„Let’s talk“ S04E08 zusammen mit SCHAU HIN!
Im Zentrum meiner Serie „Let’s talk“ stehen die Chancen, die digitale Medien mit sich bringen. Nachdem ich in der ersten Runde v.a. allgemein über Nutzung und Plattformen gesprochen habe, wurde es in der Folgerunde konkreter und Eltern berichteten mir von ihrem Familienalltag mit digitalen Medien. Im Anschluss kamen Jugendliche selbst zu Wort. In der 4. Staffel ging es um konkrete Erfahrungen, die Eltern gemeinsam mit ihren Kindern sammeln können. Die letzten drei Beiträge in diesem Jahr bieten Orientierung in Themen, die im Zusammenhang mit digitalen Medien und Kindern viel diskutiert werden.
Im letzten Beitrag ging es darum was Cyber-Mobbing ist und wie man präventiv vorgehen kann und haben zumindest grob geklärt was zu tun ist, wenn ein Kind Opfer wird. Was aber, wenn das eigene Kind Täter*in ist? Was, wenn das Kind andere Kinder mobbt?
Die meisten Eltern sind natürlich total geschockt, wenn sich herausstellt, dass ihr Kind andere Kinder bedroht, belästigt oder anderweitig unter Druck setzt. Oft ist es ein Reflex von Eltern, vorgebrachte Vorwürfe zurückzuweisen. Darum mein Rat: Zu allererst tief durchatmen, die Gedanken ordnen und vor allem zuhören. Lasst euch so viele Details wie möglich schildern, bevor ihr das Gespräch mit eurem Kind sucht. Sorgt dafür, dass das Mobbing bzw. das sonstige Fehlverhalten umgehend stoppt und sich nicht wiederholt. Das hat höchste Priorität.
Ansonsten ist es mit Blick auf die Täter*innen sehr schwer, konkrete Tipps zu geben, weil jeder Übergriff in seinem jeweiligen Kontext betrachtet und bewertet werden muss. So gibt es nicht den einen Grund, warum so etwas passiert. Es ist leider kompliziert. Bei Kindern, aber auch Jugendlichen lasse ich mich in Konfliktfällen jedoch immer von einem Gedanken leiten: Schlimme Dinge müssen nicht prinzipiell aus Böswilligkeit und Berechnung passieren; oft genug ist Unwissenheit, manchmal auch bloße Dummheit im Spiel. Vor allem, wenn das Kind zum ersten Mal mobbt. Bei Wiederholungstäter*innen sieht das natürlich anders aus.
Vielen fällt es – unabhängig vom Alter – schwer, sich in andere hineinzuversetzen. Vielen ist nicht klar, was ihre Handlungen und Worte auslösen oder dass sie etwas Ungesetzliches tun. Empathiefähigkeit ist ein rares Gut. Wie schnell ist ein vermeintlich lustiges Foto in einer peinlichen Situation gemacht und mit einem (dummen) Spruch in einem Gruppenchat gepostet? Nur eine Minute nicht nachgedacht, und schon ist etwas losgetreten, was für die betreffende Person weitreichende Konsequenzen haben kann.
Gerade in Mobbingfällen brauchen die Täter*innen manchmal Jahre, um zu begreifen, was sie der anderen Person angetan haben. Vor einiger Zeit stieß ich auf den sehr berührenden Text eines Mobbingopfers, in welchem es dem Täter, der sich rund zwei Jahrzehnte später entschuldigt hat, ungefähr Folgendes antwortet: „Gut`, dass du zu dieser Einsicht gelangt bist, aber ich muss dir sagen, dass es mir nicht gut ergangen ist. Du würdest jetzt sicher gerne hören, dass in der Zwischenzeit alles vergessen ist, aber so ist es nicht. Die Mobbingvorfälle haben mein Leben nachhaltig und negativ beeinflusst. Ich leide bis heute an den Folgen.“
Auch wenn es schlimmstenfalls Jahre dauert, bis der Groschen fällt: Ich finde es gut, Kindern beizubringen, dass sich entschuldigen immer lohnt. Auch verspätet. So absurd es im ersten Moment klingen mag: Sprecht mit eurem Kind darüber, wie eine echte Entschuldigung aussieht, und zwar unabhängig davon, ob es je andere gemobbt hat. Auf Twitter schreibt der User Zooko zusammengefasst:
How to apologise: I did that. It was wrong. I'm sorry I did it. I won't do it again. Please forgive me.
