Wir sind bislang jeden Tag ein Stück um den See gelaufen. Eine Art Promenade oder einen richtigen Uferweg gibt es nicht. Es sind eher Trampelpfade, die vereinzelt von Privatgrundstücken, die direkt ans Wasser reichen, unterbrochen werden.
Ich finde erstaunlich, dass es so nah an Berlin einen so großen See gibt, der nicht komplett zugebaut ist.
Die paar Häuser, die hier stehen, weisen eine rätselhafte Architektur auf. Entweder sie sind aus dunklem Holz und erinnern mich an den Schwarzwald – nur dass sie aussehen wie eilig von Hand zusammengezimmert oder es sind völlig geschmacklose Prunkvillen, die wie aus einem Katalog bestellt aussehen. Ohne Charme, Charakter und Stil. Groß, kalt, pastellig, vier Säulen zum See.
Ich stelle mir vor wie wohlhabende Menschen gelangweilt in einem Fertigvillenkatalog blättern: Villa Rimini, 450.000 Euro, Villa Miracolo 570.000 Euro, Palazzo Pomposo 320.000 Euro.
Ein Stückchen näher zu unserem Feriendomizil gibt es Häuschen im skandinavischen Stil (steht zumindest auf der Immobilienanzeige). Sie kosten nur 220.000 Euro. Wenn man so wie ich, die Berliner Immobilienpreise gewöhnt ist und dann sieht, dass man für nur 220.000 Euro ein 90 qm großes, neues Häuschen direkt an einem See haben kann, dann beschleicht einen der Gedanke: Ach, so ein Häuschen… ach was, ZWEI Häuschen… das könnte man sich locker leisten. Nullprozentfinanzierung (denn kein Schwein schafft es bei den Lebenshaltungskosten auch noch Geld anzusparen), schon in 40 Jahren abgezahlt und dann hat man es schön hier, wenn man alt ist bzw. es bleiben einem mit etwas Glück noch ein bis zwei Jahre, die man das Häuschen schuldenfrei genießen kann, bevor man stirbt.
Es hat geschneit und alle Wege sind geräumt. Wirklich alle. Ich schaue gegen 6 Uhr morgens aus unserem Schlafzimmerfenster, selbst der Weg neben unserem Parkplatz ist geräumt. Der Gehweg, die Straße, die Hauptstraße sowieso, der Trampelpfad zum Bäcker.
Wie machen die das?
Bzw. wie kann es sein, dass die Berliner Unternehmen, die für den Winterdienst in der Hauptstadt zuständig sind, es nie gebacken bekommen?
Geräumte Gehwege! In Berlin walzt man die Schneedecke platt und dann streut man wie irre Kies (oder wie das heißt) drüber.
Das macht man jeden Morgen an dem es schneit. Wie eine Lasagne aus geplättetem Schnee und Streu.
Wenn es taut, ist alles voller Matsch und es liegen Tonnen an Streu herum. Ist der ganze Schnee verschwunden, kommen Männer mit Laubbläsern (ich schwöre, ich habe das wirklich mehrere Male gesehen!) und pusten den Streu maximal ineffizient an die Wegesränder, von wo aus er irgendwann verschwindet.
Vielleicht könnte die Berliner sich ja mal einen Winderdienst Experten aus Brandenburg ausleihen und die machen dann ein Bootcamp zum Thema Schnee.
Wahrscheinlich haben die Brandenburger einfach die geilere Technik. Echtzeitkarten mit automatisch ausgelösten Räum-Alarmen, wenn die Temperatur unter 4 Grad fällt.
Ich denke, der Brandenburger Winterdienst sitzt wie anderswo die Feuerwehr in einem Winterdienstquartier und wenn die Wetter-App Schneegefahr meldet, dann springen alle von ihren Plätzen direkt in die Stiefel, um die die Schneehosen schon drapiert sind und fahren mit ihren Räumfahrzeugen los.
Elektroräumfahrzeuge müssen es sein, denn ich habe hier noch nie ein Geräusch gehört.
