Forchheim

Es gibt jetzt* eine S-Bahn, die einen blickdicht von Nürnberg nach Forchheim bringt. Die Schallschutzwände sind bestimmt ein Segen für Anwohner – ich bin ein bisschen traurig, dass ich die Landschaft nicht sehen kann.

In Forchheim besuche ich alle Orte meiner Jugend. Die Schule, den Wegm den ich früher mit unserem Hund gelaufen bin, das Reihenhaus, wo ich mit meinen Eltern gewohnt habe, die Stadtmauer, wo wir als Jugendliche geknutscht haben und die Sportinsel, wo ich bei den Bundesjugendspielen nie eine Urkunde bekommen habe und zuletzt die Schleuseninsel, wo im Sommer die Partys waren. Ich habe viele schöne Erinnerungen und viele, die mich schwermutig machen. Mit 17 hat mich meine Mutter auf die Straße gesetzt. Die Zeit davor war auch nicht gerade harmonisch. Die Orte zu sehen, verbindet mich mit meiner Vergangenheit und es schmerzt wie einsam und unverbunden mit der Welt ich mich früher gefühlt habe.

Ich erkenne im Nachhinein, dass ich nie alleine war. Ich hatte so viel Unterstützung auf meinem Weg.
Die Eltern einer Freundin, die mir eine Wohnung organisiert haben. Die Frau, die mir diese Wohnung damals für 100 DM vermietet hat, damit ich mein Abi machen kann. Der Freund, der mit mir gebrauchte Geräte gekauft hat, um meine neue Wohnung auszustatten. Der Bio-Lehrer, der mich den ganzen Sommer mit Gemüse aus seinem Garten versorgt hat, damit ich immer genug zu essen habe.

Ich hasse deswegen diese neoliberalen Sprüche, dass man sich im Leben nur anstrengen muss, dann würde alles gelingen. Nein, das Anstrengen alleine bringt gar nichts, man braucht auch Glück und Unterstützung.

Dreißig Jahre später fühle ich mich schon lange im Leben angekommen. Ich fühle mich geliebt und eingebettet in meinem Leben. Wie gerne würde ich das meinem Teenager-Ich sagen: Du musst nur geduldig sein. Irgendwann wird alles gut.

Km bislang: 2.328
Verspätung: 460 min

*vor 30 Jahren gab es die noch nicht

Nürnberg

Mein Bahnmojo ist zurück. Die letzten beiden Fahrten hatte ich keine Minute Verspätung. In Nürnberg komme ich also pünktlich an.

Bei der Planung meiner Reise habe ich Pfingsten übersehen, es war einigermaßen schwer ein Hotel in Nürnberg zu finden. Rock im Park war auch noch, aber auch das wusste ich nicht.
Im Aufzug des Hotels habe ich zwei junge Frauen mit extrem verschlammten Schuhen gesehen. An ein Rockkonzert habe ich nicht gedacht. Es schien mir naheliegender, dass sie gerade irgendwen verscharrt hatten.
In Nürnberg treffe ich einen Freund aus Schulzeiten. Ein sehr belesener und wahnsinnig aufmerksamer Mensch, mit dem man hervorragend über alle Themen sprechen kann, die angeblich auf der Tabuliste stehen: Geld, Tod, Religion und Kindererziehung.

Wir besuchen Orte meiner Kindheit, u.a. das Johannes-Scharrer-Gymnasium, dessen Neubau schon vor 30 Jahren sehr häßlich war (es sei denn man hat einen Faible für Brutalismus), laufen durch den Burggraben, bestaunen Albrecht Dürer Kunstwerke, die ich als Kind sehr gruselig fand, essen Schweinebraten mit Klößen und trinken Rotbier. Ich liebe fränkisches Bier. In Berlin trinke ich fast nie Alkohol, wenn ich hier 0,5 l Bier trinke, bin ich eigentlich schon leicht angetrunken.

Sind wir noch bei Regen und Sturm gestartet, aber am Nachmittag scheint die Sonne und wir laufen durch St. Johannis, dann an der Regnitz entlang und ich merke wie stark ich Nürnberg mit meiner Kindheit verbinde. Am Wunschbrunnen drehe ich den schwarzen (!) Ring und wünsche mir etwas für zwei Menschen, die ich sehr liebe.

