La vie en chiffres

„Wie hast Du geschlafen?“
„Ganz okay.“

Ist euch schon mal aufgefallen, dass es üblich ist, dass man sich komplett unpräzise ausdrückt? Ich meine – was bedeutet „Ganz okay“ eigentlich genau? Ist man dann ausgeschlafen oder nicht? Hatte man ausreichend Tiefschlaf? Ist man früh oder spät ins Bett gegangen? Mehrere Male wach geworden oder hat man durchgeschlafen? War das besser als gestern? Genauso gut wie immer? Schläft die Person sonst nicht „Ganz okay“?

„Wie geht es dir?“
„Gut.“

AHA?!?! WAS GENAU HEISST DAS?

Mich macht das ganz verrückt. Als Anhängerin des sozialen Konstruktivismus hab ich es doch ohnehin schon schwer genug. Über welche Realität sprechen wir eigentlich? Gibt es überhaupt eine gemeinsame? Wenn ja, wie wieviel?

OMG! Qualitätsschlaf unter aller Kanone

Es war deswegen naheliegend, dass mein Leben mit Smartwatch besser – oder sagen wir – eindeutiger werden würde. Denn jetzt habe ich auf alles eine Antwort.

„Wie hast du dich da gefühlt?“
„Also mein Herzschlag ging kurzzeitig auf 128 bpm hoch. Das ist 46% über meinem Durchschnitt und genauso hoch wie gestern um 12:34 Uhr, als ich eine Freundin im 4. Stock ohne Aufzug besucht habe.“

Ist das nicht wunderbar?

Außerdem hilft mit die Uhr mich zu erinnern. Das ist so hilfreich! Sollte ich mal in ein Verbrechen verwickelt sein (natürlich zu unrecht verdächtigt) und mich fragt jemand in einem Verhör: „Wo waren sie letzte Woche Mittwoch um 17.21 Uhr?“, dann kann ich auf meine Uhr schauen und sagen: „Also da war ich in der Kleukenikstraße 23. Gestartet bin ich 21 min zuvor und mein Ziel war der Elisabeth-Park, in dem ich insgesamt 7 km zurück gelegt habe. Warten Sie, ich drucke ihnen geschwind mein Bewegungsprotokoll aus!“

Superpraktisch!

Natürlich ist nicht alles mit Smartwatch von Vorteil – oder sagen wir – ausschließlich von Vorteil. Leider bin ich nämlich kompetitiv. Und klar, da will ich zuerst meine Ziele erreichen. 500 kcal Aktivitätsenergie. Kein Ding. Aber es ist unfassbar schwer diese 500 kcal genau zu erreichen. Wenn man z.B. im Urlaub ist, dann hat man die um Grunde schon um 8.20 Uhr nach dem Brötchenholen erreicht. Und dann? Zurück ins Bett und bis 24 Uhr nicht mehr bewegen? Funktioniert nicht. Hab es ausprobiert. Allein durch atmen im Bett und 3 Toilettengänge verbraucht man in 15 Std und 40 min insgesamt 87 weitere kcal. Tja und dann hat man den Salat bzw. die 587 kcal. Wenn man dann am nächsten Tag keine Brötchen holen geht und, sagen wir, nur 496 Kcal erreicht, dann dauert es nicht lange und die Uhr sagt: „Oh. Du hast heute wENIgER Kalorien verbraucht als gestern.“ Weniger ist schlecht, weniger ist weniger. Also versuche ich am nächsten Tag wieder mehr und plötzlich ist man in einer Endlosschleife gefangen, weil man sich ständig selbst übertreffen muss. Was mit Brötchenholen angefangen hat, endet in einem Marathon. Man hat auch keine Zeit mehr für irgendwas anderes, sieht die Familie kaum, muss seinen Job kündigen. Schneller, höher, weiter! Der Kapitalimus hat uns das gelehrt.