How to nonpologise: I'm sorry your feelings were hurt by what I did, and this is why I did it.
— zooko (@zooko) July 28, 2019
Warum es sich bei Letzterem um eine sogenannte Nonpology handelt? Weil in dem Zusatz „dass deine Gefühle verletzt wurden“ mitschwingt: Du bist sehr sensibel, kann ja keiner wissen, ist allgemein nicht so, kurzum: Irgendwie ist dein Fall ein nicht ganz ernstzunehmender Einzelfall.
Zurück zum Mobbing: Natürlich ist nicht jede/r Täter*in per se ein schlechter Mensch. Menschen haben individuelle Motive – und gerade wenn es das erste Mal ist, dass das Kind ein anderes Kind mobbt, lohnt es sich, ruhig und besonnen zu reagieren. Entscheidend ist allerdings, dass das Fehlverhalten niemals ignoriert, sondern aufgearbeitet und besprochen wird. Verschließt nicht die Augen, sondern nehmt euren Erziehungsauftrag wahr:
- Sprecht euer Kind direkt auf sein Verhalten an. Wenn es Beweise dafür gibt, müsst ihr sie parat haben. Lasst kein Kleinreden zu. Der Maßstab ist nicht die Einschätzung des Täters oder der Täterin, sondern die des Opfers.
- Erfragt, ob eurem Kind bewusst ist, was sein Verhalten bei der/dem anderen ausgelöst hat. Lasst euch die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen schildern. Zentral ist dabei, dass ihr versucht, die Empathiefähigkeit zu wecken. Euer Kind soll sich in die Situation des Opfers hineinversetzen. Ganz konkret: Nicht „Da hat sich Sven wahrscheinlich schlecht gefühlt“, sondern „Sven war verzweifelt, fühlte sich allein und hilflos. Wahrscheinlich konnte er nicht mehr schlafen; er hat geweint und sich vor seinen Eltern geschämt.“ Vielleicht hilft dabei, sich zusammen mit dem Kind reale Mobbingerfahrungen durchzulesen. Auf Twitter sind solche beispielsweise unter dem Hashtag #bullyme zu finden.
- Überlegt gemeinsam, wie eine Entschuldigung aussehen könnte. Und zwar ohne jedes Aber. Bereitet euer Kind darauf vor, dass das Opfer vielleicht nicht bereit sein wird, die Entschuldigung anzunehmen. Das Opfer ist dazu auch nicht verpflichtet. Es muss nicht mal darauf reagieren und schon gar nicht verzeihen. Wägt außerdem ab, ob es sinnvoll ist, dass die Entschuldigung öffentlich erfolgt.
- Steht eurem Kind bei allen weiteren Schritten zur Seite.
- Macht eurem Kind klar, dass es auch euer Vertrauen missbraucht hat. Ihr habt ihm bestimmte Dinge im Internet erlaubt – und die wurden dazu genutzt, anderen zu schaden. Besprecht gemeinsam, wie ihr damit umgeht. Werden Privilegien entzogen? Muss das Kind die Eltern vorübergehend für alle Aktivitäten im Internet „freischalten“ (z. B. indem es zulässt, dass die Eltern ihm auf den jeweiligen Plattformen folgen), so dass diese mitlesen können? Muss es gar seine Endgeräte abgeben?
