Ring of Kerry – du kannst es schaffen (also du, nicht ich)

Quelle: ando81kc @pixabay

Irgendwie hat es uns in die Berge verschlagen. Ich sitze in einer Raststätte, von dessen Qualitätsniveau 80% der Berliner Restaurants nur träumen können. Vor mir indisches Curry mit Reis und Rote-Bete-Salat. Ich schaue aus dem Fenster in die grüne Landschaft. Mehrere Male habe ich in meiner Zeit in Irland jetzt schon gedacht, ich hätte genug Natur gesehen. Genug Hügel, genug Berge, genug Schäfchen, genug Seen, genug Farn oder Bäume, die über und über mit Efeu bewachsen sind. Doch dann gibt es doch noch ein anderes Grün, eine weitere Schattierung, die Sonne, die golden durch die Wolkendecke scheint, eine Wolke, die über den Bergspitzen hängt, gelbe Blumen, Fuchsienbäume (!) und orangefarbene Lilien. Selbst die Felsen sehen in ihrem grau irgendwie sanft aus. Jetzt weiß ich wie Menschen auf die Idee kommen die Farbe „sanftgrau“ ins Baumarktsortiment aufzunehmen. Vielleicht waren sie auch in Irland. Gar nicht so unwahrscheinlich, denn Robert Murjahn erfand Alpina Weiß  im Luzern-Urlaub während er auf weiße, schneebedeckte Berge blickte.

Ich werde mir „sanftgrau“ gleich als Markennamen eintragen lassen, wenn ich in Deutschland zurück bin: „Sanftgrau: Das warme Grau irischer Berge, damit die Freiheit und Unendlichkeit in ihre vier Wände einzieht, um ausbalancierte Ruhe in ihre farbiges Wohnchaos zu bringen.“

Da kann das Großstadtgrau wirklich nicht mithalten. Ich nippe an meinem Bergquellwasser und frage mich warum es innerlich überhaupt etwas in Gang setzt unberührte Natur zu sehen. Warum der Blick von einem Berg in ein unbewohntes Tal diesen Impuls in mir auslöst, dass ich mir alle Kleider vom Leib reißen will und barfuß johlend den Hügel runter rennen möchte. Welchen biologischen Sinn verfolgt dieser Impuls? (Auslese vielleicht? Wahrscheinlich würde ich nach 10 Metern stolpern und den Berghang in die Tiefe stürzen). Während ich versonnen vor mich hin grübele, drückt mir eines meiner Kinder ein Gewächs in die Hand. Winzig klein. Es sieht aus wie ein Miniaturbaum. Kaum einen Fingernagel groß und dennoch hat das Pflänzchen alles, was ein riesiger Baum hat. Stamm, Nebenäste, Blätterdach. Ich mustere das Grün in meiner Hand und plötzlich verstehe ich diese ganze Achtsamkeitsscheiße mit Durchatmen und so. Durchatmen und Pflanzen angucken! Yoga für die Seele! Das ist echt krass! Dem Kapitalismus entkommen, dem Alltagshamsterrad, Seele baumeln lassen etc. Geiler Scheiß. Ich bin erleuchtet, ich mache einen YouTube-Kanal auf, wo ich fuchtelnd durch irische Landschaften laufen werde und anderen sage, was sie machen MÜSSEN, um endlich entspannt zu sein und ihr busy Life hinter sich lassen können, wenigstens zwischen 10 Uhr und 10.30 Uhr zwischen dem Checken der Mails und dem nächsten Call. Grüne Dollarnoten ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Der private Infinity Pool ist nur noch einen Businessplan entfernt.

