Entspannt oder leichtsinnig

Überwachung
Für jedes Kind eine Überwachungskamera!

Letzte Woche beschäftigte sich die sehr hörenswerte Sendung Breitband u.a. mit dem Thema „Das überwachte Kind„. Einige Tage später las ich aufgrund des Blogbeitrags von Heiko Bielinski von der Schutzranzen-App. Ab und an werde ich auch von irgendwelchen Kinderüberwachungs-GPS-Tracking-Anbietern gefragt, ob ich nicht mal einen Produkttest machen möchte. Die Varianten sind vielfältig. Von der einfachen Ortung, über die Festlegung erlaubter Aufenthaltsbereiche inkl. eines Alarms sofern diese verlassen werden bishin zur Möglichkeit das Mikrofon des Kinderhandys anzuzapfen.

Ich muss ja öfter in mich gehen, ob ich einen Test machen will oder nicht. Bei Anfragen dieser Art ist meine Haltung jedoch eindeutig: Nein, ich möchte einen solchen Test nicht machen, denn ich bin gegen die Überwachung von Kindern.

Natürlich habe ich mit meinen Kindern schon Situationen erlebt, in denen ich gerne auf einen Knopf hätte drücken wollen, der mir sagt: Da ist das Kind, alles in Ordnung.

Erst neulich war eines der Kinder sage und schreibe drei Stunden später Zuhause als verabredet. Nach 30 Minuten wurde ich nervös. Nach einer Stunde habe ich andere Eltern angerufen, dann die Schule und dann den letzten Aufenthaltsort (die Kinder hatten eine Exkursion gemacht). Ich war kurz davor die Polizei zu alarmieren, als das Kind sorglos mit drei Freundinnen durch die Tür schritt: „Achso. Ich wusste nicht, dass Du wartest. Wir waren noch unterwegs.“

Ich hab mich bemüht mit ruhiger Stimme zu sagen, dass ich in großer Sorge war, worauf die Freundinnen ihre Handys zückten (natürlich hatten alle Kinder Handys, natürlich hatte ich diverse Nummern angerufen, natürlich war keines der Kinder rangegangen, ja, ja diese Jugend. Von wegen schaut immer aufs Telefon!) und sagten: „Apropos. Wir rufen mal kurz zu Hause an.“

Wie gesagt, ähnliche Situationen gab es vorher in Varianten aller Art. Dennoch würde ich mein Kind nie mit einem GPS-Tracker ausstatten.

Natürlich wäre so ein Ding im absoluten Worst Case [1] eine Hilfe – aber die Wahrscheinlichkeit, dass selbiger eintritt ist, so hoffe ich, so verschwindend gering, dass ich diese nicht gegen das Recht auf Privatsphäre [2], die das Kind eben auch hat, eintauschen würde.

Ich bin ja selten gegen Technik, aber an dieser Stelle kommt der Kulturpessimist in mir hervor.

Nicht nur in Bezug darauf welche tatsächlichen Auswirkungen eine entsprechende Überwachung haben könnte (die aktuelle Staffel Black Mirror – Arkangel illustriert das ganz gut), sondern auch, weil ich glaube, dass die Kinder eine Reihe von Kompetenzen nicht erwerben, wenn sie sich auf GPS-Ortung verlassen.

Wir üben z.B. Orientierung. Bewusst wahrnehmen, wo man aussteigt, sich umschauen, welche Orientierungspunkte es gibt und sich Marker aussuchen. Hier geradeaus, da kommt man an einem Hochhaus vorbei, hier bei der S-Bahn-Brücke links abbiegen etc.. Auch mal umdrehen und die Gegend vom Rückweg her anschauen. Sich merken, welche U-Bahn-Stationen in der Nähe sind. Auf Schilder achten.

Telefonnummern auswendig lernen. Uhrzeit lesen lernen und Zeit im Blick behalten. Besprechen, wie man im Notfall welche Leute anspricht. Besprechen, wie man reagiert, wenn andere einen ansprechen. Immer einen Notgroschen dabei haben.

