Mit Marcus Richter habe ich mich in Folge 1 des Podcasts „Nur 30 Minuten, dann ist aber Schluss„, die am 27.12. ausgestrahlt wird, über den Begriff Digital Natives unterhalten. Grundsätzlich ist erstmal eine Generation gemeint, die von Kindheit an mit Informationstechnologien und dem Internet aufgewachsen ist und eine Welt ohne digitale Medien nicht kennt. Der Gegensatz dazu ist der Digital Immigrant. (Gabler Wirtschaftslexikon).
Allerdings verschiebt sich diese Generation ständig nach vorne. Als 2007 die erste re:publica stattfand, wurden hier auch die Digital Natives begrüßt. Gemeint waren Menschen, die Anfang der 1970er geboren wurden. Pioniere insofern als dass sie schon seit Mitte der 1990er das Internet zu ihrem Zweitlebensraum gemacht hatten. Damals war das mit Kosten und Mühen verbunden. Ich erinnere mich gut an die Zeiten, in denen ich erst ab 22 Uhr mit meinem 56k-Modem online ging. Unvergessen der Sound:
Auch das Ins-Internet-Schreiben war in Ermangelung von einfach zu bedienenden Content Management Systemen noch anstrengend. Ohne Seiten wie selfhtml hätte ich nicht einen Satz veröffentlichen können.
Jetzt sind es unsere Kinder, die mit Digital Natives gemeint sind. Denn sie wachsen mit Geräten auf, die in der Zwischenzeit wirklich Plug & Play sind. Leicht zu bedienen, so leicht sogar, dass sie z. B. über Sprachsteuerung bedienbar sind, so dass Kinder nicht mal lesen und schreiben können müssen, um Online-Dienste nutzen zu können.
Und da kommt der Clash. Digital Native sein heißt nämlich schon lange nicht mehr, dass sich Nutzer*innen mit den einzelnen Technologien oder den dahinter liegenden Prinzipien auskennen oder sie verstehen. Nein. Denn die sind alle unsichtbar oder mindestens intransparent.
Vom komplizierten Internet und dem Tippen irgendwelcher Befehle in schwarze Displays mit grüner Schrift wurde uns der Weg einfach gemacht. Freundlicherweise haben sich Facebook, Google und Amazon Gedanken gemacht, wie sie uns alles so einfach machen, dass jede/r die Technologie nutzen kann. Die Internet-Giganten waren erfolgreich. Selbst meine Mutter haben sie. Die war nämlich schneller auf WhatsApp als ich ihr erklären konnte, was überhaupt ein Messenger-Dienst ist und dass es empfehlenswerte Alternativen gibt. Sie zu einem Wechsel zu bewegen ist aussichtslos. Denn, sie hat ja nichts zu verbergen als unbescholtende Rentnerin. Was soll Mark Zuckerberg schön Böses mit ihren Interessen anstellen: Stricken, Hunde, Wanderausflüge in Franken. Genauso wie meine Kinder am Ende, die zwar Wire für die Kommunikation zu mir verwenden, mit ihrer Peergroup aber WA nutzen. So wie eben 95% der 12 bis 19 Jährigen (JIM Studie 208).
Natürlich bin auch ich in den Fängen der Großkonzerne. Kaum gab es Gmail war ich da. Unendlicher Speicherplatz (während mein Mailfile im Büro lange auf 40 MB [wirklich!] begrenzt war), alles durchsuchbar und noch besser: auffindbar. Fuck ja. Vom E-Mail-verschlüsseln gar nicht erst zu sprechen.
Für mich sieht der technische Fortschritt im Moment aus wie ein Schaufelradbagger – nur eben in der Geschwindigkeit eines ICEs. Wer stellt sich dem schon entgegen? Ziemlich wenige. Und jetzt kommt unsere Digitalstaatsministerin Dorothee Bär und beklagt sich über die satten fortschrittsträgen Deutschen, die ach, ach, sich um Datenschutz und anderen unnötigen Quatsch sorgen. Sie befürchtet, dass Datenschutz als: „Totschlagargument vorgeschoben wird, um Innovationen zu erschweren oder gar zu verhindern. Ethik sollte aus meiner Sicht unser Kompass für unser gedeihliches Miteinander sein.“ und weiter
Das „Weiterkommenwollen“ habe nachgelassen – früher ging es darum, dass es die nächste Generation einmal besser haben solle, heute wollten viele nur verhindern, dass es ihnen schlechter geht. Im Übrigen sei für viele Menschen wichtig, dass sie ihre Work-Life-Balance halten. „Der Hunger fehlt“, meint Bär.
Quelle: „Zu satt für die Digitalisierung“, FAZ
Ja, der Hunger fehlt, liebe Frau Bär. Ich hab genau das in einem Personalgespräch vor nicht allzu langer Zeit gehört. Der neuen Generation bedeute Zeit etwas. Zeit zum Leben, für die Familie und für Hobbys. Der Personaler, der selbst sein Leben in einer 50-60 Stunden Woche an den Arbeitgeber geschenkt hatte, stöhnt. Wie kann sie nur die neue Generation? Ja, wie kann sie nur. Was ist falsch an Leistung bis zum Burnout. Jede/r ist doch ersetzbar. Wenn der eine umkippt, steht der nächste in der Reihe. Höher, schneller, weiter! Das hat uns der Kapitalismus gelehrt.
