Hätte, hätte, Fahrradkette

Ob das passiert wäre, wenn man Sarah-Lee Heinrich schon im Teenageralter medienkompetent gemacht hätte?

Was? Wo? Wie? Ok, hier ein bisschen Kontext:

Die neu gewählte Sprecherin der Grünen Jugend hat im Alter von 13/14 Jahren Mist gebaut und Dinge im Netz von sich gegeben, die komplett unangebracht waren. Die Folge: u.a. Morddrohungen.

Naheliegende Frage an mich, als Autorin eines Buches zum Thema Kinder und digitale Medien: Wie bringt man Kindern Medienkompetenz bei? Wie macht man Kindern klar, dass das was sie jetzt schreiben, ihnen Jahre später schaden kann?

Seit mir die Fragen gestellt wurden, denke ich darüber nach. Nicht weil sie so schwierig sind. Nein, weil mir die Fragen widerstreben. Es sind schlichtweg die falschen Fragen. Es geht hier doch nicht um die mangelnde Medienkompetenz einer 13 Jährigen. So über diesen Fall nachzudenken, stellt sich für mich wie eine Täter-Opfer-Umkehr dar.

Denn – abgesehen vom Thema Medienkompetenz – wer mit 13 nicht Dinge gesagt oder getan hat, die sie/er heute nicht mehr tun würde, der werfe bitte den ersten Stein. Wenn ich mich an meine eigene Nase fasse, so fallen mir wirklich eine ganze Reihe Dinge ein, von denen ich hoffe, dass meine Kinder sie auslassen. Da ist noch am banalsten, dass ich Formulierungen „wie behindert ist das eigentlich?“ oder „voll schwul“ als Abwertungen genutzt habe. Heute ist mir völlig klar, dass das unangebracht ist und ich schäme mich, dass ich früher nicht selbst drauf gekommen bin. Wie gesagt, das sind kleine Beispiele, ich bin mir sehr sicher, dass man mir noch eine Reihe anderer, viel schwerwiegenderer Verfehlungen nachtragen kann.

Aus amerikanischen Serien wie „The Good Wife“ weiß ich, dass das wohl auf jede*n zutrifft und ich, sofern ich für ein politisches Amt kandidieren wollte, jemanden engagieren müsste, der all meine Verfehlungen ausgräbt, so dass wir diese geordnet in einer Strategie gleich auf den Tisch legen können, ehe das ein politischer Gegner täte. Mein*e Strategieberater*in hätte halbwegs Glück. Denn als ich 13 war, gab es noch keine sozialen Medien, kein Google und keine Wayback Machine.

Aber abgesehen davon: Jugendliche sind Jugendliche. Sie dürfen Fehler machen. Vielleicht müssen manche Fehler sogar gemacht werden, damit man sich weiterentwickeln kann.

Unsere Fehlerkultur ist – ich weiß nicht wie ich es gewählt ausdrücken soll – am A****. Ach nein! Unsere Fehlerkultur ist stark verbesserungsbedürftig. So sagt man das. Sehr stark verbesserungsbedüftig.

Menschen machen Fehler. Die Frage ist, wie sie sich verhalten, wenn ihnen das klar wird (machnchmal auch: klar gemacht wird). Was lernen sie daraus, wie entwickeln sie sich, was nehmen sie für ihr späteres Leben mit.

In welcher Welt leben wir bitte, in der nicht mal Teenager Fehler machen dürfen? In der Fehler dieser Art ihnen MORDDROHUNGEN einbringen? In der es normaler ist zu fragen: Wie hätte man der betroffenen Person Medienkompetenz vermitteln können? Statt die naheliegende Frage zu stellen: Wie kann man Hass, Hetze und Verleumdung im Netz eindämmen? Was können wir alle tun, um zukünftig immer besser darin zu werden, zu erkennen, dass Hass bestimmte Menschen trifft (und zwar systematisch, nicht zufällig!)? Dass zum Beispiel Frauen im Netz viel mehr Hass abbekommen (manchmal nur weil sie öffentlich stattfinden) als Männer. Dass es noch schlimmer wird, wenn man nicht weiß ist und dass sich das alles kumuliert wenn man gleich mehrere Merkmale in sich vereint. Wie bilden wir Solidaritätsnetzwerke und machen wir Flauschstürme? Wie lernen wir Opfer und Täter auseinander zu halten? DAS wären die wichtigen Fragen.

Die Frage, die sich im Fall Sarah-Lee Heinrich auftut sollte also wirklich nicht sein: Wie können wir Kinder medienkompetenter machen? Wenn überhaupt nach Medienkompetenz gefragt wird, dann vielleicht nach der, der Digital Immigrants, nach der, der Erwachsenen, die ihren Hass ins Netz rotzen.

Mit scheint es, als würde die Frage nach der Medienkompetenz von Erwachsenen eine zunehmend wichtigere. Wie an der Querdenkerbewegung und an den ganzen Pimmelnasen zu Corona zu sehen ist, scheint mangelnde Medienkompetenz, die sich u.a. darin zeigt, dass z.B. auf YouTube, WhatsApp und Co. keine Fake Facts erkannt werden, eine doch nicht ganz unwesentliche Rolle zu spielen.

Aber gut, das ist vielleicht Whataboutism. Einigen wir uns darauf, dass Medienkompetenz wohl in jeder Altergruppe wichtig ist.

Allerdings hat der eingangs beschriebene Fall für mich eine starke Note von „Wenn der Rock nicht so kurz wäre, dann wäre sie auch nicht belästigt worden“. Denn ich bin mir sehr sicher, dass das selbe bei einem 20 Jährigen, weißen Mann, der jüngst … sagen wir Sprecher der Jungen Liberalen geworden wäre, nie so abgelaufen wäre. Wenn überhaupt irgendwelche Verfehlungen ausgegraben worden wären, dann wäre das Ganze mit „Schwamm drüber“ in der Versenkung gelandet und zwar lange bevor Zeitungen sich gefragt hätten, was man tun könnte, damit Jugendliche keinen Quatsch ins Internet schreiben.

301 Gedanken zu „Hätte, hätte, Fahrradkette“

  1. In dem Fall und auch generell nach der Medienkompetenz von Erwachsenen zu fragen, scheint mir durchaus angebracht zu sein. In meiner Familie gibt es etliche, die dem ganzen Corona-Schwubel folgen und meine Erklärung lief irgendwann auf „nicht medienkompetent“ hinaus.

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