Mein Schulfreund hat meine Rundmail, in der ich mir gemeinsame Erinnerungen wünsche, ernst genommen und erzählt mir wie wir in einem Winter mal einen Hund gerettet haben und wie ich meinem italienischen Cousin aufgeklärt habe, dass man Klöße nicht schneidet, sondern rupft: „If you don’t cut it with a knife, it sucks better.“

Km bislang: 2.288
Verspätung: 460 min

Esslingen

In Esslingen habe ich eine Freundin besucht, die ich wirklich sehr mag. Ich habe mit ihr meine erste Elternzeit auf Berliner Spielplätzen und in Parks und viele sonnige Tage verbracht. Durch den ganzen Sand der Spielplätze, das Eis, das wir mit unseren Kindern gegessen haben und die Sonne, fühlt es sich an, als ob wir quasi ein Jahr komplett gemeinsam am Meer verbracht haben. Dass es reichlich Kindergeschrei, klebrige Hände, nervige Wespen, blutige Knie und andere Katastrophen gab, hab ich einfach vergessen.

Ich verehre meine Freundin auch so sehr, weil sie so ziemlich der spontanste Mensch auf der Welt ist. Während ich alles ordentlich wochenlang und bis ins letzte Detail plane, ist sie für jeden verrückten Einfall zu haben: Warum nicht? Ja, lass uns das probieren!

In dieser Tradition hat sie mich empfangen und vorgeschlagen, dass ich sie vom Bahnhof zum Juwelier begleite, denn sie hat sich überlegt: Ohrringe, das wäre doch was! Also hat sie sich kurzerhand Ohrringe stechen lassen.

Im Anschluss waren wir in einem Kaffee und ich habe festgestellt, dass sich Esslingen in den letzten 10 Jahren sehr verändert hat: man kann jetzt auch hier problemlos einen Flat White Decaf mit Hafermilch bestellen und ein Stück Hipsterkuchen essen.
Früher noch undenkbar. Ich war mal länger in Esslingen, weil meine Freundin alleinerziehend war und zwar einen neuen Job aber keine Kinderbetreuung hatte. Weil ich gerade das zweite Mal in Elternzeit war, bin ich mit meinen Kindern nach Esslingen gefahren, denn ob man nun zwei oder drei Kinder betreut, das macht keinen großen Unterschied. Damals war alles noch sehr beschaulich und ich habe ständig von älteren Damen Erziehungstipps bekommen. Das Kind hat Durst! Sie müssen die Kinder alle an die Hand nehmen! Schauen sie, ihr Kind hat da einen Fleck auf dem Shirt, sie müssen es mal umziehen!

Die Erinnerungen, die meine Freundin mit mir geteilt hat, haben mich ein bisschen geschockt. Angeblich haben sich meine Kinder mal um einen Schokoriegel gestritten und als nach längerem guten Zureden keine Einigung über eine gerechte Einigung herbeizuführen war, hätte ich den Riegel kurzerhand in mich reingestopft. Am Stück.
War ich wirklich so eine Mutter?

Km bislang: 2.068
Verspätung: 460 min

Gießen

In Gießen bin ich Bus gefahren, habe selbstgemachte Bihun-Suppe und köstlichen Rhabarberstreuselkuchen gegessen. War an der Lahn spazieren und habe in Erinnerungen geschwelgt. Ein Teil meiner Geburtstagsreise war nämlich der Wunsch, dass diejenigen, die ich besuche, eine Erinnerung mit mir teilen, die sie aus unserer gemeinsamen Vergangenheit haben.

Es ist faszinierend wie das Erinnern funktioniert. Ich erinnere mich oft gar nicht oder komplett anders und es fällt mir auch schwer mich mit den Erinnerungen anderer mit meinem Vergangenheits-Ich zu verbinden.
Offensichtlich war ich nicht immer so ruhig und ausgeglichen, wie ich es jetzt bin (oder ich bin es jetzt auch nicht, nehme mich aber anders wahr? Wer weiß das schon!)

In meinem Gießen-Stopp hat die Person, die ich besucht habe, sogar Fotos nachmachen lassen. Fotos aus Zeiten, in denen man nicht einfach jeden Tag 20 Fotos gemacht hat, sind irgendwie immer besonders wertvoll. Ich kann sie lange betrachten. Es ist als ob man eine Zeitmaschine hat. V.a. Gegenstände im Hintergrund aktivieren dann wieder weitere Erinnerungen. Eine Lampe, die ich mal besessen habe oder ein klobiger kleiner Röhrenfernseher an den eine Spielkonsole angeschlossen ist.

