Sei doch nicht so perfektionistisch!

„Sei doch nicht so perfektionistisch!…denn dann lösen sich alle Überlastungsprobleme von selbst.“

Schatz, ich habe gekocht!

Dank europäischem DACH-Schaden, geht die Pandemie immer weiter und das Thema Überlastung ist keine Ausnahmeerscheinung mehr, sondern wird in verschiedenen Schattierungen Grundtenor. Dass die „systemrelevanten“ Berufe besonders hart betroffen sind, muss man eigentlich nicht extra sagen. Erzieherinnen, Lehrerinnen, Krankenschwestern, Altenpflegerinnen, Ärztinnen arbeiten seit über 1,5 Jahren im Ausnahmemodus. Schon vor der Pandemie war klar: Bezahlung und Arbeitsbedingungen sind oft unter aller Kanone. Woher die Betroffenen der Berufsgruppen derzeit noch ihre Motivation schöpfen, ist mir gelinde gesagt ein Rätsel. Es sind ja nicht „nur“ die unzumutbaren Belastungen im Job – sie alle haben Familien, Angehörige, Sorgeverpflichtungen – eine zweite Schicht nach Ende der Erwerbsarbeit.

Doch selbst mit Traumbedingungen gehen viele Frauen langsam auf dem Zahnfleisch. Pandemie-Alltag macht mürbe. Auch wenn die Kindergärten und Schulen auf dem Papier offen sind, ist die Kinderbetreuung schon lange nicht mehr gewährleistet. Stundenausfälle, Schließtage, Quarantäne, dem Gesundheitsamt hinterher telefonieren, FFP2-Masken-Vorräte aufstocken, Schnelltests organisieren und die ständige Sorge um die Gesundheit der ungeschützten Kinder bestimmen den Familienalltag.

All das lastet schwer.

Wir wechseln langsam von pandemüde zu pandekoma.

Überlastung – auch in Hinblick auf Mental Load – ist also das Thema der Stunde und ich sehe die Mental-Load-Workshops aus dem Boden sprießen. Schaue ich aber in die Kurzbeschreibungen des Inhalts, so fällt mir auf: Irgendwie geht es immer ums Optimieren. Alltag optimieren, Erwartungen optimieren, Perfektionismus fallen lassen. Fix the women. V.a. die überlasteten Frauen sind in der Verantwortung. Klar, sie können andere nicht beeinflussen – sich selbst sehr wohl, also geht es darum sich selbst zu kalibrieren.

Das finde ich schwierig. Natürlich sind alle Hebel, die man selbst bedienen kann, wichtig. Nur ist das lediglich ein Teil der Lösung und am Ende bürdet man den Betroffenen noch mehr Verantwortung auf. Denn die unterschwellige Botschaft ist ja irgendwie: „Deine Erwartungen sind zu hoch, Du bist zu perfektionistisch… wenn Du das nicht wärst, dann hättest Du keine Probleme.“

Perfektionismus ist bei Überlastung das kleinste Problem

Perfektionismus gibt es natürlich. Keine Frage. Allerdings ist Perfektionismus meistens nicht das Problem. Ein Alltag scheitert nicht daran, dass ein Kind zwei verschiedene Socken anhat und ein Elternteil sich denkt: „So what?“ und der andere am Rad dreht und deswegen nicht nur das Kind zukünftig selbst anzieht, sondern auch alle anderen Aufgaben (und deren Planung) an sich reißt.

Gerne wird in Diskussionen aber so getan. Dabei wird etwas verwechselt. Perfektionismus und der Standard einer qualitativ angemessenen Versorgung, der an den Vorerfahrungen ausgerichtet ist.

Exkurs: Erwerbsarbeit

Um klar zu machen, was ich meine, hier ein kleiner Exkurs in die Jobwelt:

Eine Abteilung will etwas neu einführen. Sie hat noch keine Erfahrung mit der Sache. Also wird ein*e Expert*in eingeladen, die anhand von Best Practice Beispielen zeigt, wie man vorgehen kann, um schnell optimale Ergebnisse zu bekommen. (Da in solche Beispiele ziemlich viel Know-how einfließt, wird in der Regel für die/den Expert*in Geld ausgegeben…)

D.h. wer es sich irgendwie leisten kann, profitiert von den Erfahrungen anderer. Niemand hat ein echtes Interesse beim Urschleim anzufangen und dann gegen all die Wände zu rennen, die andere schon kennengelernt haben, sich all die Beulen zu holen, die sich andere schon geholt haben. Das ist Ressourcenverschwendung. Da von Zeit und Geld meist nicht unendlich da ist, spart man sich diese dilettantische Vorgehensweise.

Und im Privaten?

