
Selbstbild in 24 Monaten
Sport und ich, das war lange eine Kombi wie Zahnpasta und Schokolade (nicht After Eight!), Regenschirm und Sturmwind oder Kaktus und Luftballon. Es war einfach keine Match! Jetzt schreibe ich das im Präteritum, weil surprise: es hat sich geändert.
Ich bin seit einigen Monaten absolut obsessed mit einer Sportart und das ist Kraftsport. Gewichte heben macht irgendwas mit meinem Körper, das naht schon an Limerenz.
Limerenz ist ein sehr gutes Wort, das man im aktiven Sprachschatz haben sollte. Ich kenne es, weil ich vor 400 Jahren meine Diplomarbeit über Liebe geschrieben habe.
Limerenz ist nach Dorothy Tennov der Zustand extremer Verliebtheit, der fast schon zwanghafte Charakterzüge hat. Betroffene entwickeln ein unkontrollierbares Verlangen nach der geliebten Person, idealisieren diese stark und verlieren oft das Interesse an anderen Lebensbereichen, da der Alltag fast ausschließlich von Gedanken an die angebetete Person dominiert wird. Das nervt schon auch, aber diese Art von Fixierung ist auch sehr aufregend und ein Dopaminfeuerwerk für den Körper.
Ich will jetzt nicht sagen, dass ich generell sehr begeisterungsfähig bin, aber naja so den ein oder anderen Deep Dive in ein Thema habe ich schon mal gemacht und das ist ja auch toll, weil man dann in kurzer Zeit wahnsinnig viel über ein Thema lernt und die ein oder andere Fähigkeit erwirbt.
Jetzt ist es also Kraftsport. Hinzu kommt, dass der durch Apps wahnsinnig gut gamifiziert ist und dafür bin ich auch sehr anfällig. Gib mir kleine virtuelle Medaillen und rechne mir irgendeinen Streak vor – ich tue einfach alles dafür.
Aber zurück zum Sport. Mein Kind 3.0 (in der Zwischenzeit muss man es offiziell siezen und es kann mir auf den Kopf spucken) hat mich einmal mit ins Gym genommen. Man muss dazu sagen, es ist so ein Influencer Gym, so ein crazy schönes, total sauberes Gym mit fancy Geräten, die alle gut gewartet sind, kuscheligem Teppich und Musik wie in einem Club (zumindest stelle ich mir Clubs so vor, ich war das letzte Mal in den frühen 2000ern in einem Club).
Ich dachte ja, das sei alles mega langweilig, aber ich muss sagen: ich war noch nie so im Flow mit mir wie beim Trainieren. Ich zähle, achte auf die Atmung, schaue wie meine Füße stehen, wie meine Ellbogen sich winkeln, versuche die Muskelpartien zu fühlen und zack ist eine Stunde vergangen.
Nach dem 1. Training war ich zwei komplette Tage high. So als hätte ich Ecstasy eingeworfen (zumindest stelle ich mir Ecstasy so vor, ich habe natürlich noch nie Ecstasy genommen). Ich war so glücklich! Ich konnte kaum schlafen, aber ich war so, so glücklich.
Also bin ich nochmal gegangen und nochmal und nochmal und dann habe ich eine total überteuerte Mitgliedschaft abgeschlossen und seitdem gehe ich 3x die Woche.
Ich springe um 5 aus dem Bett, trinke lauwarmes Zitronenwasser, frühstücke, geh 1,5 Std ins Gym, dusche und gehe dann arbeiten. Mein Leben fühlt sich so gut an. Vorher war es als ob meine ganze Lebenszeit nur den Pflichten verschrieben ist. Jetzt habe ich Zeit, die nur mir gehört.
Die Zeit im Gym bin ich wie weggebeamt. Ich komme quasi rein und dann gehe ich mit zittrigen Beinen vor Schweiß triefend wieder raus.
Wobei das nur teilweise stimmt. Solange ich an den Geräten trainiere, ist alles wunderbar. Ich mache aber auch 2x die Woche 20 min Cardio. In diesen 20 min zieht sich die Raumzeit ins Unendliche und ich durchlebe schlimme Langweile, obwohl ich auf dem Monitor über Hawaiianische Strände oder den ecuadorischen Dschungel wandern kann. Es ist einfach dermaßen öde, dass ich mir die Augen auskratzen möchte. Aber angeblich soll man ja auch ein bisschen Cardio machen.
Für das Krafttraining nutze ich eine App. Die erfasst genau, was ich mache und spuckt hinterher tolle Statistiken aus: „Du hast 7.654 kg gehoben.“ Das sind 3 mittelgroße Transporter, 1,3 Elefanten oder 15 Pferde! Das ist als ob ich 90 durchschnittliche Männer werfe. Damit könnte ich (vorausgesetzt ich schaffe es in weniger als 37,44 Sekunden) locker den aktuellen Rekord* knacken.