Ganz am Ende geht es für mich außerdem um die Vertrauensbeziehung. Ich möchte gerne, dass meine Kinder sich frei bewegen können, dass sie mir aber offen und ehrlich sagen, wo sie hingehen wollen. Für mich ist es gar nicht schlimm, wenn man mal was falsch macht, eine fragwürdige Entscheidung trifft oder sich ausprobiert. Mir ist es aber sehr, sehr wichtig, dass man ehrlich ist.

Das spielt für mich alles in das Thema Kinderüberwachung rein.

Es sind also diese beiden wesentlichen Aspekte für mich: Das Kind aufklären, es kompetent machen, ihm möglichst viel Situationen und deren Lösung schildern oder Konsequenzen bestimmter Verhaltensweisen erläutern und auf der anderen Seite schnöde: Vertrauen schenken und hoffen, dass dieses nicht missbraucht wird.

(Und am Ende hoffe ich v.a. dass ich entspannt bin und nicht leichtsinnig.)

P.S. Kleiner Exkurs: Das gilt übrigens auch in Bezug auf die Online-Welt. Ich bin immer völlig entgeistert, wenn ich höre mit welcher Selbstverständlichkeit z.B. Browserverläufe bei Kindern kontrolliert werden. Auch hier setze ich auf eine Mischung aus Aufklärung und Vertrauen.

P.P.S. Die Schutzranzen-App finde ich nicht nur doof, sondern sogar gefährlich, weil sie die Verantwortung verschiebt. Es gibt schließlich Ampeln und Autofahrer haben Augen. Das ist völlig ausreichend. Lieber die Ampeln mit einer Art CAR-B-Gone (analog zum TV-B-Gone) ausstatten, die sicherstellt, dass Autos nicht fahren können, solange die Fußgängerampel grün ist. Dann müssen sie eben geduldig sein.

[1] Der Breitband-Beitrag spricht von in den letzten 10 Jahren konstant gebliebenen 2.000 Kindesentziehungen pro Jahr in Deutschland, wovon aber ein Großteil durch das eigene Umfeld erfolgt.

[2] 16% aller Teenager werden in den USA per GPS überwacht


Ergänzung zum Schutzranzen: „Ich warne mit Nachdruck davor, sich trügerischen Sicherheiten im Tausch von Daten hinzugeben. Wenn Kinder allein im Straßenverkehr unterwegs sind, bleibt immer ein Restrisiko. Aufgabe der Eltern ist aber nicht, stets zu wissen, wo ihr Kind ist, sondern es fit für den Straßenverkehr zu machen. Dazu gehört, den Schulweg gemeinsam abzugehen, kritische Punkte zu erörtern und Regeln zu vermitteln. Auch in der Schule werden solche Basisregeln vermittelt.“

Zitat Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE)

Mama Leaks

WikiLeaks ist eine Internetplattform auf der geheime Dokumente veröffentlicht werden können, die von öffentlichem Interesse sind. Das ist für diejenigen, welche die Dokumente geheim halten wollten natürlich ärgerlich. Über das Thema Geheimnisse liest man in letzter Zeit viel. Die amerikanische National Security Agency überwacht u.a. Telefone und die komplette Internetkommunikation. Während die einen auf die Straße gehen, um für ihre Freiheit zu demonstrieren, zucken andere nur mit den Schultern und sagen: „Na und? Sollen sie doch. Ich habe nichts zu verbergen…“

Wie falsch dieser Satz ist, das wird einem erst klar, wenn man ein flüssig sprechendes Kind im Kindergartenalter hat. Denn dann hat man zumindest vor den Erzieherinnen im Kindergarten und gegebenenfalls auch vor den anderen Eltern im Kindergarten wirklich keine Geheimnisse mehr.

