiß. Die Glorifizierung findet außerdem durch die zahlreichen Kommentare und +55.000 Likes statt und nicht durch die Ballettänzerin selbst.

      1. Zitat Text: „Also: Wow. So nah nach der Geburt (thinking of Beckenboden) mit Baby tanzen… das ist krass. Grundsätzlich gut, dass der Arbeitgeber das ermöglicht. Die Tänzerin schreibt es ja selbst: sie ist glücklich, dass sie keine entweder oder Entscheidung treffen muss.
        Aber was wird sie das kosten? Ihren Körper? Und ihre Nerven? Was, wenn das Kind aus verständlichen Gründen mal nicht mittanzen mag?“

        Aus meiner Sicht sehr suggestiv formulierte Fragen – nicht zuletzt über mögliche körperliche Folgen resultierend aus dem Wiedereinstieg ins Training, um dann zu unterstreichen, dass man im Grunde nix weiß. Wozu das? Aus meiner Sicht schwächt das den Text. Wie gesagt meine Sicht, die längst nicht die allein seligmachende ist ;-).

  4. Danke für den Text! Es ist so wahr. Und so lange wir das für „Vereinbarkeit“ halten, haben wir echt ein Problem. Ich wollte auch beides, Beruf und Kind. Und das ist auch vollkommen legitim! Aber die Gleichzeitigkeit, die oft erwartet wird – 24/7 Kinder UND Job- die ist so falsch.

  5. Vollste Zustimmung. Ich bin total froh, dass das Kind unter der Woche Zeit mit anderen Kindern und liebevollen, gut ausgebildeten Fachkräften verbringen kann, während wir arbeiten. Diese Kontakte könnten wir ihm nicht ersetzen.
    20-30h/ Woche ftw. Geht aber nur dank Mieteinnahmen.

  6. als ich schwanger war, wollte ich auch später diese coole mama (c) sein, die alles genauso macht wie vorher, nur mit kind dabei. musste langsam & schmerzhaft lernen, dass das weder meinen noch den bedürfnissen meines kindes entsprach.

  7. Ich habe das Video so gelesen, dass sie deutlich machen will, wie sehr es sie freut, Mutter UND Balletttänzerin zu sein. Dass es also natürlich ein gestelltes Video ist, um das zu illustrieren. Es sagt für mein Empfinden nichts aus über die Betreuungsmöglichkeiten, die sie hat.

    1. Wie kommt man denn zu der Befürchtung, dass man entweder Tänzerin (beliebiger Beruf) oder Mutter sein kann?
      Die „oder“-Entscheidung basiert doch auf der Befürchtung, dass beides nicht miteinander vereinbar ist und wann ist es u.a. nicht vereinbar? Verstehe nicht wie das generell nichts mit Betreuungsmöglichkeiten zu tun haben kann.

      1. hmm prinzipiell bin ich sehr dafür, dass wir Frauen da neu denken dürfen und auch Glaubenssätze hinterfragen sollen. Gleichzeitig finde ich es auch sehr gefährlich, dass es dargestellt wird, dass man alles gleichzeitig haben kann. M.m.n. funktioniert das nicht immer. und Kita ist zwar keine Fremdbetreuung, aber eben auch keine individuelle Betreuung meines Kindes. Mein Kind ist eines von vielen und es kann niemals so schnell und zuverlässig auf die Bedürfnisse eingegangen werden wie kleine Kinder es brauchen. Und wenn ich Karriere mit Vollzeit plus vereinbaren will, ist mein Kind 10h+ in der Kita. Und das muss man einfach auch nicht positiv darstellen, daran ist nichts schön, auch nicht für die Kinder. Carearbeit sollte bezahlt werden, unbedingt. Und ich entscheide mich dafür die Verantwortung über einen Menschen zu übernehmen und muss vorher auch entscheiden, ob es mir möglich ist für bestimmte Zeit Kompromisse einzugehen. das Baby in dem Video ist noch so klein, selbst wenn Betreuung da wäre, würde ich es dort nicht hingeben.

        1. Ja, VZ (im Sinne von 40 Std +) und Kinder ist generell hinterfragungswürdig. Ist eigentlich per default Quatsch. Politisch sollte man deswegen anstreben die Vollzeitarbeit auf 30 Wochenstunden zu senken.
          Und ob es nun „artgerecht“ ist ein Kind in Einzelbetreuung oder in Gruppenbetreuung zu haben… naja das kann man auch diskutieren.
          Meine Aussage soll jedenfalls nicht sein, dass bitte ALLE immer die ganze Zeit erwerbsarbeiten.

      2. Ich kann doch Tänzerin/etc UND Mutter sein, ohne meine Kinder auf der Arbeit dabei zu haben. Ich bin ja auch Ehefrau ohne meinen Mann immer bei mir zu haben. Sie ist genauso Tänzerin UND Mutter, während sie alleine auf der Bühne ist oder zuhause das Baby füttert.

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