Im Privaten läuft es nicht selten komplett anders. Oft gibt es eine Person, die jahrelang Know-how gesammelt hat – die weiß, was wichtig ist, die nicht nur kurzfristige Ziele im Kopf hat, sondern das große Ganze, alle Abhängigkeiten, alle Details.
Kommt nun eine weitere Person hinzu und will (soll?) Aufgaben übernehmen, heißt es oft:“ Ich will meinen eigenen Weg finden!“**

Das vorhandene Know-how wird wenig gewertschätzt, Nebenwirkungen werden gar nicht gesehen, weil man eben nicht für das große Ganze zuständig ist. Quick and dirty-Lösungen* sind schließlich auch Lösungen.
Die Person, die seit Jahren Familie und Haushalt wuppt, wird aufgefordert sich nicht zu haben. Lass doch Fünfe mal gerade sein! Locker machen ist die Devise. Warum immer so perfektionistisch?

(Ich stells mir so lustig vor, wenn ich im Job eine neue Aufgabe übernehme und meinem Chef dann sage: „Hä? Wieso denn so exakt? Warum denn alles beachten? Das geht doch auch bissi mit low expectations, oder? Deadlines? Budgets? Hab dich mal nicht so.“)

Verantwortlich gemacht wird immer Mutti

Ein weiteres Problem der obigen Quick and dirty-Lösungen ist übrigens folgendes. In unserer Gesellschaft wird in der Regel die Mutter/Frau bewertet, nicht die Person, die low performt äh eine Quick and dirty-Lösungen wählt und umsetzt.

  • Wohnung sieht aus wie Kanone? Entschuldigung Peter, was ist denn mit Deiner Frau los?
  • Kind hat eine dünne Hose trotz Minusgrade an? Also mir ist ja schon neulich aufgefallen, dass irgendwas in Ingrids Haushalt nicht stimmen kann. Das arme Kind!
  • Logopädie-Termin verpasst? Hat die keinen Überblick oder was?

Natürlich übt das Druck aus. Deswegen sind Frauen vielleicht nach außen sichtbare Themen auch besonders wichtig. So wichtig, dass sie sie entweder selbst erledigen oder aber eine „nervige“ Qualitätskontrolle durchführen.

Sich locker machen, ja unbedingt!

Also Sachen wegatmen und sich locker machen. Ja. Aber bitte auch die Hintergründe sehen. Und ganz am Ende: Wenn Person B Dinge unbedingt ganz anders machen muss als Person A empfohlen hat: Dann bitte auch hinterher aufwischen.

Denn da sind wir beim nächsten Problem: Wenn man nicht auch die Konsequenzen seines Handelns mit ausgleicht, sondern das wieder bei Person A landet, ist nicht wirklich viel gewonnen. Plus: Bei bestimmten sind bestimmte Konsequenen eben nicht einfach aufzufangen.

  • Frist X verpasst? Ja kacke. Dann kostet es mehr Geld oder geht vielleicht gar nicht.
  • Kind nicht zur Physio gebracht? Nicht so toll für die Gesundheit.
  • Beim Einkauf die Hälfte vergessen? Macht Mehraufwände am nächsten Morgen, wenn noch einer schnell zum Bäcker muss, daraus folgt wieder mehr zeitlicher Druck. Eine andere Sache kann nicht gemacht werden… etc. pp. 

Oft ist unser Alltag auf Kante genäht. Wenn ein Element rausfällt, dann gibt es einen Dominoeffekt. DAS macht Frauen nervös und angespannt.  Nicht ob die Kinderhose zum Pulli passt.

Und ja, selbst wenn das mal so ist: An dieser Art Perfektionismus scheitert nicht die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft. Das ist am Ende Derailing. Weil es 1 von 100 Personen gibt, bei der das so ist, diskutieren wir über „Frauen sind immer so perfektionistisch“ statt die eigentlichen Themen zu benennen.

Eine Followerin auf Instagram schrieb mir: Ich bin einfach nicht bereit den Versorgungsabstieg zu akzeptieren. Ich verstehe sie und ich wette, wenn es nicht um private Sorgearbeit sondern um Erwerbsarbeit ginge, dann würde das ihr Partner genauso sehen.



*Ja, Quick and dirty-Lösungen sind auch Lösungen. Und kein Kind stirbt an Skorbut wenn es mal Fertigpizza gibt. Der Punkt ist nur: wie ungerecht ist es bitte, wenn sich eine Person den Arsch aufreißt und auf gesunde Ernährung achtet und ohnehin 80% der Versorgung übernimmt und die andere Person, die selten oder ausnahmsweise mal dran ist, dann so gut wie immer Fertigpizza serviert? Irgendwie schon verständlich, wenn man da säuerlich wird als Hauptverantwortliche?