Jedes noch so kleine, unangenehme, vielleicht peinliche Detail, das sonst gut in den eigenen vier Wänden aufgehoben ist, verlässt mit dem Kind die Wohnung. Ganz zu Beginn, das muss ich zugeben, war ich sehr unvorsichtig. Ich dachte, ein dreijähriges Kind, das versteht noch nicht viel und ich habe mich mit meinem Mann bedenkenlos über alles unterhalten, das mir in den Sinn kam. Unachtsam lästerte ich über mir nicht zusagende Kleidungsstücke anderer Leute, um dann wenige Tage später genau vor diesen zu stehen und mein Kind sagen höre: „Ist das die häßlische Kleid von das du gesprecht hast, Mami?“ Kind 3.0 deutet begeistert auf das grellorangene Sommerkleid einer anderen Mutter. Ich hielt mich für besonders schlau und dachte, ach, wenn ich so tue als ob ich nichts gehört habe, dann muss ich die Frage nicht beantworten. Das führte aber nur dazu, dass Kind 3.0 lauter nachhakte: „IS DAS DIE HÄSSLISCHE KLEID? MAMAAAAA?“ Ich errötete und antwortete: „Was? Nein! Was meinst du denn? Hm?“ Dabei fiel mir auf, dass meine Stimme schon etwas überbetont fragend, schon leicht ins hysterische abgleitend klang. Ich packte Kind 3.0 also ohne Schuhe und verließ fluchtartig die Garderobe. Den ganzen Weg nach Hause hoffte ich, dass die Mutter uns nicht gehört hatte.

Die nächste Lektion in Sachen Geheimnisse war dann: Verberge alles, was Hinweise auf Geheimnisse geben könnte. Das können ganz banale Dinge sein. Das Läuseshampoo vom Geschwisterkind, das Warzenmittel im Medizinschrank, selbst Produkte zur Monatshygiene möchten nicht öffentlich diskutiert werden. Einmal unachtsam liegen gelassen, werden sie vom Kind gefunden und bieten Diskussionsmaterial für allerlei heikle Themen. Vielleicht bin ich da auch nur hypersensibel, aber wenn mein Kind am Spielplatz beim Schaukeln zum Nachbarskind schreit: „MEINE MAMA BLUTET AUS DER SCHEIDE! DEINE AUCH?“, dann fühle ich mich doch kompromittiert.

Selbst Dinge, die eigentlich nie geschehen noch jemals ausgesprochen wurden, haben ausreichend Potenzial zum Rechtfertigungsalbtraum zu werden. Einfach weil das Kind etwas beobachtet und sich selbst einen Reim auf die Geschehnisse macht, die nicht unbedingt dem tatsächlichen Tathergang wiedergeben müssen.

Als mein Mann beispielsweise das Kind vom Kindergarten abholte, berichtete dies arglos von dem netten Mann, der die Mami morgens öfter besucht und zwar „Wenn du in die Arbeit gegangen bist, Papi“. „Die Mami macht immer halbnakisch auf und isch muss dann ganz leise sein wenn der Mann da ist.“ Zartes Nachfragen meines Mannes konnte die Situation auflösen. Schlussendlich handelte es sich um einen Nachbarn, der ein ungewöhnliches Talent hatte, immer genau dann zu klingeln wenn ich morgens unter die Dusche möchte. Ich denke, er ist shoppingsüchtig. Jedenfalls erhält er durchschnittlich ein Paket pro Woche, das der Postbote gerne bei uns hinterlegt. Er weiß in der Zwischenzeit an welchen Wochentagen wir morgens früh noch zuhause sind und holt dann seine Pakete ab. Vermutlich lauert er im Treppenhaus bis er hört, dass ich das Duschwasser aufdrehe und klingelt dann. Jeder hat halt so seine Hobbys. Wenn ich die Tür öffne und wir ein paar freundliche Worte austauschen, jubelt und grölt Kind 3.0 im Hintergrund. Da die Tür zum Hausflur geöffnet ist, bitte ich um Ruhe. Insgesamt eine eher harmlose Angelegenheit, die jedoch eine ganz besondere Note bekommt, wenn Kind 3.0 sie nacherzählt.

Und da wird es deutlich. Es geht bei Überwachung gar nicht um die tatsächlichen Geheimnisse, die man zu verbergen sucht sondern darum was andere durch Einzelbeobachtungen und deren Misinterpretation über das eigene Leben und Verhalten schließen.

rp14, Tag 1, Muddi hat da noch was zu sagen

Da ich selbst (dauerhaft sehr ernst dreinblickend) als Quotenfrau an einer Diskussion zu Papa-Blogs teilgenommen habe, habe ich am ersten Tag der re:publica nicht so wahnsinnig viele Sessions besucht.
Wer möchte, kann sich das „Sind bloggende Väter eine Nischenerscheinung?“ Panel hier anschauen (erstaunliche Geschwindigkeit mit der das heutzutage geht):

