Landleben

Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, ob es schön wäre ein Wochenendhaus zu haben. Dann stach mich eine Mücke.


Mindestens einmal im Jahr zieht es uns aufs Land. Der Kinder wegen. Die armen Stadtkinder sollen auch mal erfahren was Freiheit bedeutet, wie schön es ist, durch ein Roggenfeld zu rennen (möglichst schneller als der Bauer, den man damit verärgert).

Von seinen Geschwistern erfährt Kind 3.0 dass es eine zutrauliche Katze geben soll. Deswegen befüllt es gleich nach unserer Ankunft den Napf, der vor der Haustür steht mit Katzenfutter und legte sich auf die Katzenlauer. Regungslos verharrt es im Halbdunkel des Fliederbaumes und hofft, dass sich irgendwann die Katze der Nachbarin zeigen würde.

Als es dämmert, gibt unser Jüngstes auf und bohrt kleine Löcher in den Boden. In diese legt es die unangetasteten Katzentrockenfutterkroketten und gießt jede einzelne gewissenhaft. Ein Katzenfutterbaum möge dort wachsen, murmelt es, als es die bepflanzten Mulden mit Humus überschüttet.

In der Zwischenzeit betrachtet Kind 1.0 sehr lange ein Poster, das im Inneren des Wochenendhäuschens hängt und stellt fest: „Xsara Picasso ist aber nicht alt geworden. Wahrscheinlich waren die dicken Finger an seinem frühen Tod schuld.“

Am zweiten Tag erscheint an unserem Gartentor überraschenderweise ein Junge im Alter von Kind 1.0. Er ist außer sich vor Freude. Noch nie hat er ein anderes Kind im Dorf gesehen. Seit seiner Geburt fahren seine Eltern mit ihm Sommer wie Winter, Wochenende für Wochenende in das Brandenburger Hinterland. Früher hätte es noch Ziegen gegeben, auf denen er hatte reiten können, aber die seien jetzt tot. Der Zahnfehlstellungen wegen. Die Ziegenzahnspange hätte 6.000 Euro gekostet. Man habe die Ziegen dann lieber eingeschläfert. Ob er denn immer alleine sei? Im Grunde ja, berichtet der Junge. Es gäbe in den Nachbarsdörfern Kinder, er hätte sie alle mindestens einmal gesehen, aber die hießen alle Uwe, so wie ihre Väter und Onkel und irgendwie seien sie komisch. Der Junge führt uns zu seinem Hof. Dort leben drei Wollschweine. Ich schätze, dass sie fünfzig Jahre alt sind. Ihr Fell ist grau. Jedes einzelne wiegt 600 kg. Sie sind unfassbar riesig und ihre fußballgroßen Rüssel beschnüffeln gierig unser Kind 3.0, das ich nicht mehr unbeaufsichtigt lasse. Ich denke, wenn ich mich rumdrehe, fressen sie Kind 3.0 auf. In einem Haps. Ich habe Animal Farm von George Orwell gelesen, lasse ich sie wissen, mir macht ihr nichts vor.

Während ich sie betrachte, frage ich mich. Was macht man wenn eines dieser Halbtonner verendet? Wie viel Uwes braucht es, um ein einziges totes Schwein auf den Kompost zu zerren. Wie ist seine biologische Halbwertszeit? Oder muss man es zersägen? Aber was macht man mit den Einzelteilen?

Am Abend sitzen wir vor dem Haus und schauen den Hornissen zu. Einige Spinnen gesellen sich zu uns. Ich schlage im 10-Sekunden-Takt Mücken tot und denke: „Ach so ein Wochenendhaus *klatsch*, das wäre schon was *klatsch*. Unsere Kinder könnten auch auf Ziegen reiten *klatsch* und ich würde Gemüse anbauen *klatsch*. Zucchini zum Beispiel *klatschklatsch* und dann gäbe es jeden Tag Zucchinisuppe, gebratene Zucchini, gedünstete *klatsch* Zucchini, marinierte Zucchini *klatsch* und *klatsch* vielleicht auch Zucchiniauflauf. Hach! Das wäre *klatsch* echt schön.“

Schmutz, Gliedertiere und Schürfwunden

Es soll sie ja geben, die Menschen, die lieber auf dem Land leben möchten. Wenn mir wenig klar ist im Leben, dann das: Ich gehöre nicht zu ihnen.
Selbst auf dem Land groß geworden, kann ich mir wenig ätzenderes vorstellen. Xenophobe Menschen, Güllegestank und Kehrwoche.