D.h. wenn es für beide ein bestimmter Quick and dirty-Standard ok ist, dann ist alles fein. Über alles andere muss verhandelt werden. Am Ende kann man sich entgegen kommen oder aber auch beschließen: Das Thema ist zentral, da machen wir keine Abstriche. Das kann und muss es auch geben.

Abgesehen davon ist es auch total nervig, wenn eine Person die unlustigen Aufgaben bei Kindern durchsetzt und nachhält (Körperhygiene, Ernährung, Hausaufgaben, Ordnung) und die andere die spaßigen (Spielplatz, vorlesen, toben, Pommesernährung…).

Full Disclosure: Bei uns gibt es 2-3 x die Woche Fertigpizza UND genauso oft Pommes zu Mittag. Das ist nämlich kein Text zum Ernährungsblaming, sondern einer über fair ausgehandelte, individuelle Familienstandards.


**Es gilt übrigens nie entweder oder. Den eigenen Weg zu finden, ist natürlich auch sinnvoll. Aber vielleicht auf eine dezente Art? Nicht wie ein Bulldozer, der erstmal alle vorhandenen Kenntnisse ignoriert?
Im übrigen ist ja wirklich der Weg oft viel egaler als das Ergebnis. Wenn man grob in der selben Zeit zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommt… ich glaube nicht, dass man als Paar dann über den Weg streitet.
Das ist vielleicht nochmal ein eigener Artikel: Wenn die modernen Väter jetzt mehr Sorgearbeit übernehmen – warum müssen Väter dann einen eigenen, unbedingt besonderen Weg finden, um sich von den Müttern abzugrenzen? Warum gibt es dann nicht den verschmolzenen Weg der Eltern, sondern den Weg A = Mutter und Weg B = Väter? Und irgendwie muss beides voneinander abgrenzbar sein. Krampfi-Muddi vs. Easy-Dad! Vielleicht mag mir das mal jemand dadsplainen?

208 Gedanken zu „Sei doch nicht so perfektionistisch!“

  1. „Wenn die modernen Väter jetzt mehr Sorgearbeit übernehmen – warum müssen Väter dann einen eigenen, unbedingt besonderen Weg finden“

    Aus dem selben Grund warum Frauen die jetzt mehr Führungsrollen übernehmen einen anderen Führungsstil wählen.

    „Wenn ein Element rausfällt, dann gibt es einen Dominoeffekt. DAS macht Frauen nervös und angespannt. “

    Das Beispiel zeigt das es Defizite im Zeitmanagement gibt, denn Fehler sind ganz normal und man sollte Freiräume mit planen um diese ungeplanten Dinge auffangen zu können.

    Hier ist ggf. der Partner besser oder er hat einen „neuen“ Blick auf die Probleme und sieht einfacher was ggf. anders gemacht oder weg gelassen werden kann.

    ———-

    Viele Dinge sind leicht zu organisieren und trotzdem sehe ich viele Eltern die das nicht machen.

    – Kurzfristig Schulsachen organisieren: in 5 Minuten im Internet bestellt und 1-2 Tage später hat man es im Briefkasten oder bei der netten Rentnerin-Nachbarin die sich freut wenn man es abholt damit man ein wenig Erzählen kann.

    – Kontakt mit anderen Eltern aus Schule und Kita das sie dein Kind mitnehmen wenn bei dir irgendetwas dazwischen kommt (oder andersherum). 2 gleichaltrige Kinder beschäftigen sich viel einfacher als 1 Kind + Elternteil

    – Abends 20 Minuten eher ins Bett gehen um morgens 20 Minuten mehr Zeit zu haben, damit man keinen Stress hat wenn irgendetwas nicht so läuft (Kind bekleckert sich beim Frühstück, will vor der Kita noch spielen, Anziehsachen sind zu klein, Käfer anschauen oder Blätter sammeln, kleinen Umweg gehen)

    – Die Wohnung/Haus so gestalten das auch die Kinder schon viel alleine machen können.

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    Ich persönlich finde es mittlerweile sehr schön für unsere Familie das Morgenprogramm zu orchestrieren (Frühstück, Kita- und Schulboxen, Anziehen, Kita bringen, Geschirrspüler, ggf. Müll). Es ist nahezu nie Stressig und die kleinen Zeitinseln werden jeden Morgen anders gefüllt. Mal mit Spielen, mal mit anderem Weg, mal mit gebackenen Sandswitches für die Schule…

  2. „Oft ist unser Alltag auf Kante genäht.“
    Genau so ist es. Und durch die Pandemie bleibt einfach nochmal mehr auf der Strecke und es sind alle Reserven aufgebraucht. Vieles bleibt schon liegen, aber einige Dinge müssen eben einfach erledigt werden. Das hat nichts mit zu hohen Erwartungen zu tun.

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