Journelle schrieb vor einiger Zeit einen sehr schönen Artikel mit dem Titel „Mehr auf den Leib geschneidet und weniger geschneiderter Leib„, in dem es unter anderem darum ging, dass ein großer Teil der Mode leider nur für idealisierte Körper entworfen und hergestellt wird. Diese Körper kommen in der unidealen Welt so gut wie gar nicht vor. Unter dem Tag 609060 veröffentlichen seit einiger Zeit Menschen Bilder, die sich selbst in der alltäglichen Kleidung zeigen. Ich hab irgendwann auch damit angefangen, weil mir die Aktion sehr gut gefällt. Anne hat die Aktion wohl auch gefallen, wie bei „609060 oder was normale Menschen so anziehen“ nachzulesen.
Natürlich gibt es auch die Gegenposition „#609060 oder: was heißt hier eigentlich “normal”?„, die beklagt, dass die Aktion rein gar nichts verändere.
Zur Zeit habe ich ja Spaß beim Senf dazu geben, deswegen schildere ich mal meine persönliche Sicht.
Zum Begriff der Normalität. Normal ist für mich immer das, was man klassisch unter der Normalverteilungskurve kennt. Eine Glocke mit einem breiten Mittelteil, zu der aber auch beide Extreme gehören. In der Modewelt gibt es diese Glocke nicht. Es gibt eine große Ausbeulung links bei „dünn“ und der Rest weiter rechts ist die Ausnahme. Das gilt jedenfalls für die Darstellung. Das führt dazu, dass ich mich persönlich mit Größe 40/L schon als nicht normal empfinde. Meiner Meinung nach liegt das an dieser Differenz „wie die Menschen eigentlich sind“ zu „wie sie dargestellt werden“. Würden sie anders dargestellt werden, würde ich mich nicht als abnorm empfinden.
Genau diesen Effekt hat nämlich das Betrachten der #609060-Bilder bei mir: Ich finde mich normal. Rational wusste ich schon immer, dass jede andere Einschätzung eher ein Wahrnehmungsproblem ist. Leider leide ich (zumindest innerlich) an einigen der gängigen Frauenklischees (neben „Mein Gott bin ich dick“ auch an „ich seh immer doof auf Fotos aus“). Ich merke aber, wie dieses Gefühl wahrhaft verpufft beim Anblick der vielen 609060-Fotos. Also wirklich das Gefühl/die Überzeugung.
Eng daran gekoppelt ist für mich das aufrichtige Gefühl, dass ich die anderen #609060-Bilder total schön finde – und damit meine ich natürlich nicht die Bilder sondern die Menschen, die auf den Bildern zu sehen sind. Ich würde auch gerne noch mehr sehen. mehr unterschiedliche. Aller Art!
Auf Twitter kam sinngemäß die Frage auf, warum denn jetzt auch die Konfektionsgröße 36 Frauen mitmachen würden. Aus meiner Sicht machen sie mit, weil sie auch normale Menschen sind und es in dem oben genannten Artikel gar nicht um dünn oder dick sondern um die zwanghafte Prototypisierung ging. Man kann ja Kleidergröße 36 und überlange Beine haben und schon passen die gängigen Hosen nicht mehr. Oder der Busen ist größer als das die Standardgröße 36 vorsieht. Oder die Hüften breiter, die Beine kürzer. Deswegen finde ich es toll, wenn möglichst alle Varianten von Körper/Mensch mitmachen (Männer natürlich auch!). Ich kenne ähnliche Probleme von meinem Mann, der nie Anzüge findet, weil er Größe 46 trägt und sich ständig anhören muss, was er alles essen soll, um endlich mal zuzunehmen. Das ist auf Dauer wahrscheinlich genauso anstrengend und nervig wie die Sprüche, die sich Menschen anhören, die in der Normalverteilungskurve weiter rechts liegen. Deswegen egal welche Kleidergröße – letztendlich geht es doch darum zu zeigen wie schön die Vielfalt ist und wie langweilig die standardisierten und gephotoshoppten Kunstmenschen der bunten Medienwelt sind.
Eine andere Sache ist mir dann beim Betrachten der Bilder aber doch seltsam aufgestoßen. Bei einigen Fotos sind neben dem 609060 Tag auch Tags wie #losingweight in Kombination mit #sounsovielweeksafterbirth zu finden. Das hat mich persönlich doch sehr gewundert, was ich auch kommentiert habe. Daraufhin wurde empört gegenkommentiert, jeder könne doch abnehmen und sein Gewicht reduzieren, wenn er wolle – zumal wenn man sich mit diesem Gewicht unwohl fühle.
Dazu kann ich nur sagen: Bitte! jeder darf tun und lassen was er will und abnehmen und Diät machen gehört dazu. Aber was mir eben nicht gefällt (und so empfand ich diese Kombination), ist dieser Druck nach einer Geburt seine „alte“ Figur zurückzubekommen und das so schnell es geht. Für mich ist das Heidi Klum Promi Quatsch. (Ach fiele mir der tolle Beitrag über den postnatalen Körper und die falschen Priorisierungen wieder in die Hände, ich würde ihn so gerne verlinken). Wenn ein Kind geboren wird, ist es doch nicht wichtig möglichst schnell Kilos los zu werden. Es ist wichtig eine Beziehung aufzubauen. Warum geißeln sich so viele Frauen? Die ersten Monate nach der Geburt sind doch anstrengend genug? Als Argument wurde genannt, man fühle sich eben nicht wohl. Da möchte ich die Frage stellen: Warum? Warum fühlt sich eine Frau nach einer Geburt nicht wohl, weil sie 5?6?7? „überflüssige“ Kilos hat? Ist das wirklich etwas, das von innen heraus kommt? Ich zweifle das an und finde es persönlich nicht schön, wenn das mit #609060 vermischt wird.
Jedenfalls glaube ich sehr wohl, dass es helfen würde, wenn die Zeitungen/Serien/Kinofilme dünne/dicke/große/kleine Menschen zeigen würden und nicht nur die 906090-Exemplare.
Update (Weitere Stimmen)
Denkding zu #609060
Anne zu #609060 – Ein Nachtrag zum Normalsein
Dentaku als Kommentar zu #609060
Wortschnittchen zu #609060
Nido Debatte: 60-90-60
Jawl #609060
Anke Gröner zu #609060 oder: Mein Problem mit dem Mem (wichtiger, mir neuer Aspekt mit den „headless fatties“)
Tadellos, himmelblau „Versteh einer die Welt“
stoewhase als Kommentar „für mich liest sich der text oben etwas zu destruktiv […]“
Und weil es passt:
Vorspeisenplatte „Echte Körper und die Macht von Medienbildern –
ein Beispiel„