Zeit ist schon wundersam. Nach hinten wird sie schwarz und nach vorne ist sie das auch und irgendwo dazwischen lebt man.

Km bislang: 1.763
Verspätung: 429 min

Weinheim

In amerikanischen Serien besuchen Autorinnen immer ihre Verlage. Ich hatte das noch nie gemacht und weil der Verlagssitz ganz in der Nähe von Wiesbaden ist, dachte ich: gehe ich doch mal meinen Verlag besuchen.
Und was soll ich sagen? Es war wie in diesen Serien! Ich wurde herzlich begrüßt und die ganzen Kolleginnen, die an den Büchern mitgearbeitet haben, haben sich die Zeit genommen mich zu begrüßen. Wir haben elsässischen Cremant getrunken und geredet und ich war ganz beseelt. Ein Buch ist ein großes Teamprojekt und es braucht viele unterschiedliche Kompetenzen, damit es erfolgreich wird. Es war toll die Menschen zu den einzelnen Funktionen kennenzulernen.
Ich habe auch eine kleine Hausführung bekommen und war schwer beeindruckt wie schön Büroräume gestaltet werden können. So schön, dass ich, wenn ich so ein Büro hätte vielleicht auch manchmal mein geliebtes Homeoffice verlassen würde.

Segen und Fluch des Deutschlandtickets ist es ja, dass man ohne zusätzliche Kosten spontan überall hin fahren könnte. Weil ich so nah an Heidelberg war und eines meiner Kinder so heidelbergbegeistert ist, habe ich überlegt, ob ich mit der Straßenbahn nach Heidelberg fahre und dort einmal den Philosophenweg abschreite.

Weil es aber so trüb und regnerisch war, habe ich mir vorgenommen Heidelberg an einem anderen Tag zu besuchen.

Heidelberg wurde übrigens erst nach der klassischen Wikingerzeit gegründet. Nicht sehr spannend für mein neues Rabbithole. Passt aber gut zu der eher langweiligen 4. Staffel von Vikings.

Km bislang: 1.657
Verspätung: 329 min

Wiesbaden

Ich war schon ziemlich oft in Wiesbaden, aber irgendwie hatte ich immer so viel Programm, dass ich keine richtige Erinnerung an die Stadt selbst habe. Ich habe die Gelegenheit also genutzt und mich ohne Termine den Tag treiben lassen, um dann in einem Friseursalon zu landen.

Das letzte Mal war ich vor ungefähr einem Jahr beim Frisör. Ich finde es total lästig zum Frisör zu gehen, aber meine Haare waren unnütz lang, so dass ich sie z.B. immer eingeklemmt habe, wenn ich einen Rucksack aufgesetzt habe oder sie mir ständig überall reinhängen.

Auf Google suche ich mir einen Laden, der gute Bewertungen hat und als ich eintrete, wundere ich mich, weil es dort aussieht wie in einem Barbershop. Ich frage leise, ob sie denn auch Haare schneiden, also meine und der Barbertyp zeigt in den hinteren Teil des Ladens. Dort ist tatsächlich eine separate Ecke, wo eine Friseurin einer Frau die Haare färbt.
Ich gehe also ein paar Schritte weiter und frage, ob man denn ohne Termin die Haare schneiden lassen kann und die Friseurin sagt, das ginge leider gerade nicht, weil sie würde ja gerade einer anderen Frau die Haare färben.
Die Frau unter dem Haarfärbeverstärkungsstrahler (was ist das für ein Ding?) dreht sich in meine Richtung und ruft: „So ein Quatsch! Ich sitze hier nur rum, die Farbe muss einwirken, da schaffst du doch dieser Frau die Haare zu schneiden!“
Die Frisörin zögert noch, doch dann gibt sie sich einen Ruck, ob ich denn was Kompliziertes wolle? Nein, nur kürzer. Ja gut, dann solle ich mich setzen.
Es dauert nicht lange und die Frau, deren Haare gefärbt werden, verwickelt uns in ein Gespräch. Wir stellen fest, dass unsere Familien beide aus Sizilien kommen. Wir reden über Irland und über das Älterwerden, es ist sehr fröhlich. Zwischendrin bedauern die Friseurin, deren Eltern aus der Türkei kommen und die andere Kundin sehr blumig, dass ich so deutsch aussehe. Keine dunklen Haare, diese hellen Augen und dann die bleiche Haut. So schade! Wahrscheinlich die Wikinger, die auch auf Sizilien waren.
Da sind sie wieder die Wikinger. Daher also meine bleiche Haut! Schade, schade, ich hätte auch südländisch schön sein können, aber jetzt bin ich halt eine Kartoffel.
Währenddessen schnippelt die Friseurin sehr engagiert an mir rum. Einen Moment denke ich, dass das vielleicht doch ein bisschen viel ist und dann denke ich: was ab ist, ist ab und es wächst ja wieder.
„Ich könnte auch noch mehr abschneiden“, sagt die Frisörin und klappert mit ihrer Schere. „Ja, danke, aber das reicht.“ „Es würde aber ziemlich gut aussehen!“ „Ja, danke, aber das gefällt mir so.“ Wie lange ich denn noch in Wiesbaden bin? Bis Freitag. Ja gut, wenn ich am Donnerstag denke, dass sie doch recht hat, dann soll ich nochmal kommen, sie schneidet dann den Rest kostenlos ab.

