Über die außerordentlich zu empfehlenden Linkempfehlungen des Herrn Buddenbohm bin ich auf ein Interview mit Salman Ansari in der ZEIT online gestoßen. Darin wird „Das Haus der kleinen Forscher“ im Rahmen übertriebener Frühförderung genannt.
Zitat: „Ansari: In allen Stiftungen und Projekten, die sich auf die naturwissenschaftliche Frühförderung spezialisiert haben – egal ob das Haus der kleinen Forscher in Berlin oder das Science Lab in München –, wird versucht, die Welt aus akademischer Perspektive zu erklären. Mit dem kindlichen Denken hat das oft nichts zu tun.“
Ich weiß nicht, wie Herr Ansari zu dieser Aussage kommt. Jedenfalls ist der Kindergarten, den unsere Kinder besuchen, ein Kindergarten, der oft mit dem Haus der kleinen Forscher zusammenarbeitet und in diesem Rahmen eine Forscherplakette bekommen hat. Ich halte diese Stiftung für eine außerordentlich gute Sache.
Sie gibt lediglich Hilfestellungen für den Kitaalltag und präsentiert Beispiele besonders gelungener Forschungsarbeiten. Unser Kindergarten ist zB mit einem Regenwurmprojekt vertreten. Das Projekt kam zustande weil eines der Kinder einen Regenwurm aus der Hosentasche zog, was zu großer Begeisterung bei allen anderen Kindern führte. Die Erzieherinnen haben diese Begeisterung aufgegriffen und den Regenwurm zum Forschungsprojekt gemacht. Das Ganze begann mit dem Zusammentragen von Informationen und als die Kinder z.B. hörten, dass der Regenwurm auf lateinisch Lumbricidae heißt, wurde er liebevoll Lumbri genannt. Die Kinder trugen zusammen, was Regenwürmer so essen, man baute ihm ein artgerechtes Häuschen, beschäftigte sich mit Verwesungsprozessen (von Blättern und ähnlichem), Fressfeinden, stellte zusammen wie Regenwürmer leben, was sie „leisten“ etc.
Es wurde nichts gefragt, was die Kinder nicht selbst wissen wollten. Das ist eine tolle Regel im Kindergarten und übrigens auch zuhause gut anzuwenden. (Wenn die Kinder im zarten Alter von drei fragen, wo die Babys herkommen, genügt es meist völlig zu sagen: Aus der Gebärmutter. Für 98% aller Kinder ist die Frage damit geklärt. Auf alle weiteren Details kann man vorerst verzichten).
Das Projekt wurde von den Erzieherinnen mit Bildern festgehalten und mit Zitaten und Forschungsergebnissen illustriert. Ein wunderbares Projekt.
Die kleinen Forscher haben sich genau das zum Ziel gemacht „Die alltägliche Begegnung der Kinder mit der Naturwissenschaft und Technik in allen Kitas zu verankern“. Klingt vielleicht hochtrabend, hat aber rein gar nichts mit Frontalunterricht und Überforderung zu tun. Die Erwähnung der Stiftung im Kontext der übertriebenen Frühforderung ist in meinen Augen wirklich nicht gerechtfertigt.
Der ganze Artikel hat in mir ein Trauma wachgerufen und jetzt kommt das Tolle, wenn ich nachfolgend ablästere, werden die betroffenen Eltern das nie erfahren. Es handelt sich nämlich um die Gruppe der Lasst-die-Kinder-doch-natürlich-aufwachsen-Eltern. Diese sind naturgemäß gegen alles unnatürliche wie Technik und Naturwissenschaft. Obwohl unsere VertreterInnen einige Jahre jünger als ich sind, benutzen sie Teufelszeug wie das Internet und nicht. Sie werden diesen Artikel also niemals lesen.
Was sie aber machen, ist Elternabend für Elternabend fordern, dass die Erzieherinnen doch bitte mit den Kindern drei bis vier Mal die Woche in den Wald gehen – Unser Kindergarten geht bereits regelmäßig mit den Kindern in den Wald muss man dazu sagen. Mindestens pro Jahreszeit einmal und auch sonst wird sehr viel draußen gemacht. Draußen ist aber eben die Stadtnatur. Das kann der Hof sein, die Baumscheibe, das Spielplatzareal, der kleine Park um die Ecke – was auch immer den Kindern eben begegnet. Sei es Pflanze oder Tier (siehe Regenwurm).
Ich finde diese Eltern total lächerlich. Sie verlangen, dass die Kinder unabhängig von der Jahreszeit mindestens alle zwei Tage eine mindestens 40minütige Anreise in den Wald (wir wohnen nunmal mitten in Berlin) auf sich nehmen, um mit der Natur zu leben. Sie selbst aber kommen zu gar nichts und auch am Wochenende ist immer alles so stressig, dass sie es leider nicht schaffen, mit den Kindern raus zu gehen. Genau deswegen soll das doch bitte die Kita machen. Die Kinder haben das doch verdient! Und das ist ja wohl das Mindeste, was man von den Kindergärtnerinnen verlangen kann! Ich möchte dann immer aufstehen und schreien: DANN ZIEH DOCH IN DEN WALD WENNS DA SO SCHÖN IST.
Mache ich natürlich nicht. Bin ja kultiviert. Aber was ich sagen will: Warum ist es so schwer einen Mittelweg zu finden? Warum gibt es nur die Extreme Kinder total zu überfördern mit fünf verschiedenen Lernangeboten und der Gegenseite mit zerschlissenen Kleidung Wurzelkauend im Wald zu leben?
Es gibt verschiedene Lebenswelten und es gibt bei Kindern verschiedene Interessen. Warum ist ein Interesse an politischer Zeitgeschichte schlechter als das Interesse an Frühjahrsblühern. Warum ist es cool, wenn ein Kind zwanzig verschiedene Baumarten kennt und umgekehrt ist es ein Fall fürs Jugendamt wenn ein anderes Kind zwanzig verschiedene Automarken identifizieren kann?
Kind 2.0 interessiert sich zum Beispiel sehr für die Geschichte der Teilung Deutschlands. Warum? Es lebt in einem ehemaligen Ostbezirk von Berlin – einer ehemals geteilten Stadt. Es hat Wessieltern und OssielternfreundInnen. Es kennt den „Tag der deutschen Einheit“, es kennt die Reste der Berliner Mauer. Das gehört alles zu seiner direkten Lebenswelt. Wenn es Fragen stellt, warum sollen diese nicht beantwortet werden? Was wäre denn angemessen? Zu sagen „Sorry, Du bist erst fünf, du lernst jetzt erstmal was über die Natur und da bitte auch nicht zu komplex.“ Es ist doch eine Frage der Lebenswelt. Ich kenne Kinder von Hirnforschern, die kennen mit sechs schon alle wesentlichen Gehirnareale. Na und? Die Eltern reden eben beim Abendessen über die Hypophyse und die Medulla Oblongata und haben ein schickes 3D-Gehirnpuzzle zuhause.
Verächter der frühkindlichen Förderung, geht doch in den Wald und lebt da ganz natürlich. Meine Kinder dürfen sich interessieren für was sie wollen. Pah!