Jedenfalls. Sehr gefreut habe ich mich auf den Vortrag von Sascha Lobo „Rede zur Lage der Nation“. Die Kurzzusammenfassung zu der Rede lautet wie folgt:

Etwas differenzierter möchte ich (nun als offizielle Muddi-Bloggerin der Nation) folgendes loswerden:
Auch mich bedrückt die Situation. Die Überwachungssituation als solches, die Untätigkeit der Politik und die Unbesorgtheit der Masse.
Ich fühle mich auch unverstanden und machtlos. Auch ich habe das Gefühl, man müsste alle so lange durchrütteln, bis sie ENDLICH verstanden haben, dass das so nicht geht, das wir was tun müssen.
Deswegen bin ich auf Demos gegangen und habe schon vor längerer Zeit einen Dauerauftrag eingerichtet, der monatlich etwas auf ein Konto eines netzpolitischen Projekts überweist, das ich gut und wichtig finde.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten im Publikum irgendwas getan haben, seit wir durch Snowden eine vage Vorstellung davon haben welches Ausmaß die (Internet)-Überwachung hat und sei es am Ende, dass gebloggt wurde, Petitionen initiiert und/oder gezeichnet oder einfach nur Zeitung gelesen wurde. Es ist egal. Ich bin mir sicher, wir alle haben wenigstens im kleinen etwas getan.
Deswegen war Sascha Lobos Rede falsch adressiert und tatsächlich klang sie in meinen Ohren eher nach Rede vor uninformierten Abgeordneten, die sich mit zahlreichen Themen beschäftigen, zu denen unter anderen das Thema Überwachung gehört und nicht wie eine Rede, die zur re:publica und deren Besucher passt.
Wir, die Internetgemeinde, wir kennen uns aber aus mit dem Thema Überwachung und sind bereits wach gerüttelt.

Es mag vielleicht blöd klingen, aber ich musste wirklich die ganze Zeit an meine Kinder denken. Es gibt diese Situationen als Mutter, in denen ich genau weiß, was passieren wird, in denen ich genau weiß, was das Richtige ist und trotzdem tun meine Kinder nicht das was ich ihnen sage. Ich sage es freundlich, ich argumentiere, ich wiederhole, ich wiederhole, ich schimpfe, ich erkläre, ich bitte, ich bettle, ich werde wütend, ich versuche am Ende sogar zu befehlen, immer und immer wieder: aber diese widerspenstigen Kinder tun nicht was ICH möchte und richtig finde und zwar obwohl ich Recht habe.
Zehn Jahre mit Kindern haben mir gezeigt, es wird niemals irgendwas bringen immer und immer weiter auf genau dieser Schiene zu bleiben.
Immer mehr vom Gleichen hilft einfach nicht mehr. Es hilft nicht, egal wie gerne ich das möchte. Egal, wie sehr ich im Recht bin.
Wenn ich also nicht weiter komme, muss ich darüber nachdenken, welche Wege es außerdem gibt. Wege, die ich noch nicht gegangen bin. Paradoxe Intervention vielleicht, umgekehrte Psychologie, am Ende vielleicht Liebe und Wertschätzung statt Schimpfe und Druck. Mich in die Kinder rein versetzen, ihre Perspektive einnehmen, uns alle irgendwie dazu zu bekommen darüber zu lachen, die Situation eben auflösen mit dem Ziel Energien zu mobilisieren, Energien zu neuem Handeln und nicht Energien, die dazu führen, dass wir uns reiben, dass wir die Fronten verhärten, dass beide Seiten trotzig werden und sich keinen Millimeter mehr bewegen. Wir müssen Partner bleiben. Wir dürfen keine Feinde sein.
Das ist alles leichter gesagt als getan. Auch das weiß ich aus meinem Leben mit Kindern. Manchmal hilft nämlich gar nichts. Da kann ich mir noch so viele Gedanken machen. Dann hilft vielleicht nur noch selbst ein gutes Vorbild zu sein und zu hoffen, dass das irgendwie mitreißt.
Aber schimpfen hilft nicht. Schimpfen hilft nicht. Schimpfen zeigt nur die Ohnmacht des Schimpfenden.