Gestern 1.202 Aktivitätskalorien. Aber in nur 15 km Distanz. Also muss man am nächsten Tag weiter gehen, aber dafür schneller und ach und weh! die Herzfrequenz war nicht optimal. Die Cardiofitness lässt zu wünschen übrig und auch der asymmetrische Gang betrug 24,1%, was puh! nicht so gut ist, denn je niedriger der Prozentwert, desto gesünder das Gangbild.

Und das sind nur die Werte, bei denen man gegen sich selbst antritt. Wehe, der Partner hat auch so ein Gerät. Dann wird es haarig. Denn wenn man nicht genau gleich groß und schwer ist, dann gibt es Werte, die zwangsläufig auseinander gehen. Die Schrittlänge zum Beispiel. Meine beträgt unter normalen Umständen 62 cm. Ich bin halt recht klein. Die meines Partners 86 cm. Und ja, ich fühle mich dann naja, sagen wir herausgefordert, weil 24 cm – da trennt uns quasi ständig ein Dackelschritt und irgendwie fühle ich mich nicht wohl damit. Also schreite ich aus (was wirklich sehr anstrengend ist), was dann meinen Partner dazu bringt, auch große Schritte zu machen, was mich wiederum unter Druck setzt, so dass ich abends Dehnübungen machen muss, damit ich meine Schrittlänge auf über einen Meter ausweiten kann, was sich dann aber negativ auf die täglich zu absolvierende Distanz auswirkt.

Noch ein bisschen!

Was mir übrigens auch aufgefallen ist: Die Smartwatch könnte ein anderes, uraltes Problem lösen: nämlich das des Höhepunktes bzw. das der Unsicherheit, ob der Partner (oder seien wir statistisch ehrlich: ob die Partnerin) beim Sex einen Orgasmus hatte.
Ich finde das superromantisch: Man zeigt sich einfach nach dem Sex gegenseitig die Vitalwerte und wenn es da beim anderen kein Arousel gab, naja dann war das zumindest leistungsmäßig nicht so der Hit.
Daran könnte man wiederum per App arbeiten. Das ist mir eingefallen, als ich meine Uhr mich beim Händewaschen angefeuert hat, dass ich es gleich geschafft habe. Sie misst also eine bestimmte Art von Bewegung und kombiniert die mit einem Counter. Wenn man also Sexbewegungen der Hand per App zehn Tage hintereinander aufzeichnen würde und dann die erfolgreichen Testläufe als solche markieren würde, dann könnte man daraus eine Zielvorgabe erstellen, die man beim Sex startet und dann steuert die Sprachausgabe einfach alles weitere: „Ja, sehr gut! Jetzt langsamer! Kreisende Bewegungen! Noch 41 Sekunden! Sehr gut! Gleich hast du es geschafft!“

Puh! Also seit ich die Uhr habe, ist wirklich alles sehr viel präziser, aber leichter ist es nicht unbedingt geworden, denke ich und jetzt muss ich auch schon wieder weiter, denn ich habe noch 765 kcal und 10,2 km vor mir und ATMEN! ATMEN MUSS ICH AUCH!!!


P.S. Was sind eure Lieblingsapps auf der Smartwatch? Ich bin aufrichtig interessiert.

72 Gedanken zu „La vie en chiffres“

  1. Schon vor Jahren hatte ich ein Smartband von Sony, welches nichts anderes konnte, als Vibrieren und Schritte zählen. In der Nacht habe ich das Band aber immer(!) abgenommen, weil ich die Vorstellung nicht ertragen konnte, dass da irgendwo in einem Rechenzentrum ein Datenanalyst über meine Handgelenksvibration live dabei sein konnte, wie ich gerade Sex hatte. Oder eben nicht… Mittlerweile ist mir das aber doch egal. Und meiner Frau auch. Wir haben jetzt beide ein Smartband und tragen es auch über nacht. Aber wir haben noch keine Werbung für Potenzmittel oder ähnliches erhalten. Hmm… :-P

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