Überhaupt. Diese Stille hier macht mich völlig verrückt. Zum Glück haben wir die Kinder dabei, die ständig rumschreien, weil sie im Schnee spielen. „Schau mal, Mama. Mama, Mama, Mama! MAAAAMA.“
Ich denke an meine Mutter mit ihrem Spruch: „Für jedes Mama ne Mark und ich bin Millionärin!“
Aber im Ernst, außer unseren Kindern macht hier niemand Krach. Die Menschen nicht, die Fahrzeuge nicht (weil es einfach keine gibt), kein Laut aus den winterschlafenden Häusern, in den Restaurants sind wir alleine.
Einmal flog eine Kohlmeise auf unsere Terrasse. Die Kinder waren ganz aufgeregt. „NATUR! MAMAMAAAAA! KOMM! SCHAU MAL EIN VOGEL!“ Er macht „piep“, es klang wie ein sehr rabiates PIEP. Wahrscheinlich hat er die Kinder geschimpft weil sie so laut waren.
Abends, gegen 24 Uhr, wenn wir ins Bett gehen, öffne ich nochmal das Fenster um Sauerstoff rein zu lassen und horche in die Nacht. Es ist wirklich NICHTS zu hören. Keine entfernte Straße, nicht mal die Straßenlaternen summen.
Zwei Tage gefällt mir das, doch dann fängt es an mich nervös zu machen. Was ist hier eigentlich los? Wo sind die Menschen? Wo sind die Geräusche? Wahrscheinlich werden alle Touristen, die länger als zehn Tage hier sind von irgendeinem Wesen (dem großen Brandenburg Golpsch!) geholt und verschlungen, dann ist wieder Ruhe.
Ich denke an den Liedtext Auszeit von Marteria
Ja ich vermiss diese Stadt
Hab‘ die Bikinis und Frisbees so satt
Morgens beim Aufstehen hilft mir ein Krahn
Ich träum‘ von ’nem Haus mitten auf der Autobahn
Der Abend dämmert, hier schreien keine Lämmer
Kein Druck, keine Pressluft die hämmert
Kann diese Ruhe nicht gebrauchten
Dreh das Radio auf, such den lautesten Sender
Brauch ’n Kiez voll mit Jugendbanden
Kann nur schlafen, wenn neben mir Flugzeuge Landen
Quelle: Marteria „Auszeit“
Ja, das gilt auch für mich. Ich bin Stadtmensch. Diese Ruhe hier ist kaum auszuhalten.
Apropos Ruhe. Wir haben einen Whirlpool. Völlig irre so ein Teil. Eine Eckbadewanne mit 300 Liter Fassungsvermögen. Macht pro Bad 2 Euro 10 Cent wenn ein Liter Wasser 0,7 Cent kostet.
Der Whirlpool hat zwei unterschiedliche Düsen. Blubberdüsen und Jetdüsen, ich nenne sie mal Jetdüsen, weil sie sind so laut wie ein Jet.
Außer uns hat bestimmt niemand in Brandenburg jemals gewagt die Jetdüsen ein zweites Mal anzustellen.
Meine App zeigt tatsächlich 110 Dezibel.
Trotz meiner ersten, nicht so erfreulichen Whirlpoolerfahrung versuche ich es ein zweites Mal mit dem Whirlpool.
Die Düsen brauchen 3000 kW die Stunde, denke ich als ich ins Wasser gleite. Aber was kostet die Welt! Ich habe Urlaub. Heute gönne ich mir einfach den ohrenbetäubenden Krach. Schließlich arbeite ich 30 Stunden die Woche. Irgendwie muss ich mein Geld auch wieder unter die Leute bekommen.
Ich stelle die Jetdüsen also auf volle Pulle. WAHNSINN. Druckmäßig passiert fast nichts, zur Massage völlig ungeeignet, aber der Lärm lockt unser geräuschintensives Kind 3.0 an den Pool.
„YEAAAHHHHHH! HUUUHUUUU! JUHHUUUUUUU!!!!“ schreit es, würde ich messen, vermutlich weitere 20 dB lauter als der Pool.
„WAS IST DAS?“
„EIN WHIRLPOOL!“
„FÜR WAS BRAUCHT MAN DAS?“
„KEINE AHNUNG!!!“
„YEEEAAAAHHHHHHHHHHH. HHHUUUUUUUUIIIHHUUUUUUU!!!“
Während ich also mit schmerzenden Ohren im Whirlpool sitze, denke ich mir, wenn ich irgendein CEO eines Startups wäre, ich würde versuchen rauszubekommen, wer das Marketing für Whirpools gemacht hat.