Meine Gedanken werden jäh unterbrochen als eine Frau, die aussieht wie Megan Rapinoe an mir vorbei geht. Sie trägt eine Radlerhose und ein pinkfarbenes Funktionsshirt. Außer einem Fahrradhelm, einer Trinkwasserflasche, einer Kreditkarte und einem goldenen iPhone hat sie nichts dabei. Sie trägt ein kleines Tablett mit einer Gemüsesuppe und einem Glas Wasser an mir vorbei. Sie setzt sich, streicht ihr blondiertes Haar zur Seite und löffelt langsam ihre Suppe. Sie ist nicht die einzige, die hier Fahrrad fährt. Faszinierend finde ich das. Zum einen, weil selbst die gut ausgebauten Autostrecken hier so breit sind wie der Fußgängerweg der Karl-Marx-Allee in Berlin – und ich spreche hier von zwei Spuren. Es ist mir tatsächlich ein Rätsel wieso die Wege hier nicht mit gesplitterten Seitenspiegeln gesäumt sind. Iren bremsen nicht. Iren rauschen einfach vorbei und aushalten kann man das als deutscher Autofahrer nur wenn man das Lenkrad gut festhält und die Augen schließt. Hier Fahrrad zu fahren stelle ich mir aufgrund der Straßenverhältnisse horrorhaft vor. Horrorhaft stelle ich es mir aber auch wegen der Anstrengung vor. Ich meine „Berge“, das heißt ja zumindest teilweise bergauf fahren. Bäh! Wir haben auf unserer Reise viele Fahrradfahrer/innen überholt. Schwer bepackt, die Jacken vom Gegenwind aufgeplustert habe ich sie durch nachdenklich durch die Bewegung der Scheibenwischer aus dem Inneren unseres Autos angeschaut. V.a. die jungen Paare, die sich vielleicht auf Onlinedatingplattformen gefunden haben. Hobby „Fahrradfahren“. Das klingt ja erstmal harmlos. Ich würde niemanden aus meiner Ergebnisliste ausfiltern, weil da „Fahrradfahren“ steht. Ich stelle mir also vor, wie sich zwei treffen und sympatisch finden. Man geht zusammen essen, ins Kino, knutscht ein bisschen und irgendwann sagt einer: „Wollen wir gemeinsam in den Urlaub fahren?“ und der andere sagt arglos „Schöne Idee.“ Wenig später sagt der Hobby-Fahrradfahrer: „Wir könnten auch Fahrradurlaub in Irland machen“ und sein Onlinematch sagt: „Warum nicht“ und dann hat man den Salat. Vier Monate später, Flüge und B&B sind gebucht und man liest in der Streckenplanung „Die Gesamtstrecke von 167 km ist wohl nur für sehr trainierte und geübte Radfahrer etwas, wenn man sie an einem Tag bewältigen will.“ und denkt FUCK FUCK FUCK, lässt sich aber nichts anmerken. Meter für Meter muss man das geistig unterteilen, nicht die 167 km als ganzes sehen. Nicht an die Höhenunterschiede von – 70 und 300 m denken. Die ersten Kilometer geht es noch. Man will sich ja vor dem neuen Partner nicht bloßstellen, aber dann tun erst die Oberschenkel, dann die Unterschenkel und dann der Po weh. Streckenkilometer 15. Es fängt an zu regnen, der Wind peitscht ins Gesicht, alles wird taub, ein paar Minuten ist das ganz angenehm. Streckenkilometer 21. Der Körper droht zu kollabieren, das Leben zieht an einem vorbei. Es geht bergauf, leider nicht mental. 30 Kilometer sind geschafft. Der Partner vor einem zeigt keine Anzeichen von Nahtoderfahrungen. Vielleicht hat man Glück und es hagelt, dann würde man vielleicht doch eine Pause machen. Aber es hagelt nicht. Kilometer 35.

So wäre das für mich. Die Frau, die aussieht wie Megan Rapinoe, erweckt diesen Eindruck gar nicht. Eine andere Lebensform. Ich versuche mir vorzustellen was für ein Mensch ich sein müsste um zu denken: „Hey, im nächsten Sommerurlaub mal an einem Tag den Ring of Kerry mit dem Radl abfahren, das klingt super!“. Wie weit das von meinem Ich entfernt ist, das lieber einen 500 Gramm Becher Eis zu einer Miniserie für eine gelungene Tagesgestaltung hält.

Ich bin wirklich ein sehr ehrgeiziger Mensch. Wirklich. In allen geistigen Aktivitäten fühle ich mich herausgefordert, aber mein Körper ist einfach nur eine Hülle. Eine Hülle, die aufs Sofa will.

Megan Rapinoe trinkt ihr Glas Wasser aus. Ich hole mir ein Stück Schokotorte und beobachte sie durch das Fenster wie sie sich auf ihr Rennrad schwingt. Ein Navi benutzt sie nicht. Es gibt nur sie und den Ring of Kerry.

 

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56 Gedanken zu „Ring of Kerry – du kannst es schaffen (also du, nicht ich)“

  1. Ach ja. Irland. Da kenne ich ja nur Dublin. Vom Ring of Kerry einmal ganz zu schweigen.
    Aber ich bin schon mal über den Reschenpass von Österreich nach Italien geradelt. Und das ist noch gar nicht soooo lange her.
    Vielleicht sollte ich mal mit meinem Mann reden, ob wir den Ring of Kerry packen würden.
    LG
    Sabienes

    1. Wenn Du das machst zur Info: Pro Jahr dürfen nur 9.000 Fahrradfahrer*innen den Ring of Kerry fahren. Man muss sich vorher registrieren. Also falls ihr das wirklich mal plant. Nicht vergessen.

  2. Ach ja, Irland… Das war der schönste Urlaub, den ich je hatte! Der Ring of Dingle hat uns noch besser gefallen als der Ring of Kerry.
    Ansonsten sind wir den Wild Atlantic Way entlang gefahren und haben angehalten, wo es uns am besten gefallen hat.
    Die Straßen sind allerdings gewöhnungsbedürftig, aber ich empfand die Iren zum Glück als sehr geduldig, wenn ich etwas länger brauchte beim Rückwärtsfahren.

    Und jetzt habe ich Fernweh…

  3. Hach! Herrlich! Mal wieder wunderbar humorvoll geschrieben mit der gewohnten Dosis Selbstironie. Wie schön, wenn man auch mal herzlich über sich selbst lachen kann.

    Der Westen von Irland ist wundervoll und ich wünsche dir von Herzen eine tolle Zeit dort.

  4. Bei mir fängt es mit dem Po an und hört mit dem Po auf. Harte Sättel, what are they good for? Gerade getestet mit geliehenen Rädern im autolosen Urlaub.

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