Tag 2 – Bagger und Presslufthammer

Symbolbild Sonnenaufgang. Um 4 Uhr habe ich immer die allerbeste Laune.

Ich kann einfach nicht ausschlafen. Ich weiß nicht wie man das macht. Mein ganzes Leben schon. Ich hab eigentlich nur Kinder bekommen, damit ich einen Grund habe, zu unchristlichen Zeiten aufstehen zu können. Beliebt macht man sich mit diesem Biorhythmus nicht. Ich habe also immer gut zugehört, wenn andere über das frühe Aufstehen klagen und habe mir beigebracht es perfekt zu reproduzieren: „Oh. Sechs Uhr erst. [Ich bin schon seit 5 Uhr wach] Ich bin ja noch so müüüüde [Um 17 Uhr bin ich müde, aber um 6 Uhr bin ich pumpelfit]. Ach könnte ich bloß noch ein Stündchen schlafen! [Schrecklich wäre das!]“.

Im Urlaub sorge ich mich deswegen immer sehr, wie ich das mit dem Ausschlafen hinbekommen soll. Mein Freund liebt z.B. das Ausschlafen. Er kann den ganzen Tag ausschlafen. Bis spät in die Nacht kann er ausschlafen. Er guckt auch immer ganz komisch, wenn ich um 7 Uhr Radtouren machen möchte oder mir um 10.30 Uhr der Sinn nach Mittagessen steht.

Ich nehme mir also vor im Urlaub einfach aufzustehen, wenn ich wach bin und vor dem Frühstück noch einige Bahnen im Pool schwimmen! Doch ach! Frühstück gibt es erst ab 7.30 Uhr. Vor Sorge konnte ich Abends kaum einschlafen – was soll ich bloß tun bis es endlich 7.30 Uhr ist – doch dann passierte etwas wunderbares! Weil ich durch mein Grübeln erst so spät eingeschlafen war, wachte ich tatsächlich erst um 7 Uhr auf und zwar aufgrund des Baulärms, der durch das Fenster drang. Wunderbar! Baulärm mitten in der menschenverlassenen Natur, die rotgold den Morgen willkommen heißt. Ich liebe Berlin ja, weil es so lebendig ist und überall immer Baustellen sind. Als ich also den Bagger hörte, wie er irgendwo einen Gebäudeteil des Hotels einriss, wurde mir ganz warm ums Herz. Und noch schöner! Das ganze Hotel wachte mit mir auf und ich würde nicht alleine frühstücken müssen.

Ich zog mich also an und wanderte durch die langen Gänge gen Restaurant. Über Malerfließ (es wurde auch gestrichen), über lange Kabel von Staubsaugern, vorbei an Männern mit Schubkarren, dem Baulärm von Bohrern und Presslufthammern immer entgegen.

Das Herbstlicht strahlt in den schönsten Orangetönen auf die Bagger zurück.

Während ich mich an meinem Tisch niederließ und an einem braunen Tee (?) Kaffee nippte, verstand ich plötzlich die Genialität der Geräuschkulisse! Darauf hätte ich als Diplom-Psychologin natürlich kommen können. Man konditioniert hier die Gäste. Man setzt sie in ein eigentlich entspanntes Setting und immer wenn die Entspannung hoch kommt, paart man das mit einem RATATATATATATATRARARARRR-Geräusch. Das wiederholt man konsequent über den Tag verteilt, bis sich im Gehirn eine stabile Verbindung zwischen Entspannung und dem RATATATATATATATRARARARRR-Geräusch gebildet hat. Wenn man dann wieder im Alltag ist und zufällig an einer Baustelle vorbei kommt und ein RATATATATATATATRARARARRR-Geräusch hört, entspannen sich Körper und Geist! Welch nachhaltiges Konzept! Großartig! Ein Geniestreich!