Das ist doch eine irre Sache. 110 dB ist der Irrsinn laut, bewirkt rein gar nichts, einfach nur LAUT und irgendwer auf diesem Planeten hat es geschafft, das als Wellness zu verkaufen.
Wellness! Muss man sich mal vorstellen. Das ist so als wenn man ein Gerät erfindet, dass einen in den Magen schlägt und es dann für 150 Euro (ist ja nur To Go) an alle Welt als der neuste heiße Scheiss am Wellnessmarkt verkauft. (Immerhin so ein Schlag in den Magen ist viel entspannender als das was man heutzutage jeden verdammten Morgen in den Nachrichten liest).
Ich schreibe mir als Merker auf einen Zettel „Whirlpool Marketing Genie recherchieren“.
Ein anderes Marketinggenie arbeitet in der Touristenbehörde Brandenburgs. Nachdem wir nämlich drei Tage um den See gelaufen sind, denke ich mir: Man könnte ja auch mal was anderes machen und googele „Ausflüge kindertauglich Brandenburg“ und stoße auf eine Seite, die mir eine Wanderung durch die Rauenschen Berge anpreist. Nur zweieinhalb Kilometer vom Waldparkplatz zum Aussichtsturm. Super. Da machen wir.
Es gibt nämlich nicht nur den Aussichtsturm von dem aus man angeblich den Berliner Fernsehturm sehen kann, sondern es gibt auch ACHTUNG zwei Steine.
Ja, Sie haben richtig gelesen. Steine. Große Steine zugebenermaßen – aber es werden tatsächlich Steine als Sehenswürdigkeit angeboten.
Auf der Seite Touristischesuperlative.de lese ich, dass es sich bei einem der beiden Steine um den größten landliegenden Findling Brandenburgs handelt.
Die Steine heißen großer und kleiner Markgrafenstein. Wobei der kleine Markgrafenstein der größere der beiden Steine ist. Natürlich war ursprünglich der größere der beiden Steine der große Markgrafenstein – aber wie Menschen so sind, musste der große Markgrafenstein natürlich zerteilt werden, damit man irgendwas nutzloses herstellen konnte – in dem Fall die große Granitsteinschale im Lustgarten.
Zusammen mit diesem abgeschlagenen Teil wäre der Reststein 800 Tonnen schwer, und – jetzt halten Sie sich bitte fest – damit wäre der Findling auch der größte landliegende (was ist das eigentlich? Was sind wasserliegende Findlinge und kann man die auch besichtigen?) Findling nördlich von Berlin!!!
Jetzt aber ist der kleinere der Markgrafensteine der größte. Umbenannt wurde er trotzdem nicht. Obwohl er viel größer ist, heißt er für immer kleiner Markgrafenstein.
Wie sich der kleine Markgrafenstein damit fühlt, der ja nun seit vielen Jahren der faktisch größere der beiden Steine ist, vermag ich mir nur vorzustellen.
Da kriecht man Jahrhunderte mit einer Moräne von Schweden bis Brandenburg, immer der kleinere der beiden Steinbuddys, hat sich schon damit abgefunden – ich bin eben nur 280 Tonnen schwer – und dann kommt DIE Chance und der Angebergranitklotz, der einem vermutlich nur die ganze Zeit gefolgt ist, um sagen zu können: „WUHUUU, schaut mich an, ich bin ja viel größer!“ wird um 550 Tonnen verkleinert… und dann bleibt man trotzdem für IMMER der kleine Markgrafenstein.
Also das ist kein schönes Schicksal.
Egal wie, wir stapfen durch den Schnee zu den beiden Steinen und machen pflichtbewusst ein Foto.
Ich glaube, damit haben wir im Urlaub alles erreicht was geht.
*Zitat aus dem Lied „Brandenburg“ von Reinald Grebe
Stille ist doch etwas Wunderbares! Stundenlang an einem einsamen Strand in Neuseeland entlang laufen und NICHTS hören außer Wellen, Wind und mal eine Möwe. Und NICHTS sehen, was auf menschliche Anwesenheit schließen lässt. Eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens.
Also ich bin ursprünglich Brandenburger und da wo ich herkomme, ist eine der größten Sehenswürdigkeiten ein Baum. Ein sehr dicker Baum, aber ja, ein Baum.