Ihr helft eurem Kind, wenn ihr empathisch seid und seine Motive versteht; im Idealfall lieben Eltern ihr Kind ja auch, wenn es sich falsch verhält. Hört eurem Kind also zu, aber macht ihm gelichzeitig klar, dass ihr als Eltern in einer anderen Position seid als das Opfer. Es geht darum, dass das Kind versteht, was es angerichtet hat, indem es sich in die Lage des Opfers hineinversetzt. Katja Seide und Danielle Graf schreiben in „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn: Gelassen durch die Jahre 5 bis 10“ (Amazon-Werbelink) dazu:
„Wenn wir unseren Kindern beibringen, die Situation mit den Augen des Geschädigten zu sehen, statt sie zu bestrafen, wird sich ihr moralischer Kompass automatisch danach ausrichten, ob ihre Handlungen anderen Menschen schaden.“
Bei aller Liebe zum Kind ist es wichtig, den oder die Vorfälle als das zu sehen, was sie sind. Keine harmlosen Kinderstreiche, sondern Mobbing, das einer anderen Person Schaden zugefügt hat. Sucht auch das Gespräch mit der Schule, sofern das Mobbing im Schulkontext stattgefunden hat. Lasst euch von Schulpsycholog*innen und Sozialarbeiter*innen begleiten. Aufarbeitung ist wichtig. Fehler einzugestehen ist wichtig. Die Scham über das eigene Fehlverhalten auszuhalten ist wichtig. Zukünftiges Mobbing zu unterbinden hat oberste Priorität.
Manche Kalendersprüche sind nämlich durchaus wahr: Jede/r darf einen Fehler machen, nur sollte man denselben Fehler nicht zweimal machen.
Weiterführende Links auf SCHAU HIN!
- Mein Kind als Täter (unten)
- Was tue ich, wenn mein Kind Opfer von Cybermobbing wird?
- Interview mit Psychologin Catarina Katzer: „Wir brauchen mehr digitale Empathie“
- Cybermobbing: Mädchen häufiger betroffen als Jungen
- Cybermobbing: Jede/r Achte betroffen
Unter der Kategorie „Medienmomente“ findest Du weitere Beiträge der „Let’s talk“-Serie.
Die meisten Kinder öffnen sich leider nicht. Aber es ist möglich, Verhaltensänderungen festzustellen. Und sobald sich was ändert, gibt es eine Ursache. Wir sprechen unsere Kinder meistens direkt an und glücklicherweise sind sie dann offen und erzählen uns alles. Da auch viele Freunde der Kinder häufiger bei uns sind, erzählen diese hin und wieder auch einiges, was uns hilft, die Kinder und deren Verhalten besser einzuordnen.
Ein sehr komplexes Thema, es ist aber sehr gut, dass es immer mehr aufmerksamkeit bekommt.
Wenn andere, z.B. Lehrpersonen, am Prozess beteiligt sind: klare Absprachen und Ansagen.
Damit sie weder in den Strafmodus verfahren noch die Opfer klein reden.
Beispiel gefällig: Schulleiter zu gemobbten 14-jährigen: „Ja, aber du bist doch fett, dann können die das doch posten, es ist ja wahr“
Ohne Anhörung eines Täters „Ist mir egal was da steht, du bekommst einen Verweis“
Was bin ich froh, als Vater nie in diese Situation gekommen zu sein. Bei uns bin ich nämlich das Elternteil mit wenigstens etwas digitaler Kompetenz und ein Versagen meinerseits hätte mich schwer getroffen. Ich habe mir aber auch gerade bei diesem Punkt große Mühe gegeben, denn ich bin als Jugendlicher an der Schule übelst gemobbt worden und niemand, wirklich niemand hat mir jemals geholfen. Ich habe nach der Schule die Stadt verlassen müssen und habe Jahre gebraucht, um mich davon zu erholen und mir ein neues Leben aufzubauen. Und auch wenn das Jahrzehnte her ist: Ich kann es nicht vergessen und auch nicht verzeihen.