Apropos Geniestreich. Was auch phantastisch ist, sind die Nuancen der Ekelhaftigkeit des Kaffees hier. Mein Freund, mit dem ich gemeinsam in dem Hotel war, formulierte die Geschmacksrichtungen des Kaffees, den man hier im Hotel haben kann, mit folgender Frage: „Na, Schatz? Auf einer Skala von Hitler bis Rostentferner, wie schmeckte der Kaffee heute?“

Dabei kann man sich wirklich nicht beschweren, was die Vielfalt des Kaffees angeht. Es gibt Filterkaffee, Espresso, Espresso Macchiato, Café Crema, Cappuccino, Latte Macchiato, Milchkaffee und diesen Presskaffee. Jeder für sich hat eine ganz besonders individuell abscheuliche Note. Beim ersten Kaffee, den ich getrunken habe, war ich mir sicher, dass die Maschine gerade gereinigt wurde und ich das Putzwasser trinke. Also habe ich mir Filterkaffee ohne Chichi geholt, der so bitter war, dass ich Gänsehaut bekam. Danach probierte ich den aus der French-Press, der sogar mit verschiedenen Kaffeebohnen und Mahlgraden angeboten wird. Er ist wahlweise wässrig, sauer oder schlammig. Wenn der Kaffeevollautomat nach langer Benutzung heiß wird, bekommt der Kaffee sogar eine exotische Kotzenote im Abgang. Herrlich. All diese Facetten! Von Klostein bis Putzwasser ist wirklich alles dabei. Tatsächlich ist das ja im Sinne des Gastes. Denn wäre alles perfekt – wer wöllte wieder nach Hause? Wenn aber etwas, das bei vielen Menschen zweifelsohne fester Bestandteil des Alttags ist, so grauenhaft ist, dann gibt es wenigstens einen Grund sich wieder auf das eigene Zuhause zu freuen.

Hmmm, „lecker“ Kaffee (nicht im Bild).

Aber noch will ich nicht an meinen Alltag denken, noch habe ich Urlaub. Also konzentriere mich auf das entspannende RATATATATATATATRARARARRR. Dabei esse ich abwechselnd Weißwürste und Eierkuchen und trinke aus einem großen Glas Eierlikör, der neben dem Cassis- und dem Holunderlassi stand und den ich versehentlich für Mangolassi hielt. Ich verstehe jetzt warum mich die Angestellte beim Eingießen so seltsam angeschaut hat. 0,3 Liter Eierlikör am Morgen gießen sich vermutlich nicht sooo viele Hotelgäste ein. Ich ja eigentlich auch nicht, aber weil ich so schlecht Dinge übrig lassen kann, muss ich ihn jetzt austrinken.

***

Am Nebentisch wird in der Zwischenzeit ein Kammerspiel geboten. Es heißt, so vermute ich: „Die wohlhabende Schwiegermutter und das Familienglück“. Alles beginnt damit, dass sich eine Familie mit einem rund sechs Monate alten Baby an den Nebentisch setzt. Das Baby hat ein knitterfreies Hemd und eine Fliege an. Es hat einen Seitenscheitel und Hosenträger, sowie eine Bundfaltenhose. Ich bin total fasziniert, dass jemand ein Baby in diese Kleidung bekommen hat. Versonnen dippe ich meine hautlose Weißwurst in meinen Eierlikör.

Die Kellnerin tritt mit geradem Rücken an den Nachbartisch. Sie hält einen kleinen Kuchen in den Händen. „Alles Gute zum Geburtstag“ sagt sie und stellt den Kuchen ab. Die ältere der beiden Frauen, sie hat bordeauxrote Haare und trägt ein moosgrünes Kleid bedankt sich. „Im Namen des Hauses würden wir Ihnen heute gerne einen Prosecco anbieten.“ „Das ist aber aufmerksam!“, sagt die Geburtstagsdame. „Dann bringe ich vier Gläser?“ Die Kellnerin schaut in die Runde. Die beiden Männer und die jüngere Frau nicken. Die Geburtstagsfrau sagt: „Fünf!“ Alle sind verwirrt. „Das Baby möchte mitanstoßen!“ lacht die Geburtstagsfrau.

