In 6,66 Stunden sind wir fertig

Als wir hörten, dass alle Fenster in unserer Wohnung ausgetauscht werden sollten, hatten wir die tolle Idee, dass wir doch gleich ein wenig renovieren könnten. In einigen Zimmern haben wir Raufasertapete. Das finde ich ganz und gar grässlich. Deswegen sollte sie entfernt werden und danach würden wir alles weiß streichen.

Als ich Freunden von unserem Vorhaben berichtete, stimmten sie unabhängig voneinander einen gleichlautenden Klagegesang an: „Nein, tuhut das nicht, es ist so furchtbar, das schrähäcklichste, das man mahachen kann! [Chor, etwas flotter: Lasst die Raufaser dran, lasst sie dran!]“

Dabei hatten wir einen guten Plan. Zunächst verteilten wir die Aufgaben: Mein Mann würde sich Urlaub nehmen und alles handwerkliche übernehmen. Ich würde weiter arbeiten gehen und mich um unseren Nachwuchs kümmern. Damit wir am Abend und Morgen nicht im Weg rumstünden, zögen wir zu Freunden.

Zur weiteren Einstimmung auf die zu erledigenden Aufgaben, bereitete sich mein Mann wochenlang durch intensives Studium von Do it yourself You Tube Videos vor.

Eine Woche planten wir ein und die ersten Tage würde ich mit den Kindern zu Freunden ziehen. Danach wäre das meiste erledigt und wir könnten wieder beim Vater sein. Wir würden für den Rest einen Fachmann engagieren und dann wäre am darauf folgenden Wochenende alles erledigt.

Am Wochenende vor dem Renovierungsstart räumten wir alle frei liegenden Gegenstände in Kartons, schoben die leeren Möbel in die Zimmermitte und entfernten Nägel und Schrauben in der Wand. Dann machte mein Mann eine vorsichtige Probekratzung.

Die Probekratzung ergab, dass sich die Wand relativ zügig freischaben ließ. Innerhalb von einer Stunde, waren 6 Quadratmeter entfernt. Wir hatten die Wandflächen vorher akribisch vermessen und festgestellt, dass jedes Zimmer 40 Quadratmeter Wandfläche hatte. Grob gerechnet wäre ein Zimmer also in 6,66 Stunden erledigt. Selbst wenn man zwanzig Prozent Puffer dazu addierte, wären wir spätestens Mittwoch fertig.

Am Montag packte ich mein Köfferchen, nahm die Kinder und zog aus. Mein Mann hingegen griff sich ein Parfümflakon, füllte Raufaserablöseflüssigkeit zu 25 Euro den Liter hinein und begann bedächtig die Raufaser einzunebeln. Mit einem Poussiereisen kratzte er zärtlich die Raufaser von der Wand.

Am Dienstag kam Kind 1.0 dazu, um zu helfen. Kind 1.0 hatte sich die ganzen höchst informativen Renovierungsvideos des Internets gar nicht angesehen, packte sich eine Spachtel, kratzte diese quer über die Raufasertapete und zog bahnenweise die Raufasertapete ab. Nach 30 Minuten hatte es ca. 20 Quadratmeter Wand frei gelegt.

Als ich am Mittwoch erneut nach dem Rechten sah, befand sich mein Mann immer noch in Schockstarre. Ich gab ihm eine zärtliche Ohrfeige und zog zwei weitere Tage mit den Kindern zu Freunden. Während ich abends auf deren Couch lungerte, die Hauskatze mir meine Beine wärmte und der Hausherr Cocktails darreichte, gedachte ich meines Mannes.

Ich stellte mir meinen Mann in der zugigen Wohnung vor: Alle Fenster waren bereits rausgebrochen, zum Einbau der neuen Fenster waren die Handwerker noch nicht gekommen. In der Mitte des Wohnzimmers, eine kleine brennende Tonne, wo er sich zitternd seine Hände wärmen konnte. Es beginnt zu schneien und bevor er seine Arbeit wieder aufnimmt, schippt er den Schnee ins Kinderzimmer.

Zwei Wochen später war er fertig. Länger hätte ich es auch wirklich nicht bei den Freunden ausgehalten. Jeden Abend Modern Family schauend bekocht und mit Süßigkeiten gemästet zu werden, das ist auf Dauer kaum zu ertragen.

Es folgten zwei Tage grundieren, zwei weitere Tage Löcher mit Gips ausbessern und dann kam der Maler. Bei der Erstbegehung hatte er gesagt: „Nein, tuhut das nicht, es ist so furchtbar, das schrähäcklichste, das man mahachen kann!“. Als er kam nachdem die Raufaser entfernt war, fragte er mitfühlend: „Wollt ihr all die Löcher so behalten?“ und als er fertig gestrichen hatte, informierte er: „Ich mags ja eher nicht so rustikal. Aber es freut mich sehr, wenn es euch so gefällt.“

Das ist die Geschichte unserer Teilrenovierung. Wir stritten nicht. Es fiel nie das Wort Scheidung, alles war ganz entspannt, ich lüge nie.

Und falls ihr mal auf die bescheuerte Idee kommt Raufasertapete abzulösen, hört auf eure Freunde oder aber

1) Versucht immer erst den leichten (abziehen ohne vorher feucht zu machen) vor dem schweren Weg (Raufaser einweichen und abkratzen)

2) Kauft keine Raufaserablöseflüssigkeit, sondern mischt Spüli und Wasser.

3) Wenn ihr einweicht, dann richtig. Es darf triefen! Kauft ein Drucksprühgerät.

4) Klebt den Boden ordentlich ab.

5) Klebt den Boden ordentlich ab.

6) Klebt den Boden ordentlich ab.

7) Kauft eine ordentlich breite Spachtel und wenn gar nichts hilft, leiht euch eine Nagelwalze im Baumarkt.

8) Dann kratzt tagelang.

Schon seid ihr fertig.

Selten so gelacht

Witze sind für Kinder in einer bestimmten Entwicklungsphase sehr wichtig. Kind 1.0 erzählt nach der Schule beinahe täglich Witze. Die Witze lassen uns meist ratlos zurück.
„Angeklagter, warum haben Sie das Auto gestohlen?“
„Ich musste ganz schnell zur Arbeit.“
„Da hätten sie doch einen Bus nehmen können.“
„Stimmt!“
Als würfe das nicht Fragen genug auf, hat nun auch Kind 2.0 die Witzephase eingeleitet. Morgens kommt es in das elterliche Bett, krabbelt über mich und stellt sich mit den Füßen auf meinen Kopf, um die Raufasertapete dahinter zu befühlen.
Mit den Händen tastet es Erhebung für Erhebung gewissenhaft ab und fängt dann laut an zu lachen.
Wenn wir es verständnislos anschauen, nimmt es meine Hand, reibt sie über die Tapete und wartet geduldig.
Ich denke, es kann Raufaser-Braille und irgendein Scherzkeks hat Das große Witze-Feuerwerk auf unsere Wand getüpfelt.