Beschwingt und mit halblangen Haaren verlasse ich den Salon und schlendere durch die Fußgängerzone. Eine warme Erinnerung aus meiner Kindheit. Fußgängerzonen und „in die Stadt gehen“ – das geht ja in Berlin nicht, denn wo soll das sein – in die Stadt. Berlin sind 20 Städte.

Ich kaufe Pfingstrosen und eine ganze Sachertorte. Ich freue mich, dass ich das kann: eine ganze Torte kaufen. Wie so eine leicht durchgeknallte Erbtante.

Heute fahre ich nicht mit dem Zug.

Umweg mit dem ICE, Unterbrechung der Reise

Ich habe heute am Bahnhof geweint (nicht wegen der Zugverspätung). Neben mir saß eine Frau, die mich beim Aufstehen angelächelt hat und mir eine Packung Taschentücher in die Hand gedrückt hat. Das war ein sehr schöner Moment.

Insgesamt hat dieser Tag seinen Platz in der Top Ten schlimmster Tage 2025 auf jeden Fall schon mal gesichert.

Es ist erschütternd wie einen manche Momente in die Vergangenheit zurück katapultieren in Momente in denen man sich komplett allein auf der Welt fühlt.

Mein Zug-Mojo ist jedenfalls futsch. Ich frage mich, ob Eva Wolfangel jetzt immer pünktlich ist (Mastodon-Referenzwitz).

Km bislang: 1.487
Verspätung: 304 min

Weiter: Aachen

Nach Aachen zu kommen war nicht einfach. Theoretisch hätte die Reise 3 Std gedauert. Praktisch war ich 5,5 Std unterwegs und bin dann in Eschweiler gestrandet. Bis Essen ging es relativ flott, aber dann Signalstörung, Personenschaden, technischer Defekt.
Die Rheinländer hat das aber nicht aus der Ruhe gebracht: „Isch wollt doch nur eine Station farre, weil die U-Bahn brennt und jetz klappet och nisch mit dem Zuch.“
Das war aber schon das Emotionalste, was ich gehört habe. Ich meine, was ist mit denen? Müssen die nicht pünktlich in ihren Arbeitsstätten sein? Ihre Kinder vom Kindergarten abholen? Muddi zum Arzt bringen?
Große Bewunderung wie die ihr Leben chillen. Kein Wunder wenn meine Kinder mich manchmal überspannt finden. Wahrscheinlich hängen die tagsüber immer mit Rheinländern in Zügen mit zwei Stunden Verspätung ab.

In Aachen haben wir uns wieder Gebäude angeschaut und ich konnte die tolle Geschichte erzählen, wie die Wikinger Paris überfallen haben (Ja, haben sie wirklich – mehrere Male sogar, ich bin jetzt ganz tief in dem Rabbithole).

Ich habe Streuselbrötchen kennengelernt und habe vier mal ein abgesperrtes Baustellengelände gekreuzt, um als rechtschaffene Bürgerin so viel Adrenalin auszuschütten, wie andere vermutlich beim Fallschirmspringen ausschütten oder wenn sie eine 20% Steigung ungebremst mit dem Mountainbike runterpreschen.

Km bislang: 697
Verspätung: 151 min