Großartig, denke ich. Gleich werde ich sehen wie ein sechs Monate altes Baby mit einem Sektglas anstößt. Die Kellnerin ist verunsichert, doch dann sagt sie: „Dann vier Prosecco und einen Apfelsaft.“ Die jüngere Frau, ich denke, es ist die Mutter des Babys, sagt: „Bitte nicht!“ Die ältere Frau sagt: „So machen wir das!“ Blickwechsel. „Keinen Saft für das Baby.“ „Wir nehmen fünf!“

So aufregend! Werden sie sich duellieren? Die ältere Frau starrt die jüngere an: „Ich habe heute Geburtstag!“

„Kein Getränk für das Baby.“

Die Kellnerin kommt mit vier Prosecco und einem Apfelsaft. Die Mutter des Babys ext den Apfelsaft weg und hebt das Sektglas: „Prost, Gabriele!“ Gabriele legt ein eiskaltes Lächeln auf: „Prost.“

Dann verliere ich das Interesse an der Szenerie, trinke den Eierlikör aus und gehe in mein Zimmer, um mich für die Therme fertig zu machen.

***

Den Rest des Tages verbringe ich lesend, saunierend und schwimmend. Gegen 12 Uhr habe ich das erste Buch ausgelesen. Wie schade. Es war großartig. Ich liebe von Schirach. Leider liest sich das sehr schnell weg. Dann lese ich von Elif Batuman „Die Idiotin“. Ganz bezaubernd. Ich fange „Mein Jahr mit dem Tod“ an und lese bis ins sechste Kapitel. Um 16 Uhr gehe ich Suppe essen. Es ist schon erstaunlich wie die Zeit sich ohne Kinder ausdehnt. Sonst schaffe ich vielleicht ein Buch in sechs Monaten. Ich fange abends an, lese sechs Seiten, vergesse drei, lese nochmal zwei zurück, werde unfassbar müde, lese noch eine Seite, vergesse alles. Wie in diesem Kindermaschierlied:

eins
und zwei
und drei
und vier
und fünf
und sechs
und sieben
und acht
ein Hut
ein Stock
ein Regenschirm
und vorwärts
rückwärts
seitwärts

ZZzzzzzz

Symbolbild: Ich, wochentags gegen 16 Uhr.

Überhaupt. Ich bin sonst besonders am Nachmittag müde. Im Büro möchte ich mich gerne quer über den Tisch legen und einfach nur schlafen. Hier im Luxushotel bin ich einfach nur wach. Total wach! Sowas von wach als hätte ich Koffein direkt in die Venen gespritzt bekommen. Ach was – Venen. Direkt ins Gehirn. Selbst wenn ich die Augen schließe, stellt sich keine Müdigkeit ein. WACH WACH WACH. Ich habe Angst, dass ich nie mehr schlafen kann. Nach dem Abendessen gehen wir deswegen ins hauseigene Kino. Die Leinwand ist etwas kleiner als die, die mein Freund Zuhause hat, dafür kann man aber in großen Sesseln sitzen. Groß im Sinne von – man verschwindet ganz darin, wird vollständig aufgesaugt, nur der Kopf schaut noch raus. Normalerweise würde ich so sofort einschlafen. Aber ich bin ja wach. Wach für immer. Wach weil ich bis 7 Uhr geschlafen hab. Wach weil ich den ganzen Tag nichts gemacht habe. Wach weil ich nicht 200x unterbrochen wurde bei dem was ich tue. Ich schaue also 209 Minuten den Director’s Cut von „Königreich der Himmel“. Danach bin ich immer noch wach. Mein Freund hat ein bisschen Angst. Ich glaube, er hat mich noch nicht wach erlebt, seit wir uns kennen. Zugegebenermaßen kennen wir uns auch erst ein paar Jahre. Ich weiß ja selbst nicht mehr, wann ich das letzte Mal wach war. Das Müdesein hingegen ist mir sehr vertraut – doch dieses Wachsein ist verwirrend. Ich ziehe mich an und wandere noch ein bisschen um das Haus. Es ist spät. Selbst die Rasenmähroboter sind in ihre Ladestationen zurückgekehrt und schlafen. Ich schaue mir die Sterne an und sehe seit langer, langer Zeit wieder die Milchstraße. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder schlafen werde. Aber ich fühle mich gut.

Einen Tag Urlaub hab ich noch. Kommen Sie wieder. Es wird weiter gehen.

Gestern war auch ein Tag. Wenn Sie den verpasst haben: lesen Sie ihn nach.