Den Claim „Digital first, Bedenken second“ hat sich etwa nicht der Postillion ausgedacht, sondern die Gestalter des Plakatmodels Lindner. Digital first, Bedenken second, das hätte zumindest laut verlinkten Artikel Dorothee Bär auch so gerne.
Die Chinesen sind schließlich auch schneller im Spargelanbau! Da muss Deutschland auch mal aufschließen. Warum den USP in Sachen Datenschutzstandards also nicht mit dem Schaufelradbagger platt machen und auf in die strahlende Zukunft in der man sich nicht mit lästigen Fragen auseinandersetzen muss. Wer will schon noch „eine Utopie eines dezentralen, offenen Netzes, das alle gleichberechtigt verbindet.„?
Die Antwort: Ich, ich will das und ich wäre total begeistert, wenn irgendjemand mal satt wäre und sich zufrieden über den Bauch streicht und sich fragt: Jetzt, wo ich satt bin… wie soll es da weiter gehen? Einfach weiter wie bisher – weil wir haben es ja immer schon so gemacht? Gibt es Alternativen? Haben wir die richtigen Schwerpunkte gesetzt? Wo sind wir über das Ziel hinausgeschossen? Wo müssen wir Prozesse verbessern?
Das ist nicht technologiefeindlich. Womöglich ist es sogar schlau.
Wo hat uns das „Bedenken second“ denn bislang hingeführt? Ich könnte einen Roman schreiben über die neuerlichen Entwicklungen unseres Gesundheitssystems oder über die Klimapolitik. Deswegen kann ich eines sagen: Ich bin technikbegeistert! Ich hoffe darauf im Alter von fröhlichen Pflegerobotern betreut zu werden, damit sich Menschen ihre Rücken nicht mehr kaputt machen, damit ich mich nicht schämen muss, wenn mir jemand die Windel wechselt. Ich warte auf die Roboterhaustiere, die ich im Urlaub ausschalten kann und sonst lieb habe. Freue mich auf die selbstfahrenden Hop-on/Hop-off Elektroautos in der Benzinautofreien Innenstadt, die keinen Individualverkehr mehr kennt. Digitalisierung go on. Aber warum soll das alles im Zeichen des Kapitalismus kommen? Aufgeteilt unter ein paar wenigen Monopolisten, gefüttert mit meinen Daten, meiner Privatsphäre geopfert.
Ich bin ein gottverdammter Digital-Hippie. Ich will, dass mir die Roboter endlich die Arbeit wegnehmen, während ich von meinem Grundeinkommen lebe. Ich will, dass Digitalisierung nicht auf dem Rücken anderer stattfindet, sondern dass es allen gleich gut geht. Dann springe ich bei voller Netzabdeckung glücklich über die Felder Brandenburgs, muss nie wieder Essen mitnehmen, weil Drohen auf jede Blumenwiese liefern. Aber dafür bin ich nicht immer und jederzeit trackbar, willige nur noch in AGBs ein, die ich a) verstehe und b) die mir schildern, wie nur die Daten erhoben und nicht an Dritte weitergegeben werden, die der jeweilige Dienst braucht.
Zu wollen, dass Digitalisierung auch durch Ethik bestimmt wird, ist weder fortschritts- noch technologiefeindlich, liebe Frau Bär.
Liefernde Drohnen ?
Ich weiss, dass Du mit Ersetzbarkeit so was wie Austauschbarkeit meinst, Entindividualisierung. Ersetzbarkeit im Job, im Büro an sich halte ich für gut, denn das ermöglicht Flexibilisierung: ich kann nicht da sein, kein Problem, die Kollegin übernimmt, die kann das genauso gut. Das Gegenteil, unersetzlich zu sein, ist doch ein vergiftetes Kompliment: wenn an Dir allein Wohl und Wehe eines Projektes liegt, wie kannst Du es dann wagen, über Urlaub, Überstunden abbummeln, früher Schluss machen wg. Kind etc. nachzudenke und die Firma im Stich zu lassen? Gesagt zu bekommen, man sei unersetzlich, ist eine Aufforderung zur Selbstausbreitung.
Ansonsten: Danke, ich konnte heute morgen einmal mehr kaum glauben, was Politiker so von sich geben „Ethik vorschieben“, immerhin weiss man, welchen Stellenwert Ethik bei Fr. Baer hat.
Nur die Utopie eines freien Internets, das den Leuten das Leben leichter macht, ohne sie hinterrücks zu benutzen, dievwird, denke ich jedenfalls, Utopie bleiben. Die Produktionsroboter haben auch nicht zur 70 Stunden Woche geführt wie versprochen. Aber wer weiß, vllt. gibts ja doch Revolution.