Die Mutter ohne Herz

Dem regelmäßigen Leser sollte es bereits aufgefallen sein. Ich bin großer Fan evolutionspsychologischer Thesen. Die angeborenen Verhaltensmuster entwickeln sich nur langsam weiter – wohingegen die gesellschaftliche Entwicklung seit Anfang des 19. Jahrhundert rasend schnell voranschreitet.

Dem Urmenschen war nämlich nicht ganz klar, wann es das nächste Mal Nahrung geben würde und ob sich der spitze Stein, der ihm gerade vor die Füße gefallen war, nicht doch als nützliches Werkzeug erweisen würde. Deswegen wurde vorsichtshalber alles gesammelt und gehortet und das ist auch der Grund warum Kinder ALLES sammeln.

Dem kinderunerfahrenen Leser sei versichert, dass mit ALLES wirklich alles gemeint ist. Handele es sich nun um unterschiedlich große Schnecken, verrostete Schrauben, Kieselsteine, Stöcke oder weggeworfene Kaugummis. Wenn man sie ließe, sie schleppten alles mit nach Hause.

Alles wird gesammelt und aufgehoben. Ungeachtet ob Teile fehlen, die Funktion gänzlich unbekannt ist oder das Objekt der Begierde stinkt. Besonders liebreizende Kinder verbinden ihre Sammelleidenschaft noch mit einer bestimmten Art von Opferdarbietung an andere.  Als Eltern erhält man Nüsse, vergammelte Obstkerne und Insektenkadaver und muss diese – sofern man die Seele des kleinen Wesens nicht schädigen möchte – freudestrahlend entgegen nehmen und bei Bedarf sechs Jahre später wieder vorzeigen.

Bei drei Kindern verschiedener Altersklassen kommt da schnell einiges zusammen. Besonders hart ist es, wenn die Nachkommen auch noch gestalterische Energien besitzen. Dann werden nämlich täglich um die 27 Bilder gemalt, geschnitten, gerissen und beklebt. Mal drei.

Leider entspricht die zunehmende Vermüllung unserer Wohnung  nicht meinen ästhetischen Ansprüchen. Und nun mein Geständnis: Wenn die Kinder weg sind, schmeiße ich Dinge weg. Ich weine dabei ein bisschen und fühle mich wirklich sehr, sehr schlecht, denn ich erinnere mich lebhaft daran wie mein kleines Herz als Kind schmerzte, als meine Eltern bereits die Unterbringung meiner Kostbarkeiten in ihrer Wohnung ablehnten. Doch es muss sein. Unsere weiße Designerwohnung duldet einfach keinen nutzlosen Tand.

Dank moderner Techniken habe ich jedoch eine hervorragende Lösung gefunden. Ich fotografiere die Dinge, deren ich mich entledige vorher und zittere deswegen nur ein klein wenig, wenn die Kinder fragen: „Wo ist eigentlich [beliebiger Gegenstand, der auf der Straße aufgesammelt wurde]?“

Meine Antwort lautet dann: „Du wirst Dich jetzt besonders freuen, denn ich habe [beliebiger Gegenstand, der auf der Straße aufgesammelt wurde] unsterblich werden lassen indem ich ihn digitalisiert habe.“ Unsere verständigen Kinder wissen, dass Unvergänglichkeit eines der am meisten angestrebten Güter ist, nicken andächtig und sind sich (mal wieder!) gewiss, dass sie die allertollste Mutter auf Erden haben.

Für mich werden nur die ausgedruckten Bilder langsam zum Problem…