Außerdem, um nochmal auf die Adressaten zurück zu kommen.
Man kann ins Lächerliche ziehen, was wir, die jämmerliche Internetgemeinde tun. Petitionen zeichnen. Buh! Schilder für Demos malen. Buhhhuuuuuhu!
Aber ganz ehrlich. Wenigstens ein kleines bisschen machen wir doch. Nicht genug, ok. Mehr geht immer. Aber jemanden, der bereits aktiv ist, nicht aufzubauen und zu sagen: „Ja, das ist super was du machst!“ sondern „Na großartig, was ist das für ein jämmerliches Engagement!“, das ist psychologisch einfach unklug.
Das hemmt Handlungsimpulse statt sie zu fördern.
Ihr verschlüsselt Emails, ihr benutzt Threema? LÄCHERLICH!
Ganz ehrlich. So geht das nicht. Das weiß jede/r, der mal Kind war.

Wenn man mit dem Start eines Meetings 30 Minuten wartet und dann die Person schimpft, die zu spät kommt, straft man v.a. die anderen, die pünktlich waren.
Wenn man ein Kind schimpft, weil die Spülmaschine nicht normgemäß und/oder vollständig eingeräumt ist, wird man nicht erreichen, dass das Kind die Spülmaschine das nächste mal besser oder gar lieber einräumt.
Ich hätte da noch drölfzig Analogien, die zum Thema passen.

Jedenfalls. Ich möchte nicht geschimpft werden. Niemand möchte das.
Ich hab gut verstanden, was da vor sich geht. Ich bin nur hilflos. Ich brauche einen Weg. Ich brauche Gelegenheiten. Ich brauche Anleitung, Ermunterung. Ach und übrigens, ich bin faul. Ich brauche technische Weiterentwicklungen, die mir das alles (das nicht überwacht werden) einfach und bequem machen. Ich brauche Ersatz für Kupferverkleidung meiner Wände und den Aluhut am Kopf.

Zum Selbstansehen:

P.S. Nur, dass ich jetzt nicht geschimpft werde: ich hab den Vortrag zu Ende geschaut. Nur eben nicht live.

Unmenschliche Überwachung

Der Hauptteil meiner Diplomprüfungen war mündlich. Eher so etwas wie ein Gespräch. Der Professor stellte ein Paar Fragen, ich antwortete und im Anschluss wurde beraten welche Note zu vergeben wäre.

Wäre ich Professor und hätte heute einen Studenten bei mir sitzen, ich würde fragen: Die DDR hatte 1988 um die 16,5 Millionen Einwohner. Die genaue Altersverteilung kenne ich nicht, jedoch nehmen wir an, dass ca. ein Drittel von den massiven staatlichen Überwachungsmaßnahmen wußte und sie missbilligte. Nehmen wir weiter an, dass ein Großteil der Menschen heute noch lebt. Wie kann es sein, dass die Straßen im Angesicht von Programmen wie Prism und Tempora nicht voller protestierender Menschen sind?

Gerne hätte ich 20-30 Antworten dazu gehört. Mein Studium ist leider zu lange her, um differenzierte Antworten auf diese Frage zu geben. Wie immer gibt es wahrscheinlich mehrere Erklärungen. Vielleicht spielt mit rein, dass Menschen sehr schlecht mit Wahrscheinlichkeiten umgehen können. Nicht wenige spielen regelmäßig Lotto und das obwohl die Chance beim 6 aus 49 bei 1 : 13.983.816 steht. Hätte man eine tatsächliche Vorstellung von 13.983.816, dann würde kein Mensch Woche für Woche Geld in eine Lotterie einzahlen. Wenn also die Worte „Vereitelung von Terror“ oder „Vorsichtsmaßnahme“ fallen, dann liegen vermutlich ähnliche Wahrscheinlichkeiten dahinter. Vielleicht sogar noch niedrigere. Wahrscheinlich müssen weit mehr als schlappe 13.983.816 E-Mails abgehört werden, damit sich ein Hinweis ergibt, der zur Aufdeckung irgendeiner staatsfeindlichen Handlung führt. Aber weil diese Zahlen unbegreifbar sind, lassen sie sich vielleicht besser ausblenden?