44 Gedanken zu „Tag 2 – Bagger und Presslufthammer“

  1. Ich musste laut lachen und sitze immer noch grinsend hier. Danke über diese geniale Beschreibung, ganz wunderbar! …und echtes Mitgefühl,was für ein Pech!

  2. Danke Danke Danke, den Beitrag habe ich gestern unmittelbar VOR einer Zahn-OP gelesen und ich wurde hochoffizeol zur ersten Patientin ever erklärt, die laut lachend in den Behandlungsraum gelaufen ist u d auch auf dem Stuhl noch grinsen musste (ohne dabei anscheinend den Verstand zu verlieren). So ließ sich die OP aushalten!
    Inzwischen bin ich übrigens sicher, dass ich dort auch schon einmal war…was die Geschichte noch lustiger macht, da ich mich an meine Beklemmungen und die seltsamen örtlichen Begebenheiten erinnere.

    1. Es ist total schön sowas zu hören. Ehrlich. Mir bereitet das Schreiben so viel Freude, weil allein der Gedanke, dass ich eine einzige Person zum Lachen bekomme, mich so glücklich macht.
      Gutes Verheilen der OP!

  3. Lärm IM Hotel? Schlage vor, du führst ein „Lärmtagebuch“ und lässt dir das an der Rezeption unterschreiben. Da dürfte eine ordentliche Preisminderung drin sein, allerdings um den Preis, sich streiten zu müssen (wozu ich für gewöhnlich keine Lust habe)

    Ansonsten: Sehr schön geschrieben und ich musste ziemlich schmunzeln. Besonders natürlich über den Eierlikör. Bei der Ration wäre für mich der Urlaubstag vermutlich zu Ende, da ich den Rest des Tages schlafen müsste.

    1. Ich hab die Lärmbelästigung beim Checkout angesprochen. Wurde „Wir gestalten das Hotel kontinuierlich um, da gibt es auch mal Baulärm“ kommentiert.
      Wie gesagt, ich habe dafür sogar Verständnis, aber ob es um 7.30 anfangen muss und ob in einem 5 Sterne Hotel nicht auch anders damit umgegangen werden kann, sei mal dahin gestellt. Tatsächlich hab ich auch keine Lust auf Diskussionen. Ich gehe einfach nicht mehr hin.

  4. Muss man solche Artikel nicht neuerdings als {Werbung aus Liebe, alles selbst bezahlt} kennzeichnen?!

    Ansonsten sehr amüsant zu lesen, ich kann kaum erwarten wie es weitergeht!

    1. Auf Instagram gibt es in der Zwischenzeit die komischsten Kennzeichnungen. Aber ich sage hier doch nicht mal wie das Hotel heißt. Oder antworte ich gerade auf eine lustig gemeinte Frage?

  5. Die letzten beiden Artikel sind wieder mal typisch „dasnuf“.
    Finde das richtig Klasse, Artikel wie diese haben mich vor gefühlt zweiunddrölfzig Jahren (jop, ich lese hier echt schon sehr lange mit) zum regelmäßigen Leser gemacht.
    Ich musste an einigen Stellen wirklich lachen. Super geschrieben. :)

    Freue mich auf mehr.

    Gruß
    Aginor

  6. „Versonnen dippe ich meine hautlose Weißwurst in meinen Eierlikör.“
    ******************KOMMENTAROMAT**********************
    Made my day
    *****************/KOMMENTAROMAT**********************

  7. P.S. Ich übertreibe gerne ein wenig, wie dem/der geneigten Leser/in vielleicht schon aufgefallen ist. Das mit dem Lärm ist aber wirklich so. Unironisch habe ich vollstes Verständnis, dass ein Hotel irgendwann auch mal renovieren oder bauen muss. Allerdings kann man das auf der Website ankündigen, so dass ein Gast entscheiden kann, ob er/sie dennoch kommen möchte oder nicht. Alternativ könnte das Hotel die Arbeiten auch verschweigen und dann einen Nachlass anbieten. Nichts zu sagen und die Gäste mit Baulärm zu überraschen und dann den vollen Preis zu berechnen, halte ich nicht für die beste Taktik. V.a. nicht in dieser Preisklasse.
    Für viele ist es wahrscheinlich ein schwer ersparter Aufenthalt oder wie bei uns: der EINE kinderfreie Urlaub im Jahr.

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