Gelegentlich wenn mein Zyklus mich hormonell verwirrt, kommen mir doch Zweifel. Die armen Kinder! Nie bauen sie Staudämme an winzigen Bächlein. Nie fischen sie Kaulquappen. Insekten sind ihnen fremd und Bäume kennen sie nur aus Büchern.
Dann frage ich eine liebe Bekannte, die ein Häuschen im tiefsten Brandenburg besitzt, ob wir selbiges mal für ein Wochenende leihen können.

Das Häuschen ist ein Traum für jeden Romantiker. Wie vom Maler Janosch illustriert, gibt es keine gerade Linie an ihm. Jede Ecke hat ein Spinnweben, jeder Topf eine Delle, keine zwei Tassen sind gleich. Es gibt kein warmes Wasser, nicht mal eine Toilette, lediglich ein Plumpsklo mit Rindenschrot kann es bieten.
Nachts pfeift der Wind durch die Fensterritzen und die Igel machen Geräusche, dass man denkt, die Trolle kommen gleich und holen die Kinder.

Am Freitag berichtete ich den Kindern freudestrahlend von meiner grandiosen Idee und schilderte ihnen das Häuschen. Kind 2.0 fing sofort an zu weinen, weil es angst hatte, dass die Spinnen es beim Pipi machen in den Po beißen würden. Das ältere Kind 1.0 wusste es schnell zu beruhigen, indem es versicherte, dass Spinnen nicht beißen und dass wenn überhaupt es höchstens von einer Ratte gebissen werde oder aber von einem Wolf auf dem Weg zur Toilette verschlungen würde. Kind 1.0 sang dann zu den hysterischen Weinlauten von Kind 2.0 Rainald Grebes Lied Brandenburg.

Wir fuhren also am Freitagabend nach Feierabend los und trugen die übermüdeten Kinder durch einen Sturm ins ca. 50qm große Häuschen. Am nächsten Morgen, kaum hatte der Hahn der Nachbarn gegen 4 Uhr gekräht, standen die Kinder auf, zogen sich an und zogen los.
OK, sie wollten sich anziehen und losziehen, nur leider fanden sie nichts passendes.
Ich hatte am Tag zuvor die Wetterlage auf Wetter.de gecheckt und dort gelesen: 16 Grad. Die Windanzeige hatte ich ignoriert und auch sonst war mir zu dem Wetterbericht nicht viel sinnvolles eingefallen.
Für alle Kinder hatte ich Badesachen, mehrere T-Shirts und Sandalen eingepackt.
Jetzt standen die drei weinend und zitternd im Hausflur und schauten mich fragend an. Wir zogen kurzerhand alles was wir überhaupt dabei hatten über die Schlafanzüge und entließen die Kinder in den großzügig bemessenen Garten.
Zwei Minuten später der erste panische Schrei. Kind 2.0 hatte sich schmutzig gemacht. Weitere drei Minuten später der erste Insektenangriff. Wieder drei Minuten später ein blutiges Knie.
So vergingen die ersten Stunden und brachten wenig erbauliches.
Wir Erwachsene wünschten uns beim Anblick des Außenklos die Verstopfungen unserer eigenen Eltern beim Versuch auf fremde Toiletten zu kacken machen.
Nach dem Frühstück jedoch packten wir neuen Mut und tatsächlich das Ist-es-nicht-toll-hier-am-Land-Gefühl stellte sich bald ein.
Wir mähten mit einem analogen Gerät den Rasen, rechten alles zusammen. Die Ränder der Wiese kürzten wir mit Gartenscheren und die Blumen wurden in stundenlanger Kleinstarbeit mit winzigen Gießkannen gewässert. Kind 1.0 kam in einen Mährausch und kürzte gewissenhaft alle Gartenkräuter.
Die Luft roch nach Schnittlauch und Basilikum, wir kochten Nudeln mit Tomatensoße, alle aßen als gäbe es in der kommenden Woche keine Nahrungsmittel mehr. Kind 2.0 und 3.0 verteilten nach alter Manier des Guerilla–Gardening Blumensamen in den Beeten.
Wir fütterten die umliegenden Ziegen, Pferde, Schafe und Nachbarshühner und punkt 20 Uhr fielen die Kinder in Ohnmacht und wachten erst am nächsten Morgen wieder auf.
Wir Eltern saßen bis tief in die Nacht unter einem strahlenden Sternenhimmel, frei jeder Lichtverschmutzung und tranken Gänsewein.
Der darauf folgende Tag verlief ähnlich wundervoll und als ich mir gerade die Hände im Spülbecken beim Spülen verbrühte, weil das Wasser aus dem Wasserkocher wider Erwarten bereits gekocht hatte und ich aus dem Fenster blickte, am Horizont die Kuhherde und unten am Haus Kind 1.0, das gerade versuchte die Nachbarskatze mit einem gellenden KATZIIII KATZIIII anzulocken, da dachte ich einen kurzen Moment: Was wäre es schön auf dem Land zu leben.