Dass es so menschenleer ist, hat meiner Erfahrung nach zwei Gründe: Die jungen Brandenburger treiben in Berlin die Mieten hoch und die alten sind morgens um halb 10 mit dem Einkauf durch und gehen dann nicht mehr vor die Tür, weil sie ab mittags schlechte Laune haben (oder Angst vorm Golpsch).
Wie das mit dem Schnee geht, weiß ich übrigens auch nicht. Die Brandenburger haben es mit nichts wirklich eilig, aber wenn es ums Wetter geht, nehmen sie die Sache verdammt ernst.
Aber ich muss sagen, nach – in meinem Fall – knapp 12 Jahren Großstadt ist ein bisschen Stille doch auch mal sehr erholsam. In deinem Fall so gar nicht? Meist krieg ich zumindest nach zwei, drei Tagen Pampa zwar einen Lagerkoller, aber anschließend stellt sich heilsame Ruhe im Kopf ein.
Doch, ein paar Tage Stille gehen gut. Aber ich in Kombination mit „Nichtstun“ (also lesen, Filme schauen, Computer spielen), bekomme ich schlimme innere Unruhe. In Berlin fühle ich mich irgendwie wohler und ruhiger.
Vielleicht müsste ich mal diesen Punkt überwinden und schauen was dann passiert…
Ein sehr, wirklich sehr schöner Text. Und auf absolut bizarre und wahrhaftige Weise der Realität entsprechend. Das kann ich bestätigen. Wobei ich die Ruhe fantastisch finde.
Danke für den Hinweis! So ähnlich war’s damals in Waren an der Müritz auch, allerdings waren wir im Sommer da.
Ich sollte vielleicht wirklich mal im Winter irgendwohin (also beispielsweise nach Brandenburg) fahren, wo es Schnee gibt, und mich dran freuen, dass dort Leute wohnen, die den frühmorgens einfach zur Seite räumen. Hier nämlich, wo es nur alle paar Jahre mal Schneefall bis zum Boden gibt und noch seltener länger als ein paar Stunden andauernde Ansammlungen desselben auftreten, bestreuen meine Nachbarn einfach die Gehsteige mit so ein bis zwei Zentimeter Steinsalz, sobald in den Abendnachrichten über die Wahrscheinlichkeit von Neuschnee in Deutschland gemutmaßt wird.
Btw, hat die in letzter Zeit hier grassierende Zeile
eigentlich irgend einen Sinn außer dem, die Kommentare mit Inhalt dazwischen zu verstecken?
Das hat den Sinn die Reaktionen von unterschiedlichen Plattformen einzusammeln.
aaalso:
Wie das mit dem geräuschlosen Schneeräumen auf dem Land funktioniert, das kann ich erklären:
Das machen nämlich die Menschen, die ihr Domizil angrenzend an den jeweiligen Gehweg haben, – genannt „Anwohner“ – ohne Maschinen mit Besen und Schaufel. Und damit das so aussieht, als sei es von Geisterhand geschehen, machen diese motivierten Menschen das frühmorgens, wenn die potentiellen Gehwegbenutzer noch die Rollläden unten haben.
Realer, nicht alternativer Fakt. Selbst erlebt. Am Besenstiel, morgens vor der Arbeit, je nach Winter über viele Tage hintereinander. Gern geschehen.
Einer muss ja mal klugscheißen: „3000 kW die Stunde“ ist natürlich quatsch. Wenn das Ding 3000 kW, also 3 MW verbraten, dann sind es natürlich in einer Stunde 3.000 kWh, also „3.000 kWh die Stunde“. Und vermutlich hatte eure Ferienwohnung ein integriertes Mini-AKW. Das ist sicher schön gewesen.
…. wo bleibt denn hier der Kulturteil? ;)
Schon Theodor Fontane hat die tollen Markgrafensteine besucht und von dort aus die tolle brandenburgische Landschaft genossen – wie meine Eltern immer wieder begeistert erzählten.. während wir Kinder einfach nur schaute wie man besser auf die Steine raufkommt. Doch doch, ganz tolle Steine und Endmoränenlandschaft (Berge!) und Wald, Wald, Wald… und nicht zu vergessen die Skisprungschanze, gibt’s die noch?
Hinreißend.
Ich empfehle dazu auch: https://open.spotify.com/track/0DdFfbcDdof41kpEdk6bRJ
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