Ein anderer Faktor mag die (mangelnde) Vorstellung automatisierter – computergesteuerter – menschenunabhängiger Überwachung sein. Ein Computer hat schließlich keine Motive, keine Moral, er (korrekter wäre „es“) bewertet nicht. Die Überwachung in der DDR – so wie sie mir bekannt ist (ich bin im Westen zu keinerlei Bezug zum Osten aufgewachsen) hatte dementgegen einen eher menschlichen Schwerpunkt. Technikgestützt, aber es scheint mir so, als hätte hinter der Überwachung ein größerer Aufwand gesteckt. Menschen mussten unter Druck gesetzt werden, Menschen mussten „rumgedreht“, überzeugt werden. ÜberwacherIn für ÜberwacherIn musste rekrutiert werden und wenn am Ende die Überwachung ans Tageslicht kam, dann war damit sicherlich oft ein Gefühl der Enttäuschung verbunden. Der menschlichen Enttäuschung. Ein Schock, ein tiefsitzender Vertrauensbruch. Die Überwachung spielte sich also auf menschlicher Ebene ab. In Interaktionen, in der eigenen Erfahungs- und Erlebenswelt war sie nachvollziehbar. Die gesamte Überwachungsinfrastruktur musste mühsam aufgebaut werden.*

Heute ist sie einfach da und kann genutzt werden. Die Infrastruktur, die zur Überwachung genutzt werden kann ist so eng mit unserem persönlichen Leben, mit unserem wirtschaftlichem Leben verbunden. Es gibt fast keine Möglichkeit vollständig auf sie zu verzichten und so möglichst wenig Optionen zur Überwachung zu bieten.

Vielleicht begünstigt das zum einen den Umstand, dass es quasi unvorstellbar ist, was da passiert und vielleicht setzen da Verdrängungsmechanismen ein, weil es so wenige Handlungsmöglichkeiten gibt dem ganzen zu „entkommen“. Und daraus entsteht vielleicht eher ein Gefühl der Ohnmacht als irgendein Handlungsimpuls, der zur Beendung dieser Überwachung führt.

Es scheint also bequemer zu sagen „ich habe nichts zu verbergen“ und wieder seinem Alltag nachzugehen. Zumal das Argument der Terrorabwendung ein schwerwiegendes ist. Terror ist in meinen Augen gar nicht so sehr ein einzelnen gewalttätiger Akt sondern vielmehr die damit geschürte Angst, der Kontrollverlust. Niemand weiß was als nächstes passiert, niemand weiß wo etwas passiert, es gibt keinen Ausweg – vielleicht nur den Rückzug, die Komplexitätsreduktion der eigenen Welt, das Einschränken alles in der Hoffnung die Welt wieder kontrollierbarer zu machen.

Es ließe sich noch viel zu den Mechanismen mutmaßen. Jedenfalls bin ich wirklich erstaunt und entsetzt wie wenig die breite Öffentlichkeit sich für die Sache interessiert. Ich frage mich, warum die Straßen nicht voll sind von Demonstranten und warum es so wenig hörbare Stimmen gibt, die die Einhaltung der Grundrechte, die die Freiheit der deutschen BürgerInnen verlangen.

Es ist seltsam.

 

*Christoph Kappes greift diesen Aspekt ebenfalls in seinem sehr lesenswerten Artikel „VERTRAUEN, VERRAT UND SCHATTEN – A LETTER FROM HAMBURG“ auf:

„Wenn Computer Daten aufzeichnen, geschieht es äußerlich ruhig und ohne irgendein Bewusstsein. Vielleicht ist es deswegen für viele Bürger nicht ganz leicht, diesen Vorgang zu bewerten. Es ist aber richtig, darin ein „Abhören“ zu sehen, weil das Aufzeichnen auf einer menschlichen Entscheidung beruht, fortwährende Tätigkeiten erfordert und auch Teil eines komplexen Vorgehens ist, an dessen Ende wieder Menschen stehen, die Zwecke verfolgen. Die stillen und unbeweglichen Maschinen offenbaren also nicht, dass sie Teil einer Handlung sind. Unsere Bilder von menschenleeren Rechenzentren oder Unterwasserkabeln zeigen uns nicht die Heimtücke, die wir im Alltag sonst gut erkennen können, etwa wenn ein Mensch den anderen von hinten bedroht. Dass digitale Angriffe so heimtückisch sind wie biologische Waffen, das müssen wir erst noch emotional erfassen lernen.“