Es ist einfach toll. Ich zähle dann z.B. die ganze Woche Männer, die ich anstrengend finde und stelle mir vor, wie ich sie werfe.**
Kind 3.0 sagt, man sieht schon neue Muskeln und ich muss auch sagen: ich habe mindestens ständig einen Glow von dem ganzen Dopamin. Das geht sogar soweit, dass mich heute im Gym ein sehr viel jüngerer Mann mit tollen Tattoos angeschaut (!) und in ein Gespräch (!) verwickelt hat. Und das obwohl ich labbrige Shirts und eine weite Trainingshose trage und einen sehr roten Kopf habe. Er war supersweet und ich hab mich hinterher gefragt, ob er vielleicht einen Mutterkomplex hat oder ob er einer der Trainer war, der in mir natürlich Coachingmaterial identifiziert hat und einen Cashflow anbahnt. Es war jedenfalls megaaufregend, weil mich natürlich auch seit den frühen 2000ern kein Mann mehr angesprochen hat.
Natürlich gibt es in meinem Alter auch ein paar Schwierigkeiten beim Trainieren.
Man soll ja immer bis zum Muskelversagen gehen und da kommt es durchaus regelmäßig vor, dass man beim Anstrengen furchtbare Grimassen zieht. Das ist natürlich suboptimal. Da trainiert man sich den Körper straff und gleichzeitig das Gesicht faltig. Aber es ist halt wirklich enorm schwer sich anzustrengen und dabei das Gesicht möglichst faltenfrei zu halten. Wahrscheinlich lasse ich mich jetzt prophylaktisch einmal durchbotoxen, weil sonst sehe ich in einem Jahr im Gesicht aus wie 100.
Ein anderes Problem ist das Gucken. Ich habe ja eine Brille. Die muss ich tragen, weil ich sonst überhaupt nichts sehe. Es wäre mir z.B. unmöglich die Geräte einzustellen. Schaue ich aber auf die App, muss ich die Brille absetzen und so ist man ständig beschäftigt die Brille auf- und abzusetzen. Kontaktlinsen kann ich leider nicht mehr tragen, weil die Altersweitsicht eingesetzt hat. D.h. mit Kontaktlinsen kann ich im Bereich 80cm bis 1 km gut sehen, bin aber im Bereich unter 80cm so gut wie blind.
Ja, es ist nicht einfach im Alter.
Aber ich will nicht wieder so viel jammern. Ich bin einfach so happy, dass ich jetzt regelmäßig daran arbeite, dass ich mit 70 noch wandern und mit 80 noch Sachen aus einem Hängeregal heben können werde.
Und die Obsession ist weiterhin faszinierend. Wenn ich morgens im Gym war, denke ich abends wenn Kind 3.0 geht: Ich könnte eigentlich schon wieder. Wenn ich in Meetings sitze, denke ich: Also Beinstrecker wäre mir jetzt echt lieber! Wenn ich meinen Partner sehe, will ich ihn leidenschaftlich durch die Luft wirbeln. Eier will ich beim Kochen nicht mehr aufschlagen, sondern mit meinem Musculus biceps brachii zerquetschen. Ich träume von einem Armdrückduell mit Ilona Maher.***
Ich träume nachts vom Gym. Ich habe all meine Interessen verloren. Ich schaue kaum noch 10 Std Serien oder Filme pro Woche, lese höchstens 2 Bücher im Monat, hab schon lange nichts mehr gepunchneedelt und mich beim Brettspielen besiegen lassen, macht auch kaum noch Spaß. Alles ist grau, reizlos und fade. Auf Social Media schaue ich mir nur noch Gym-Memes an. Auf YouTube Training Tutorials. Ich google Henry Cavills Trainingsroutine. Ich esse rohen Thunfisch mit Skyr. Ich will nicht mehr verreisen, weil ich dann nicht in MEIN schönes Gym kann.
Was denkt ihr, wie lange hält meine Liebe?
* Contentwarnung Grammatik: Sie sagen in dem Video immer wieder den falschen Imperativ von „werfen“. „Werf die Männer auf die Matratze!“ Nein! Es heißt WIRF. WIRF! Ich sage immer, Menschen, die den Imperativ nicht korrekt bilden können, die hatten eine schöne Kindheit, denn sie haben offensichtlich nicht viel gemusst.
** Super lieb, mit Consent und auf eine toll gefederte Matratze!
***Fantastische Frau. Ich folge ihr seit letztem Jahr Olympia auf Social Media. Man muss sie einfach lieben!
Wie schön! Wieder mal ein toller Text, danke! Fiebere richtig mit! Kann selber leider keinen Kraftsport machen, aber warte sehnsüchtig auf einen praktikablen Sport-Fetisch, der mich von der Lese- und Glotzcouch runter wirft!
Die perfekte Lösung für die kombinierte Kurz- und Altersweitsichtigkeit sind Gleitsichtkontaktlinsen – ich habe die vor drei Jahren entdeckt und kann sie mur empfehlen, grade beim Sport ?